review of vol. 3 of Herbert Marcuse's unpublished works
to: Herbert Marcuse homepage/Jansen vol 3 on marcuse.org website.

S�ddeutsche Zeitung, 4 January 2003, p. 14

Gl�ck ohne Verwaltung
Selbst�ndig denken: Herbert Marcuses nachgelassene Schriften

Herbert Marcuse: Nachgelassene Schriften. Hrsg. v. Peter-Erwin Jansen. Band 3: Philosophie und Psychoanalyse. Mit einer Einleitung von Alfred Schmidt. Zu Klampen Verlag, Lüneburg 2002, 233 Seiten, 24 � .

Horkheimer und Adorno an der Spitze des Frankfurter Instituts f�r Sozialforschung und in den USA Herbert Marcuse, der Mann f�rs Grobe, Held und v�terlicher Freund der Studentenbewegung: Wer die polemischen Geschichten von 1968 nicht mehr h�ren will, entdeckt nun einen Marcuse jenseits der Klischees.

Gerade ist der dritte Band einer auf f�nf B�nde angelegten Edition der nachgelassenen Schriften erschienen. Derlei Editionen leben von Archivalien, von Fundst�cken, anhand derer man den Zwischenschritten des Denkens auf die Spur kommt. Die gesammelten kleinen Texte der Jahre 1956 bis 1971 �ber Philosophie und Psychoanalyse enthalten nichts wesentlich Neues. Weitgehend sind sie Beiwerk zu den gleichzeitig entstandenen B�chern Marcuses, insbesondere zu �Triebstruktur und Gesellschaft�, im amerikanischen Original viel passender �Eros and Civilization� betitelt. Wer � ob Freund oder Feind Marcuses � nach dem Altbekannten sucht, wird es auch in diesen Vortr�gen, Zeitschriftenartikeln und Interviews finden. Nur entgeht ihm dann das Bedeutsame.

Zuvor jedoch muss der Leser sich durch die einleitende Studie von Alfred Schmidt arbeiten, �Herbert Marcuses politische Dechiffrierung der Psychoanalyse�. Achtzig Seiten stark und dennoch ein Gl�cksfall, denn Schmidt er�rtert klar, worauf es ankommt: Das Problem einer marxistischen Psychologie, die zwischen gesellschaftlichem Sein und individuellem Bewusstsein vermittelt, hat die Frankfurter Schule am einfallsreichsten gel�st. Mit Freud beschrieb sie, wie sich �ber das Triebleben die �konomische Situation in den K�pfen der Menschen festsetzt und zur Ideologie gerinnt. Die Natur des Menschen, seine Triebstruktur, so verbanden sie Freud und Marx, ist eine im doppelten Wortsinn historische Kraft. Sie formt die gesellschaftliche Umwelt und wird zugleich und urspr�nglich von dieser geformt.

Marcuses eigener Ansatz beruhte auf seiner Pr�gung durch Heidegger und einem anthropologischen Interesse. Von hier aus war der Schritt zum biologischen Materialismus Freuds nicht mehr weit. Marcuses Leistung war es, Freud mit Freud zu widerlegen. F�r Marcuse steht am Anfang aller Kultur nicht die Triebunterdr�ckung, sondern der Eros. Indem er Freuds Metapsychologie fortdenkt, vers�hnt er Lustprinzip und Realit�tsprinzip. Wenn der zivilisatorische Fortschritt genutzt wird, um die biologisch unn�tige soziale und �konomische Unterdr�ckung zu beenden, kann der Eros sich befreien, zu einem allgemeinen Lebenstrieb anwachsen und dem Todestrieb den historisch bedingten Stachel, die Destruktivit�t nehmen, weil dessen eigentlicher Wunsch � das Ende des Leidens � erf�llt wird.

�ber diese bekannten Thesen hinaus er�ffnen die kleinen Texte einige nicht v�llig neue und doch erfrischende Perspektiven. Die biographische Motivation des Werks kommt wieder in den Blick. Wenn Marcuse gegen den Tod in Krankheit und Elend und f�r ein selbstbestimmtes Sterben am Ende eines erf�llten Lebens streitet, ist das nicht nur Sozialkritik und Utopie, sondern Ausdruck der Trauer. Seine Frau Sophie starb nach langem Kampf gegen den Krebs 1951. Kurz darauf begann Marcuse �Eros and Civilization�. Aus der Distanz r�ckt Marcuse dort n�her zum einstigen Gegner Foucault, wo er seine Vorstellung der Lebenskunst entwirft. In der befreiten Gesellschaft f�hrt die Triebbefreiung zu einer �sthetik der Existenz. Sexualit�t wird frei zum Eros sublimiert und erstreckt sich auf alle Bereiche des Lebens. Im Hintergrund dieses Gl�cksbegriffes steht das Wiederfinden der verlorenen Paradiese aus Vorgeschichte und Kindheit. Wie wenig Marcuse die militanten Esoteriker und Erotiker verstand, zeigt ein Interview von 1971. Die �Verwaltung des Gl�cks� mit H�ndchenhalten und Drogenrausch �l�st bei mir �belkeit aus�, erwiderte er denen, die ihn f�r den Vordenker ihrer Bewegung hielten.

Im Herzen blieb er ein in der abendl�ndischen Tradition verwurzelter Humanist. �Ich mag mich irren, aber ich glaube, da� ein Mensch ein paar Dinge selbst lernen muߓ, r�t er den jungen Wilden. Dass sein Bildungsideal elit�r war, dessen war er sich bewusst. So blieb er bis zum Ende ein Philosoph, der eine �Werkstatt f�r intellektuelle Waffen� betrieb, weil er daran glaubte, dass die Begriffe gegen�ber der Realit�t eine Widerstandskraft besitzen. Wie ein Philosoph der Antike wollte er seine Sch�ler lehren, selbst�ndig denkend die Welt zu durchschauen. Erst dann konnte der Kampf beginnen f�r eine Gesellschaft, in der jedes Individuum sich frei entfaltet.

TIM B. M�LLER

HERBERT MARCUSE: Nachgelassene Schriften, Band 3: Philosophie und Psychoanalyse. Hrsg. von Peter-Erwin Jansen, Deutsch von Cornelia L�sch. Zu Klampen Verlag, L�neburg 2002. 233 Seiten, 24 Euro.


back to top; to Herbert Marcuse homepage/Jansen vol 3 on marcuse.org website
archived 3/10/03 & 4/7/03, formatting 5/18/05