Herbert Marcuse Official homepage > Unpublished Papers page | Books About page > Tim B. Müller MA Thesis, 2004 | Bibliographie

Magisterarbeit über das Thema:

Herbert Marcuse, die Frankfurter Schule und der Holocaust:
Ein Beitrag zur zeitgenössischen Wahrnehmung der
nationalsozialistischen Vernichtungspolitik

vorgelegt von
Tim B. Müller
(about Tim on Scholars & Activists page)
geb. am 14.1.1978 in Speyer

Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Philosophische Fakultät
Historisches Seminar
Sommersemester 2004
Erstgutachter: Prof. Dr. Georg Christoph Berger Waldenegg
Zweitgutachter: Prof. Dr. Volker Sellin

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Einleitung: Die Zeitgenossen des Holocaust und ihre Wahrnehmung

1
Forschungskontext der Fragestellung und Übersicht über die Arbeit
2
Quellenlage und Forschungspositionen
8
1. Der theoriegeschichtliche Rahmen: Zur Deutung von Antisemitismus und Judenverfolgung am Institut für Sozialforschung 1939 bis 1944
17
1.1. Die Diskussion über Nationalsozialismus und Antisemitismus am Institut für Sozialforschung zu Beginn des Zweiten Weltkrieges
18
1.2. Franz Neumanns „Behemoth“ und die nationalsozialistische Judenverfolgung
23
1.3. Antisemitismus und Genozid in der „Dialektik der Aufklärung“
37
2. Politische Rahmenbedingungen: Die Forschungsabteilung des OSS
41
2.1. Entstehung, Entwicklung und Struktur des OSS
42
2.2. Die Research and Analysis Branch des OSS
46
2.3. Wissensstrukturen und Arbeitsbedingungen in der R&A-Branch
54
3. Herbert Marcuse und der Holocaust
57
3.1. Die Judenverfolgung in Marcuses Verständnis Anfang der vierziger Jahre
58
3.1.1. Freiheit und Terror: Ein Aufsatz von 1941
58
3.1.2. Die Herrschaftstechnik des Nationalsozialismus: Eine Vorlesung Ende 1941
63
3.1.3. Die neue deutsche Mentalität: Eine Untersuchung von 1942
67
3.2. Die Wahrnehmung des Judenmords durch Marcuse und sein Umfeld im OSS
74
3.2.1. Das OSS und die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse
80
3.2.2. Briefe über den Holocaust: Zeugnisse des privaten Marcuse 1943-1948
93
4. Die USA und der Holocaust: Eine Skizze der zeitgenössischen Wahrnehmung
 108
5. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung
115
Exkurs 1 [not included]
123
Exkurs 2 [not included]
124
Exkurs 3 [not included]
125
Abkürzungsverzeichnis [not included]
127
Schaubilder [not included]
128
Bibliographie [separate file]
132

Einleitung: Die Zeitgenossen des Holocaust und ihre Wahrnehmung [back to contents]

Über der Geschichte, wie wir sie kennen, liegt der Schatten von Auschwitz.[1] Das gilt für die Wissenschaft ebenso wie für eine breite Öffentlichkeit. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Mord an den europäischen Juden hat eine kaum noch zu überschauende Zahl von Forschungen und eine Vielfalt von Deutungen hervorgebracht.[2] Die Erforschung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik hat auch eine theoretische Diskussion ausgelöst, die über die Bedeutung und die Darstellbarkeit des Holocaust nachdenkt.[3] Sie zieht auch die Aufmerksamkeit der Massenmedien auf sich, die allerdings nicht nur historische Aufklärung für ein großes Publikum leisten, sondern auch die Faszination und kathartische Funktion des größten anzunehmenden Schreckens vermarkten und damit zu einer Banalisierung von Auschwitz beitragen können. Auch die Sphäre des Politischen bezieht aus dem Holocaust Handlungsimpulse. Dabei läuft sie Gefahr, das unermeßliche Leid der Opfer im politischen Tagesgeschäft zu instrumentalisieren.[4]

Aber wie haben die Zeitgenossen des nationalsozialistischen Mordens von den Untaten des deutschen Regimes erfahren? Was haben sie gewußt? Und begriffen sie, was immer sie erfahren hatten? Blieb ihr Wissen bruchstückhaft, oder setzten sie es zusammen zu einem vollständigen Bild der Vernichtungspolitik? Mit derartigen Fragen beschäftigt sich die vorliegende Arbeit. Eine ganz bestimmte Gruppe von Zeitgenossen des Holocaust wird untersucht. Es handelt sich um eine Gemeinschaft von deutsch-jüdischen Intellektuellen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten in den dreißiger Jahren Zuflucht in den USA gefunden hatten. Diese Emigranten waren in doppelter Hinsicht durch den Nationalsozialismus gefährdet, als Juden und als Linksintellektuelle. Sie alle standen im Untersuchungszeitraum mit dem Institut für Sozialforschung, der später sogenannten Frankfurter Schule, in Verbindung. Namentlich Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Otto Kirchheimer, Franz Neumann und insbesondere Herbert Marcuse finden auf den nachfolgenden Seiten Erwähnung. Konnten sie als Zeitgenossen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik das Ausmaß der Katastrophe verstehen? Waren sie in der Lage, die Nachrichten über den Judenmord in den Horizont ihrer Erfahrungen einzuordnen?

Forschungskontext der Fragestellung und Übersicht über die Arbeit [back to contents]

Der Kontext dieser Fragestellung soll im folgenden in vier Aspekten angedeutet werden. Erstens gibt es seit vielen Jahren eine Debatte darüber, was die Zeitgenossen über die systematische und massenhafte Ermordung der Juden wußten. Eine Seite der Debatte lautet: Was wußten die Deutschen vom Holocaust? Dazu liegt eine umfangreiche Forschung vor.[5] Auf der anderen Seite wiederholt sich diese Frage für andere Länder, insbesondere die Kriegsgegner Deutschlands, in zahlreichen Forschungsbeiträgen: Was wußten die Alliierten, was wußten die USA vom Genozid an den europäischen Juden? Viele der Stellungnahmen in dieser Debatte sind von einem starken Engagement gekennzeichnet. Geht es im ersten Fall letztlich darum, wie viele Deutsche Mitschuld an den Verbrechen trugen, so geht es im zweiten letztlich darum, ob die Alliierten die Vernichtungspolitik hätten verhindern oder beenden können. Im Falle der USA ist dieser Ton in der Debatte besonders deutlich zu vernehmen.[6] Oftmals verbunden damit ist die Frage nach dem Schicksal jüdischer Flüchtlinge, denn die USA boten vielen Flüchtlingen aus dem von Völkermord und Terror bedrohten Europa eine temporäre Zuflucht oder eine neue Heimat.[7]

Unter diesen Flüchtlingen waren auch die Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung, um die es in dieser Arbeit geht. Sie waren Teil der großen deutschsprachigen Emigration in die USA. Das ist der zweite Aspekt des Forschungskontextes. Der Emigrationsgeschichte wurde von der Forschung umfassend Beachtung geschenkt.[8] Auch die Geschichte des Instituts für Sozialforschung im amerikanischen Exil ist eingehend untersucht worden. Seit längerem liegen die beiden Standardwerke von Martin Jay und Rolf Wiggershaus vor, weiterhin sind zahlreiche Spezialstudien erschienen.[9] Die Arbeiten zu einzelnen Personen und Themen im Umfeld des Instituts für Sozialforschung sind unterschiedlich zahlreich, worauf noch hingewiesen wird.

Ein dritter Aspekt betrifft die amerikanische Deutschlandpolitik in den Jahren des Zweiten Weltkrieges. Die außenpolitischen Planungsapparate waren mit umfangreichen Vorbereitungen der absehbaren Besatzung Deutschlands beschäftigt.[10] Dabei bedienten sich die amerikanischen Regierungsstellen in erheblichem Ausmaß auch der Sachkenntnis deutschsprachiger Emigranten. Die deutschlandpolitischen Planungen wiederum sind eng verknüpft mit dem vierten Aspekt des Themas, nämlich mit der Geschichte der amerikanischen Nachrichtendienste im Zweiten Weltkrieg. Neben den zuständigen Ministerien und weiteren Behörden hatten die Geheimdienste einen wesentlichen Anteil an den Deutschlandplanungen. Der wichtigste dieser Dienste, der erste zentrale Nachrichtendienst in der Geschichte der USA, war das 1941/42 eingerichtete Office of Strategic Services (OSS), das nach Kriegsende wieder aufgelöst und 1947 teilweise von der Central Intelligence Agency (CIA) beerbt wurde. Das OSS verfügte über eine eigene Forschungs- und Analyseabteilung, in der Hunderte von Wissenschaftlern Informationen über eine Vielfalt von Themen auswerteten und politische Analysen verfaßten. Zu den mit Deutschland befaßten Wissenschaftlern in der Forschungs- und Analyseabteilung des OSS gehörten auch die ehemaligen Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung Otto Kirchheimer, Herbert Marcuse und Franz Neumann.

In dieser Abteilung des OSS laufen alle Forschungsaspekte zusammen: Die Frage, was der amerikanische Nachrichtendienst vom Holocaust wußte, ebenso wie die Geschichte deutscher Emigranten, die in den Diensten des OSS standen und dort Genaueres über die Verbrechen im deutschen Machtbereich erfuhren. Zur Geschichte des OSS existiert eine größere Zahl von Forschungen. Eine umfassende und auf dem neuesten Quellenstand beruhende Untersuchung der auf Deutschland bezogenen Aktivitäten des OSS hat Christof Mauch vorgelegt.[11] Auch die Forschungs- und Analyseabteilung des OSS ist Gegenstand gezielter Aufmerksamkeit durch zwei grundlegende Studien geworden, daneben gibt es einige kleinere Beiträge. Den Anfang machte Barry Katz mit einem Buch, das die verschiedenen Abteilungen der Forschungs- und Analyseabteilung untersucht und darunter auch eigens die ehemaligen Mitglieder des Instituts für Sozialforschung behandelt.[12] Katz widmet sich besonders den Arbeitsbedingungen im OSS und wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten des Themas. Demgegenüber konzentriert sich Petra Marquardt-Bigman in ihrer Studie auf die politischen Deutschlandanalysen, die während des Krieges in der Forschungs- und Analyseabteilung des OSS erarbeitet wurden. Marquardt-Bigman dehnt ihre Untersuchung auch auf die ersten Nachkriegsjahre aus, als die Forschungsabteilung nach Auflösung des OSS 1945 vom Außenministerium übernommen wurde. Dabei kommt ihre Studie auch immer wieder ausführlich auf den Beitrag deutscher Emigranten, namentlich von Neumann und Marcuse, zu den amerikanischen Deutschlandplanungen zu sprechen.[13]

Die vorliegende Arbeit fragt nach der zeitgenössischen Wahrnehmung des Holocaust. Darum beschränkt sie sich im wesentlichen auf den Zeitraum des Zweiten Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Am Anfang dieser Zeit entwickelte die nationalsozialistische Judenverfolgung im Zuge der militärischen Expansion des Deutschen Reiches eine neue Qualität, die kurze Zeit später zur systematischen Ermordung der europäischen Juden führte.[14] Am Ende stehen die Befreiung der letzten Überlebenden aus den Vernichtungs- und Konzentrationslagern und schließlich die Nürnberger Prozesse, die der Weltöffentlichkeit den Umfang der nationalsozialistischen Untaten unmittelbar und gestützt auf eine umfassende Dokumentation vor Augen führten.

Zeitgenossen und Zeugen dieses Geschehens waren auch die deutsch-jüdischen Emigranten, die sich in den USA unter dem Dach des Instituts für Sozialforschung versammelt hatten. In ihrem Fall unterlag die Wahrnehmung der nationalsozialistischen antisemitischen Ideologie, Judenverfolgung und Vernichtungspolitik einer besonderen Prägung, die über persönliche Umstände und die Nachrichtenlage hinausweist. Denn auch wenn einzelne Personen im Vordergrund dieser Arbeit stehen, so handelt es sich doch um eine Gruppe von Intellektuellen, die in einen ständigen Austauschprozeß verwickelt war. Diese Gruppe miteinander diskutierender und arbeitender Intellektueller richtete ihre Aufmerksamkeit besonders auf die Vorgänge in Deutschland und Europa. Mit hohem Abstraktionsgrad versuchten ihre Theorien, die politische, ökonomische und sozialpsychologische Struktur des „Faschismus“ zu erklären.

Es handelt sich also um Menschen, die nicht nur persönlich Betroffene der antisemitischen Verfolgungsmaßnahmen waren, sondern auch bereits über eine entwickelte Theorie des „Faschismus“ verfügten, bevor der Judenmord einsetzte. Diese theoretische Grundorientierung beeinflußte zwangsläufig ihre Wahrnehmung der Vernichtungspolitik. Eine Untersuchung der zeitgenössischen Wahrnehmung des Holocaust durch die intellektuelle Gemeinschaft des Instituts für Sozialforschung ist somit zugleich eine Untersuchung des Zusammenhangs von Theorie und Erfahrung.[15] Es ist eine Geschichte des Zusammenwirkens und des Gegensatzes von Theorie und Erfahrung. Zu beobachten ist einerseits, daß so lange als möglich an vertrauten Theorien festgehalten wurde. Festzustellen ist andererseits aber auch, daß angesichts neuer, überwältigender Erfahrungen die herkömmlichen Erklärungsmuster schrittweise verändert oder sogar aufgegeben wurden.

Auch andere Bedingungen der Wahrnehmung werden angesprochen und aufgeklärt, wo immer es die besonders in privaten Dingen unsichere Quellenlage zuläßt. Persönliche Erfahrung in Deutschland wie in den USA, die Erlebnisse der Familie und die Frage einer möglichen Traumatisierung durch den Holocaust sind zu nennen. Die Arbeitsumstände im OSS sind einer eingehenden Begutachtung zu unterziehen, denn hier verbrachten Kirchheimer, Marcuse und Neumann den größten Teil des Untersuchungszeitraums. Den vielfältigen äußeren Bedingungen der Wahrnehmung soll angemessen Beachtung geschenkt werden, um mit quellenkritischer Sorgfalt die relevanten Dokumente eingehend untersuchen zu können.

Wie die vorliegende Arbeit dabei vorgeht, wird aus einer Skizze der nachfolgenden Kapitel ersichtlich. Im ersten Kapitel wird zunächst die Diskussion über den Nationalsozialismus am Institut für Sozialforschung zwischen 1939 und 1941, die der Judenverfolgung nur geringe Beachtung schenkte, kurz gestreift. Danach widmet es sich kursorisch einem der wichtigsten Bücher jener Jahre, Franz Neumanns „Behemoth“, der damals umfangreichsten Analyse der nationalsozialistischen Herrschaft, die auch für die spätere Forschung ein wichtiger Bezugspunkt geblieben ist.[16] Auch hier werden sich meine Anmerkungen auf die Darstellung der Judenverfolgung konzentrieren. Diese wenigen Seiten waren von erheblicher Bedeutung dafür, wie ein Teil der Zeitgenossen – unter ihnen Herbert Marcuse – die Ursachen der nationalsozialistischen antijüdischen Politik erklärte. Schließlich wird kurz umrissen, in welchen Grundzügen Max Horkheimer, der Direktor des Instituts für Sozialforschung, und sein Mitarbeiter Theodor W. Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ den Antisemitismus erklärten.[17] Diese Deutung, 1944 abgeschlossen, ist die am wenigsten empirische und die theoretisch elaborierteste Darstellung von allen. Dennoch bleiben die aktuellen Ereignisse in Deutschland der immer wieder durchscheinende Hintergrund des einschlägigen Kapitels „Elemente des Antisemitismus“. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Geschichte und Struktur der Forschungs- und Analyseabteilung des OSS. Besondere Beachtung wird den Arbeitsbedingungen und Aufgabenbereichen von Kirchheimer, Marcuse und Neumann geschenkt. In diesem Umfeld und zu dieser Zeit entstanden viele der nachfolgend untersuchten Quellen.

Das erste Kapitel skizziert also überblicksweise den theoriegeschichtlichen Kontext am Institut für Sozialforschung, das zweite beschreibt die Umstände im OSS. Beide dienen als Rahmen für das zentrale dritte Kapitel, das sich intensiv mit den Quellen auseinandersetzt und den Hauptteil der vorliegenden Arbeit bildet. Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht die Wahrnehmung der Judenverfolgung und Judenvernichtung durch Herbert Marcuse in den Jahren 1941 bis 1945. An einer Stelle wird der Untersuchungszeitraum ein wenig überschritten, wenn zwei wichtige, zeitnahe Quellen aus den Jahren 1947 und 1948 in die Untersuchung aufgenommen werden. Zunächst werden drei umfangreiche Beiträge Marcuses analysiert, die er noch als Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung verfaßt hat. Danach folgt eine ausführliche Beschäftigung mit den Dokumenten, die Marcuse, Neumann und Kirchheimer im OSS produziert haben, sowohl im Rahmen der Deutschlandplanungen als auch später im Rahmen der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse. Zuletzt fällt der Blick auf private Zeugnisse Marcuses, im wesentlichen auf Briefe an Max Horkheimer und den Philosophen Martin Heidegger, Marcuses einstigen akademischen Lehrer. Immer wieder wird deutlich, wie bei Marcuse vertraute Theorien und neue Erfahrungen in Konflikt geraten. Die Lösungen dieses Konflikts, die Marcuse wählt, sind unterschiedlich und teilweise widersprüchlich, sie sind außerdem von äußeren Faktoren wie den Arbeitsbedingungen im OSS bestimmt, doch bleibt insgesamt zu konstatieren, daß er sich der schrecklichen Realität des Judenmords immer mehr bewußt wurde.

Zwei kurze, das Bild abrundende Kapitel schließen sich an. Im vierten Kapitel erfolgt ein knapper Überblick über die Wahrnehmung des Holocaust in den USA. Marcuse lebte und arbeitete in einem amerikanischen Umfeld, seine Kollegen, Vorgesetzten und Nachbarn waren Amerikaner, und auch er wurde als Emigrant amerikanischer Staatsbürger. Um diesen Lebensbereich Marcuses nicht auszuklammern, sind einige wenige skizzenhafte Informationen angebracht. Das letzte, das fünfte Kapitel versteht sich als Abschluß und Zusammenfassung dieser Arbeit. Die Leitfragen und wichtigsten Ergebnisse sollen darin neben einigen weitergehenden Überlegungen vorgetragen werden.

Quellenlage und Forschungspositionen [back to contents]

Warum konzentriert sich diese Arbeit auf Herbert Marcuse? Diese Frage soll nachstehend geklärt werden. Im Anschluß daran erfolgen Hinweise auf die Quellenlage, bevor eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur diese Einleitung abschließt. Dieser Überblick über die wichtigsten Positionen der Literatur geschieht hier, nicht erst im Kapitel über Marcuse, weil sich die Literatur zumeist nicht nur auf Marcuse bezieht, sondern andere Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung oder des OSS – insbesondere Neumann – einbezieht.

Im wesentlichen handelt es sich um zwei Gründe, die eine Beschäftigung mit Marcuse nahelegen: Zum einen gibt es relativ wenig Literatur über Marcuse in diesen Jahren und insbesondere zur Fragestellung dieser Arbeit. Zum anderen liegen seit einiger Zeit für das Thema wichtige Quellen von Marcuse in edierter Form vor, die bislang nicht angemessen ausgewertet wurden.

Die Literatur zur Frankfurter Schule ist, wie bereits erwähnt wurde, uferlos. Beiträge, die sich gezielt mit der Wahrnehmung des Holocaust durch die Frankfurter Schule beschäftigen, sind bereits wesentlich seltener. Historische Untersuchungen zur zeitgenössischen Wahrnehmung der Vernichtungspolitik durch die Mitglieder des Instituts für Sozialforschung – Untersuchungen also, die sich auf zeitgenössische Quellen beschränken und nicht spätere theoretische Entwicklungen der fraglichen Personen einbeziehen – gibt es kaum. In diese Kategorie fällt als Überblicksdarstellung eine kürzere Studie von Martin Jay.[18] Speziell auf die „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno bezogen sind zwei vorzügliche historische Untersuchungen von Anson Rabinbach.[19] Mit Horkheimers zeitgenössischer Sicht auf den Holocaust befaßt sich ein Beitrag von Dan Diner.[20] Eine ganze Reihe weiterer Arbeiten, die sich entweder als Untersuchung des Antisemitismus-Verständnisses der Frankfurter Schule oder als vom Verständnis der Frankfurter Schule ausgehende Untersuchungen des Antisemitismus-Problems verstehen, wählt einen zeitlich größeren Rahmen sowie nicht selten eine Ausweitung des Themas auf die allgemeine „Faschismus“-Deutung der Frankfurter Schule.[21] Im allgemeinen ist dabei eine Konzentration auf Horkheimer und Adorno zu beobachten. Zu berücksichtigen sind außerdem die betreffenden Darstellungen in den Standardwerken von Jay und Wiggershaus sowie relevante Passagen in den erst im vergangenen Jahr zum hundertsten Geburtstag Adornos erschienenen Adorno-Biographien.[22] Weniger häufig bearbeitet ist die Deutung von Antisemitismus und Vernichtungspolitik durch Franz Neumann.[23] Zum „Behemoth“ generell liegt jedoch manches an Literatur vor.[24] Außerdem sind die Kapitel zum Antisemitismus im „Behemoth“ selbst ein wissenschaftlicher Beitrag zur Erforschung des nationalsozialistischen Terrors und anders als die Deutungen Horkheimers und Adornos nicht schwierig zu verstehen.[25]

Marcuse kommt in dieser Literatur nur am Rande vor – mit der Ausnahme eines Aufsatzes von Zvi Tauber, der Marcuses Deutung von Auschwitz nach 1945 untersucht.[26] Das liegt in erster Linie daran, daß er in den betreffenden Jahren kein für das Thema so bedeutendes Werk wie den „Behemoth“ oder die „Dialektik der Aufklärung“ vorweisen konnte. Zwar erschien 1941 sein umfangreiches philosophisches Hegel-Buch „Reason and Revolution“,[27] aber aus dem gesamten Untersuchungszeitraum liegt nur ein veröffentlichter Aufsatz aus dem Jahre 1941 vor, der zur Fragestellung dieser Arbeit paßt. Diese Situation hat sich jedoch im Laufe der Zeit geändert. Mehr und mehr archivalische Zeugnisse wurden zugänglich gemacht, die einen vollständigeren und differenzierteren Blick auf Marcuses Haltung in den betreffenden Jahren erlauben. Wichtige Quellen konnten im Herbert-Marcuse-Archiv und im Max-Horkheimer-Archiv, die der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main angeschlossen sind, lokalisiert werden. Einige dieser Dokumente wie der Briefwechsel mit Horkheimer wurden bereits von Wiggershaus und Tauber benutzt.

Allerdings liegt seit relativ kurzer Zeit die bisher umfassendste Quellenedition vor, die sämtliche größeren Texte Marcuses aus den vierziger Jahren und einen Auszug aus den Briefwechseln enthält. Diese Edition wurde von Douglas Kellner im Rahmen der nachgelassenen Schriften Marcuses besorgt.[28] Die Mehrzahl dieser Zeugnisse besteht aus bis dahin unveröffentlichtem und unbekanntem Material aus dem Marcuse-Archiv.[29] An einigen wenigen Stellen konnten Ergänzungen des Materials aufgrund eigener Durchsicht der Bestände des Marcuse-Archivs vorgenommen werden. Diese Dokumente bilden die Quellengrundlage eines wesentlichen Teils der vorliegenden Arbeit.[30] Sie wurden bisher kaum beachtet. Es existiert meines Wissens keine andere Arbeit, die diese Quellen nach Maßgabe der hier verfolgten Fragestellung untersucht hätte.[31] Es liegt überhaupt keine Arbeit vor, die sich Marcuses zeitgenössischer Wahrnehmung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik angenommen hätte.

Marcuse als Zeuge des Holocaust ist somit ein bisher unerschlossenes Feld der Geschichte. Dabei ermöglichen die von ihm stammenden Quellen ein sehr differenziertes Verständnis dessen, was es heißt, Zeitgenosse und Zeuge der Ermordung der europäischen Juden zu sein. Gerade weil diese Dokumente nicht in sich geschlossen sind, gerade weil sie sich einmal auf den abstrakten Höhen der Theorie, ein andermal in den konkreten Herausforderungen des Alltags bewegen, gerade weil sie sehr vielfältig und bruchstückhaft sind, geben sie den Blick frei auf einen Menschen, der den Holocaust aus der Ferne erlebte. Von Marcuses Leben in diesen Jahren sind zwar nur die Grundzüge bekannt, aber die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit könnten dieses Bild um eine bisher kaum beachtete Facette erweitern.[32]

Ein zweites Quellenkorpus ermöglicht eine Untersuchung der Wahrnehmung Marcuses in diesen Jahren. Allerdings ist bei diesen Quellen mit besonderer quellenkritischer Sorgfalt vorzugehen. Denn es handelt sich dabei um die Dokumente, die Marcuse als Mitarbeiter des amerikanischen Nachrichtendienstes OSS produzierte, in Kooperation mit seinem Arbeitsumfeld, zu dem auch die ehemaligen Kollegen am Institut für Sozialforschung Neumann und Kirchheimer gehörten. Diese Quellen aus den Archivbeständen des amerikanischen Außenministeriums und der CIA befinden sich in den National Archives in Washington. Im Verlauf dieser Arbeit war es nicht möglich, diese Bestände einzusehen, aber es liegen einige Quelleneditionen vor, die ausgewählte Dokumente aus den relevanten Unterlagen zugänglich machen. Die früheste und wichtigste Edition in diesem Zusammenhang ist eine auf Kirchheimer, Marcuse und Neumann konzentrierte und von Alfons Söllner herausgegebene Sammlung von OSS-Dokumenten.[33] Neueren Datums sind zwei von Jürgen Heideking und Christof Mauch betreute Dokumentationen der OSS-Analysen über den deutschen Widerstand gegen Hitler. Darunter sind auch einige von Marcuse und Neumann verfaßte Papiere.[34] Nicht wenige, teils umfangreiche Auszüge aus den Quellenbeständen sind den genannten Spezialstudien von Katz und Marquardt-Bigman zu verdanken.[35] Auf damit in Verbindung stehende quellenkritische Probleme wird an gegebener Stelle aufmerksam gemacht.[36]

Auf der Basis dieser Quellenlage wird versucht, eine möglichst umfassende Darstellung des Themas zu erarbeiten. Die Quellen werden dabei nicht einfach angeführt, um einen Sachverhalt zu dokumentieren, sondern sie werden ihrer Bedeutung angemessen analysiert und kommentiert. Wenn es sich um für das Thema zentrale Zeugnisse handelt, wird ausführlich daraus zitiert.[37] Außerdem stellt die vorliegende Arbeit an einigen wichtigen Stellen Marcuses Sicht der damaligen Vorgänge den heute in der Forschung üblichen Deutungen gegenüber. Diese Vorgehensweise dient rein heuristischen Zwecken. Im Vergleich können manche Punkte erhellt werden, ohne dabei die historischen Bedingungen von Marcuses Wahrnehmung zu vergessen.[38]

Im Hintergrund einer Arbeit, die sich mit der zeitgenössischen Wahrnehmung des Holocaust durch deutsch-jüdische Linksintellektuelle befaßt, steht unvermeidlich auch das Verhältnis von Intellektuellen zur Politik als ein Sonderfall des Verhältnisses von Theorie und Erfahrung. Diese uralte und spannungsreiche Beziehung wird in meiner Darstellung nur gelegentlich gestreift.[39] In der Literatur wird jedoch neben der Wahrnehmung des Holocaust oftmals auch diese Frage verhandelt, mit politischer Sympathie für die handelnden Personen oder in Gegnerschaft zu ihren politischen Haltungen. Demgegenüber soll hier versucht werden, möglichst sachlich und unvoreingenommen vorzugehen. Das Resultat ist eine mittlere Position, die auch kritisch auf Äußerungen der Literatur eingeht.

Es gibt in der Literatur nur wenige direkte Stellungnahmen zu Marcuses zeitgenössischer Wahrnehmung des Holocaust. Im wesentlichen drehen sich alle Beiträge, ob sie ausschließlich Marcuse oder die Frankfurter Schule insgesamt zum Gegenstand haben, um einen Punkt: Es wird eine Erklärung dafür gesucht, warum Marcuse, warum das Institut für Sozialforschung dem Antisemitismus und der Judenverfolgung nur eine nachgeordnete und zumeist funktionale Rolle in seinen zeitgenössischen Deutungen des Nationalsozialismus zuwies. Der erste Ansatz einer Erklärung stammt von Martin Jay. Seine Bemerkungen gelten allen Mitgliedern des Instituts für Sozialforschung in diesen Jahren. Sie schließen Marcuse ein, allerdings ohne auf Marcuses mittlerweile zugänglich gewordene Texte einzugehen. In seiner Gesamtdarstellung der frühen Frankfurter Schule hebt Jay hervor, daß bereits in den späten Jahren der Weimarer Republik am Institut die Tendenz sichtbar war, sich nicht mit jüdischen Anliegen zu identifizieren. Dahinter stand angesichts eines antisemitischen Klimas die Furcht, andernfalls gezieltes Angriffsobjekt von Judengegnern zu werden. Andererseits maß man wie andere jüdische Linksintellektuelle in diesen Jahren dem eigenen Jüdischsein keine besondere Bedeutung bei. Dahinter wiederum stand die Hoffnung, der Antisemitismus sei nur ein Oberflächenphänomen, das unter verbesserten gesellschaftlichen Verhältnissen überwunden werden könne. Jay faßt diese Haltung zusammen als „the Institute’s general minimalization of the Jewish problem“.[40]

Jay hat diese Erklärung in einem späteren Beitrag weiterverfolgt und zugleich modifiziert. Demnach war vor allem anderen ein zusätzlicher Faktor für das scheinbare Ignorieren des Antisemitismus verantwortlich: das Festhalten an marxistischen Kategorien. Wie alle marxistischen Intellektuellen unterschätzten Horkheimer und seine Kollegen die spezifische Bedeutung des Antisemitismus. In späteren Jahren waren sich offensichtlich die meisten von ihnen dessen bewußt, daß ihr Verständnis des Antisemitismus in den Vorkriegs- und ersten Kriegsjahren unangemessen war. Während des Krieges veränderten sich die Positionen, aber es blieb noch lange bei funktionalistischen Erklärungen, die eine ökonomische oder herrschaftstechnische Rationalität des Antisemitismus betonten. Eine solche Auffassung, wie sie Neumann im „Behemoth“ vertrat, wurde damals am Institut für Sozialforschung allgemein geteilt. Der Wandel geschah hauptsächlich unter dem Eindruck eines Projekts zur Erforschung des Antisemitismus in Amerika, das Horkheimer seit 1944 im Auftrag des American Jewish Committee leitete und das in Gestalt der „Studies in Prejudice“ erschien.

Aus diesem Projekt ging auch das Kapitel „Elemente des Antisemitismus“ in Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“ hervor. Die veränderte Sicht kam zum Ausdruck in einer Anerkennung der irrationalen Dimension des Antisemitismus, die sich nicht einfach einer politischen oder ökonomischen Funktionalisierung unterwirft. Doch auch in diesen zeitgenössischen Schriften, an denen Marcuse keinen Anteil hatte, findet keine völlige Aufgabe der marxistischen Kategorien statt. Unter stärkerer Einbeziehung der Psychoanalyse entsteht eine komplexe, dialektisch verknüpfte Deutung des Antisemitismus, die archaische Triebe und kulturell-religiöse Prägungen einbezieht. Damit geht jedoch weiterhin der Verweis auf eine ökonomische Funktionalität – wie die Verschleierung der Herrschaft im kapitalistischen Produktionsprozeß – des Antisemitismus einher.[41]

Den von Jay vorgezeichneten Bahnen folgen die meisten Beiträge in der Literatur. Barry Katz schließt seine Darstellung von Marcuses und Neumanns Rolle im OSS mit Überlegungen zur Wahrnehmung des Holocaust ab. Aus den seltenen und zumeist im Rahmen funktionalistischer Theorien operierenden Erwähnungen der Vernichtungspolitik in den OSS-Papieren diagnostiziert Katz eine Unfähigkeit, den Judenhaß der Nationalsozialisten und die breite Resonanz des Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung ernst zu nehmen. Letzteres fiel den marxistisch orientierten Intellektuellen besonders schwer, weil sie lange auf die Widerstandskräfte der deutschen Arbeiterklasse hofften. Eine abschließende Erklärung gibt Katz nicht, doch in Form einer Frage formuliert er seine Vermutungen:

Did their insistence upon seeing the Nazi genocide of the Jews as explicable only in terms as something outside of itself serve them as a last, desperate attempt to salvage something from the shipwreck of Western rationality, or was it perhaps occasioned by a Marxist’s lingering allegiance to the German working class?[42]

Mit dem Befund, daß der Holocaust im OSS lange Zeit scheinbar kaum Beachtung fand und daß noch funktionalistische und rationalisierende Erklärungen des Holocaust gesucht wurden,[43] selbst nachdem die systematische Natur des Mordes an den europäischen Juden erkannt worden war, befaßt sich Katz nochmals an anderer Stelle. Dort gibt er seinen Erläuterungen aber eine neue Richtung. Zum einen belegt er nun, daß das OSS bereits frühzeitig und umfassend über die Vernichtungspolitik informiert war. Zweitens weist er darauf hin, daß das vom OSS zusammengetragene Material einen wesentlichen Grundstein für die Arbeit späterer Holocaust-Forscher wie Raul Hilberg bildete. Drittens führt er einen entscheidenden, zuvor von ihm selbst vernachlässigten Grund für die mangelnde Beschäftigung mit dem Holocaust an – die politischen und bürokratischen Vorgaben im OSS, die auch für die Neumann und Marcuse beschäftigende Forschungs- und Analyseabteilung galten: „The mandate of Research and Analysis branch was limited and did not include the rescue of the European Jews“.[44] Aufgrund seiner erneuten Untersuchung des Quellenmaterials kommt Katz nun zu dem Urteil: „The evidence challenges the picture of naïveté or indifference regarding Europe’s Jews that is typically ascribed to U.S. intelligence during the war.“[45]

Dieser revidierten und differenzierten Erklärung von Katz haben die weiteren Forschungsbeiträge keine Beachtung geschenkt. Vielmehr nehmen sie den von Jay bereits verfolgten Faden auf. Die einseitige Konzentration auf den Marxismus der Frankfurter Schule kennzeichnet diese Erklärungen. Richard Breitmans Darstellung des alliierten Wissens über Auschwitz kommt auch kurz auf Neumanns Rolle im OSS zu sprechen. Das OSS konnte sich Breitman zufolge ab Ende 1942 ein einigermaßen genaues Bild vom Völkermord an den Juden machen. „Selbst dann“, so fährt Breitman fort, „verhinderten ideologische Barrieren bei einigen klugen Leuten (wie zum Beispiel dem aus Deutschland emigrierten Politikwissenschaftler Franz Neumann), daß sie das Offensichtliche zur Kenntnis nahmen.“ Demgegenüber hätten „engagierte amerikanische Juden“ im OSS dazu beigetragen, den Belangen der Juden Aufmerksamkeit zu schenken.[46]

Marcuse als engster Mitarbeiter Neumanns muß in diese Erklärung einbezogen werden. Ohnehin bezieht sich der Beitrag, auf den sich Breitman an dieser Stelle stützt,[47] neben Neumann und Kirchheimer ausdrücklich auf Marcuse. Es handelt sich um eine Untersuchung der Rolle des OSS in den Vorbereitungen der Nürnberger Prozesse. Deren Autor, Shlomo Aronson, erwähnt eine Reihe von Gründen für die nachrangige Beschäftigung mit dem Holocaust im OSS. Dazu gehört der innenpolitisch motivierte Wunsch der Briten, den Eindruck zu vermeiden, den Krieg vorrangig zur Befreiung der Juden geführt zu haben.[48] Ein wesentlicher Grund war die politische Entscheidung auf höchster Ebene, als Hauptanklagepunkt der Kriegsverbrecherprozesse das juristisch leichter nachweisbare Verbrechen der Verschwörung zum Angriffskrieg festzusetzen. Das schloß das Verbrechen des Judenmords nicht aus, machte es jedoch zu einem dieser Kategorie untergeordneten Anklagepunkt.[49] Daran hatten sich auch die Vorarbeiten des OSS zu halten. Schließlich kommt Aronson noch auf die marxistischen Erklärungsmuster von Neumann und Marcuse zu sprechen, wenn er erklärt: „Neumann and other Marxists failed to understand the centrality of antisemitism in Nazi ideology and strategy“.[50] Nach Aronsons Urteil dienten Neumann und seine „German-born assimilated Jewish and half-Jewish“ Kollegen im OSS den Hauptkriegszielen der Alliierten. Sie seien nicht vorrangig an der Bestrafung der Nationalsozialisten interessiert gewesen.[51] Aronson unterlaufen dabei einige fehlerhafte Aussagen und er läßt sich zu persönlichen Attacken hinreißen.[52] Die Erklärungen und Bewertungen von Aronson und Breitman stützen sich ausschließlich auf OSS-Dokumente. Eine Beschäftigung mit Marcuses umfangreichen, zu diesem Zeitpunkt erst in der Veröffentlichung befindlichen Unterlagen fehlt.

John Abromeit dagegen setzt sich mit diesen von Kellner edierten Quellen auseinander. In einer ausführlichen Rezension des Bandes kommt aber auch Abromeit zu einem Urteil, das dem Interpretationsrahmen von Jay folgt und nur wenig schärfer als das von Aronson oder Breitman ist. Er erwähnt, daß Marcuse sozialpsychologische Ursachen für die Attraktivität des Nationalsozialismus erkennt, verweist aber auf die rationalen und funktionalistischen Erklärungsmuster, die Marcuses Äußerungen zum nationalsozialistischen Antisemitismus beherrschen: „Marcuse had relatively little to say about the irrational forces unleashed by the Nazis, antisemitism being only the most obvious example“.[53] Abromeit fragt sich, ob Marcuse seine Texte einige Jahre später in voller Kenntnis des Geschehenen revidiert hätte, in Kenntnis auch der irrationalen Verfolgung des Ziels, die Juden zu vernichten, selbst auf Kosten von Ressourcen, die der Kriegführung dienten. Dabei erwähnt Abromeit mit keinem Wort die im selben Band abgedruckten Briefe Marcuses an Heidegger von 1947 und 1948, die Abromeits Erwartungen entsprechen könnten.[54] Jeffrey Herf hingegen läßt in einer längeren Rezension die Frage offen. Er weist auf interessante Aspekte in Marcuses Nationalsozialismus-Deutung und auf Lücken in seinem Antisemitismus-Verständnis hin und betont, daß sich die Texte nur am Rande mit dem Holocaust beschäftigen. Aber auch Herf vermutet einen Zusammenhang mit der marxistischen Perspektive Marcuses – ein Urteil, das Herf allerdings abmildert, indem er Marcuse und Neumann mehrfach attestiert, ansonsten nachweislich scharfsinnige Analytiker des Nationalsozialismus gewesen zu sein:

Neumann’s economism had blinded him to the terrible reality. These essays do not indicate whether Marcuse shared Neumann’s skepticism about Hitler’s threats. Yet their general focus on the socio-economic dimensions of Nazism, as well as Marcuses skepticism about the causal significance of Nazi racial ideology – both residues of their shared Marxist rationalism – suggest that this was the case.[55]

Nach einer eingehenden Untersuchung der vorliegenden Quellen kommt diese Arbeit zu dem Schluß, daß die in der Literatur verbreiteten Urteile in großen Teilen nicht aufrechtzuerhalten sind. Aber nicht nur die Urteile sind anzufechten. Es kann auch gezeigt werden, daß der Tatbestand von einigen der genannten Autoren nicht richtig ermittelt wurde. Grund dafür ist einerseits manchmal eine oberflächliche Analyse der Quellen. Andererseits kannten die meisten der zuvor besprochenen Autoren zahlreiche der hier ausgewerteten Quellen noch nicht. Diese Arbeit versucht erstmals, das Gesamtbild festzustellen und nicht nur einen Teil der Quellen zu berücksichtigen. In Anlehnung an eine Formulierung von Barry Katz nimmt diese Arbeit nach einer gründlichen Analyse aller vorliegenden Dokumente zu Marcuse somit an, daß der empirische Befund das Bild persönlicher Indifferenz oder politischer Blindheit gegenüber dem Schicksal der Juden in Frage stellt, das für gewöhnlich Marcuse während des Zweiten Weltkrieges zugeschrieben wird.[56]


1. Der theoriegeschichtliche Rahmen: Zur Deutung von Antisemitismus und Judenverfolgung am Institut für Sozialforschung 1939 bis 1944 [back to contents]

Das 1924 gegründete Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main wurde seit 1930 von dem Philosophen Max Horkheimer als Direktor geleitet. Der engere Kreis um Horkheimer, zu dem im Laufe der Zeit Friedrich Pollock, Leo Löwenthal, Erich Fromm, Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno gehörten, entwickelte eine intellektuelle Gemeinschaft und eine Form des Denkens, die später als „Kritische Theorie“ oder „Frankfurter Schule“ berühmt wurden. Sie zeichnete sich durch interdisziplinäre Diskussion und einen integrativen Ansatz aus, der empirische wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Forschung ebenso umfaßte wie die Psychoanalyse und die Philosophie. Im Selbstverständnis der Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung waren zu dieser Zeit Hegel und Marx die wichtigsten Bezugspunkte. Fast alle Mitarbeiter des Instituts waren Juden, und sie waren Sozialisten.

Als Juden und Linksintellektuelle in doppelter Weise durch den Nationalsozialismus gefährdet, emigrierten die meisten Mitarbeiter des Instituts bereits 1933 aus Deutschland. Das Institut und seine Bibliothek wurden sogleich von den deutschen Behörden beschlagnahmt. Die Mittel des Instituts waren rechtzeitig ins Ausland transferiert worden. Der Sitz des Instituts wurde zunächst nach Genf verlegt, Zweigstellen in Paris und zeitweilig auch in London wurden mit Hilfe ortsansässiger wissenschaftlicher Institutionen eröffnet. Die bis zum Kriegsausbruch gehaltene Einrichtung in Paris war der wichtigste Außenposten. Einige weitere Emigranten wie Walter Benjamin übernahmen dort kleinere Aufträge und konnten sich so finanziell über Wasser halten. Das Institut und der Hauptteil seiner Mitarbeiter fand jedoch 1934 dauerhaft Zuflucht in den USA. In Verbindung mit der Columbia University firmierte man in New York als Institute of Social Research. Ab Mitte der dreißiger Jahre stießen weitere Emigranten wie Franz Neumann, Otto Kirchheimer und Arkadij Gurland hinzu. Diese waren nicht in den engeren Kreis um Horkheimer eingebunden, aber die schwindenden Mittel des Instituts boten ihnen vorübergehend eine sichere Bleibe.[57]

1.1. Die Diskussion über Nationalsozialismus und Antisemitismus am Institut für Sozialforschung zu Beginn des Zweiten Weltkrieges [back to contents]

Im folgenden wird ein nur kurzer und verkürzender Blick auf die Diskussion über den Nationalsozialismus am Institut für Sozialforschung zwischen 1939 und 1941 geworfen. In diesen Jahren erreichte die vielstimmige, von gegensätzlichen Positionen gekennzeichnete Auseinandersetzung ihren Höhepunkt. Eine besondere Intensität war mit einer Vortragsreihe über den Nationalsozialismus erreicht, die Institutsmitglieder Ende 1941 an der Columbia University abhielten. Allerdings wurde der Judenverfolgung dabei vergleichsweise geringe Beachtung geschenkt. Die auf die Wirtschaftsstruktur konzentrierte Erörterung der Natur des Nationalsozialismus ist für die Fragestellung dieser Arbeit unerheblich. Infolgedessen werden diese komplexen Diskussionen auch nur im Vorübergehen gestreift.[58]

Dubiel und Söllner zufolge wurden damals drei verschiedene Ansätze der Faschismusanalyse am Institut für Sozialforschung erörtert. Fromm und anfangs Horkheimer vertraten einen sozialpsychologischen Ansatz, Marcuse und Horkheimer einen ideologie- und kulturkritischen, Pollock und die Neumitglieder Neumann, Gurland und Kirchheimer einen politisch-ökonomischen. Diese einander mehr ergänzenden als miteinander konkurrierenden Analysen wurden jedoch von einem Konflikt abgelöst, der sich 1941 zu dem scharfen Gegensatz von „Staatskapitalismus“ und „totalitärem Monopolkapitalismus“ zuspitzte. Pollock und in seinem Gefolge Horkheimer deuteten den Nationalsozialismus als eine neue Ordnung, als staatskapitalistisches System, das den Primat der Ökonomie über die Politik abgeschafft und die Nachfolge des privatkapitalistischen Systems angetreten hatte. Demnach blieb das Profitstreben erhalten, ein sozialistisches System wurde nicht installiert. Aber der Staatsapparat hatte eine neue Rolle im Verhältnis zur Wirtschaftsordnung eingenommen. Der Markt als Instrument des Ausgleichs von Angebot und Nachfrage wurde ersetzt durch ein Plansystem, das von einer aus der Verschmelzung von Staatsbürokratie und Industriespitzen hervorgegangenen Elite gelenkt wurde.[59]

Neumann, Gurland und Kirchheimer hingegen vertraten aufgrund ihrer empirischen Analysen die Theorie, das nationalsozialistische oder „faschistische“ System sei auch in seiner kriegskapitalistischen Form die Fortsetzung des hochmonopolistischen Kapitalismus. „Staatskapitalismus“ war für sie ein widersprüchlicher Begriff: Das System kann entweder kapitalistisch sein, was einen intakten Marktmechanismus, Konkurrenz und Profitmotiv bedeutet, oder aber der Staat ist Eigentümer der Produktionsmittel und damit das System nicht mehr kapitalistisch. Die Kapitalismus-These wurde jedoch differenziert vorgebracht. Betont wurde der Kompromißzwang zwischen Wirtschafts- und Parteifunktionären. Die Einheitlichkeit des „totalitärer Monopolkapitalismus“ genannten Systems wurde danach durch die chaotische Konkurrenz der Machteliten konstituiert. Der Begriff des „totalitären Monopolkapitalismus“ zielte „auf eine Strukturanalyse des Faschismus, in der politische und soziale Herrschaft nicht zusammenfielen und gleichwohl in dieselbe Richtung wirkten: in die der terroristischen Reintegration des Kapitalismus nach einer Krise“.[60]

Das Problem des Antisemitismus wurde in diesem Zusammenhang kaum erörtert. Die einzige explizite Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung geschah jedoch vor dem Hintergrund dieser politisch-ökonomischen Debatten. Horkheimers berühmter Aufsatz „Die Juden und Europa“ stammt bereits von 1939, datiert auf die ersten Septembertage, aber er folgt wesentlich Pollocks staatskapitalistischer Interpretationslinie.[61] Der Antisemitismus wird faschismustheoretischen Gesichtspunkten untergeordnet, die Lage der Juden wird wenig behandelt.

Das wird bereits aus den berühmten Sätzen der ersten Seite deutlich. „Wer den Antisemitismus erklären will, muß den Nationalsozialismus meinen“, lautet der erste Satz. Er korrespondiert einem anderem, wenn man bedenkt, daß Nationalsozialismus und „Faschismus“ synonym gebraucht wurden: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“. Tatsächlich drückt Horkheimer den Zusammenhang auch direkt aus: „Der neue Antisemitismus ist der Sendbote der totalitären Ordnung, zu der die liberalistische sich entwickelt hat. Es bedarf des Rückgangs auf die Tendenzen des Kapitals“.[62] Im Einklang mit dieser Eröffnung wird der Antisemitismus rein funktionalistisch diskutiert. Man muß jedoch bedenken, daß Horkheimers Ansichten zwar nach den Pogromen von 1938, aber vor Auschwitz schriftlich niedergelegt wurden.

„Der Liberalismus ist nicht wieder einzurichten“, erklärt Horkheimer, auch wenn er der Vorgänger der neuen totalitären Ordnung sei, der seine „Hemmungen verloren hat“.[63] Mit dem Schicksal der liberalen Wirtschaftsordnung sieht Horkheimer das der Juden verknüpft. „Die Sphäre, die für das Schicksal der Juden in doppelter Weise bestimmend war, als der Ort ihres Erwerbs und als das Fundament der bürgerlichen Demokratie: die Sphäre der Zirkulation verliert ihre ökonomische Bedeutung. Die berühmte Macht des Geldes ist im Schwinden begriffen“, denn mit der „zunehmenden Ausschaltung des Marktes fällt auch die Rolle des Geldes“ weg. Hier setzt für Horkheimer die entscheidende Funktion des Antisemitismus an: „Die Juden sind als Agenten der Zirkulation entmachtet, weil die moderne Struktur der Wirtschaft die ganze Sphäre weitgehend außer Kraft setzt. Sie werden als erste Opfer vom Diktat der Herrschenden getroffen, das die ausgefallene Funktion übernimmt.“[64]

„Der nationalsozialistische Plan, was von ihnen übrig bleibt, ins Lumpenproletariat hinabzustoßen“ – womit gemeint ist, die nicht emigrierten Juden auszuplündern und zu entrechten – zielt für Horkheimer darauf, die „bürgerliche Klassensolidarität“ mit den deutschen Juden in anderen Ländern zu untergraben: „Arme Juden sind weniger bedauernswert“. Während er den deutschen Arbeitern zugute hält, „den Pogromen mit Ekel zugesehen“ zu haben, unterstellt er selbst den Ländern, die jüdische Flüchtlinge aufnahmen, antisemitische Sympathien. Sogar den einheimischen Juden wirft er Gegnerschaft gegen die Eingewanderten vor, insbesondere gegen Ostjuden. Beides sei bedingt durch ökonomische Ängste.[65] Eine weitere wesentliche Funktion des Antisemitismus erkennt Horkheimer in seiner Propaganda- und Einschüchterungswirkung, auch für die Expansionspläne des Nationalsozialismus, die gerade auf die antisemitischen Sympathien in anderen Ländern setzten:

In der totalitären Ordnung wird der Antisemitismus ein natürliches Ende finden, wenn keine Humanität, aber vielleicht noch ein paar Juden übrig sind. Der Judenhaß gehört der Phase des faschistischen Aufstiegs an. Ein Ventil ist der Antisemitismus in Deutschland höchstens noch für die jüngeren Jahrgänge der SA. Der Bevölkerung gegenüber wird er als Einschüchterung gebraucht. Man zeigt, daß das System vor nichts zurückschreckt. Die Pogrome visieren politisch eher die Zuschauer. Ob sich etwa einer rührt. Zu holen ist nichts mehr. Die große antisemitische Propaganda wendet sich ans Ausland. [...] Die Grausamkeit, über die man sich entrüstet, weiß man insgeheim zu würdigen. In Kontinenten, von deren Ertrag die gesamte Menschheit sich ernähren könnte, fürchtet jeder Bettler, daß der jüdische Einwanderer ihn um seine Nahrung bringt.[66]

Horkheimer warnt darum die jüdischen Flüchtlinge, ihre Hoffnungen wie seit der Französischen Revolution vergebens auf die liberalen Ordnungen oder nun auf einen zweiten Weltkrieg zu setzen. Er wirf ihnen sogar vor, sich mit den „reaktionären“ Kräften des bürgerlichen Lagers verbündet und so Schuld auf sich geladen und die antisemitische Gemeinsamkeit der modernen Welt ignoriert zu haben. Hoffnung bleibt wenig, mit der Möglichkeit einer endlosen Dauer des „Faschismus“ wird gerechnet.[67] Zwar gesteht Horkheimer differenzierend zu, daß der Liberalismus „die Elemente einer besseren Gesellschaft enthielt. Das Gesetz besaß noch eine Allgemeinheit, die auch die Herrschenden betraf“.[68] Demgegenüber ist im Nationalsozialismus die „Anonymität in Planmäßigkeit übergegangen [...]. Im Führerstaat werden die, die leben und die sterben sollen, vorsätzlich designiert“.[69] Aber der historische Übergang vollzog sich fließend, die befreienden Potentiale der liberalen Ordnung wurden nicht ausgeschöpft.[70]

Die Interpretation des nationalsozialistischen Antisemitismus, die Horkheimer hier entwirft, ist rein funktionalistisch, von ökonomischem Reduktionismus gekennzeichnet. Eine eigenständige Bedeutung der antisemitischen Ideologie oder eine neue Qualität der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen wird nicht erkannt. Als Endpunkt der antijüdischen Politik kann sich Horkheimer eine völlige Vertreibung der Juden aus Deutschland und eine völlige Entrechtung der letzten in Deutschland verbliebenen Juden vorstellen, aber eine systematische Ermordung liegt für ihn wie für die Mehrheit seiner Zeitgenossen 1939 noch nicht im Bereich des Möglichen. Die Furcht vor der Ausbreitung „faschistischer“ Herrschaft durchzieht den Aufsatz. Horkheimers Prägung und Erfahrung erlaubte offensichtlich noch nicht, den Nationalsozialismus als spezifische Gefahr für die Juden zu erkennen. Er, der überhaupt erst durch das aufgezwungene Exil und den später bekanntgewordenen Massenmord sich als Jude zu definieren begann, sah den Nationalsozialismus vielmehr als eine generelle Bedrohung für die bürgerliche Gesellschaft an.

Man muß berücksichtigen, daß Horkheimer diese Zeilen vor Auschwitz schrieb, aus einem universalistischen und noch nicht aus einem jüdischen Selbstverständnis heraus. Dennoch waren seine teils metaphorischen Darstellungen der Juden historisch nicht haltbar. Die Unterstellung einer signifikanten Rolle – und eben nicht nur einer relevanten Anwesenheit – der Juden in der Zirkulationssphäre entsprach nicht den Tatsachen, sondern seinem Ökonomismus. Horkheimer identifiziert „gegen alle Empirie die Juden mit der Sphäre der Zirkulation schlechthin“. Auch theorieimmanent ist das nicht stichhaltig. Er neigt „zu der irrigen Auffassung, im Nationalsozialismus werde die Ökonomie zur Macht selbst. Dieser Fehlschluß unterläuft ihm deshalb, weil er Zirkulation, die Sphäre des Marktes, schlichtweg mit der kapitalistischen Ökonomie in eins setzt“. Außerdem erstaunt der „süffisante Tenor“, wonach die Juden an ihrem Schicksal nicht ganz schuldlos seien.[71] Hier wie auch in der Annahme, die Juden seien nicht als Juden gezielte Opfer des Nationalsozialismus, wird die marxistische, antikapitalistische Prägung Horkheimers besonders deutlich. Aber dies waren die historischen Bedingungen, unter denen sein Aufsatz entstand. Neumanns kurz darauf im „Behemoth“ entwickelte Deutung hält sich ebenfalls an funktionale Erklärungen des Antisemitismus, ist aber bereits mit dem Ausmaß der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik besser vertraut.

1.2. Franz Neumanns „Behemoth“ und die nationalsozialistische Judenverfolgung
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Franz Neumann (1900-1954) stammte aus einer stark von jüdischen Traditionen geprägten kleinbürgerlichen Familie in Kattowitz. Seine Herkunft unterschied sich von derjenigen des in einer jüdischen Traditionen weniger Beachtung schenkenden großbürgerlichen Berliner Familie aufgewachsenen Herbert Marcuse (1898-1979). Beide wurden im New Yorker Exil zu den engsten Freunden, sie gingen gemeinsam nach Washington in den Staatsdienst und blieben bis zu Neumanns frühem Tod durch einen Autounfall einander eng verbunden. Beide mußten bereits 1933 emigrieren. Der Philosoph Marcuse war gerade Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung geworden und fand in dessen Genfer Büro Aufnahme, bis er 1934 nach New York in die neue Hauptstelle des Instituts gelangte.

Der Jurist Neumann betrieb seit 1928 in Berlin eine Gemeinschaftskanzlei mit dem später im Exil ebenfalls als scharfsinnigem Analytiker des Nationalsozialismus hervorgetretenen Ernst Fraenkel. Beide avancierten zu den wichtigsten Anwälten der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Neumann wurde Syndikus der Baugewerkschaft und der SPD. Auch wissenschaftlich war Neumann tätig, er stand in Kontakt mit Carl Schmitt und dessen Schüler Otto Kirchheimer. Nach seiner kurzzeitigen Verhaftung und nach der Besetzung seiner Kanzlei durch die SA im Mai 1933 floh Neumann mit seiner Familie nach London. Dort setzte er zunächst die Arbeit für die SPD fort. Zugleich wurde ihm an der London School of Economics ein Studium der Politikwissenschaften ermöglicht, das er 1936 mit einer Promotion bei Harold Laski abschloß. 1936 ging Neumann in die USA, 1937 wurde er Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung, für das er bereits seit 1934 von London aus in juristischen Belangen gelegentlich tätig war. Er wurde hauptsächlich für juristisch-administrative Aufgaben eingesetzt, aber es blieb ihm Zeit, seit dem Sommer 1939 am „Behemoth“ zu arbeiten, den er im August 1941 abschloß und Anfang 1942 veröffentlichte. 1944 erschien eine erweiterte Fassung, als Neumann längst Mitarbeiter Washingtoner Regierungsstellen geworden war. Im Juli 1942 trat er dem Board of Economic Warfare (BEW) bei, im März 1943 wechselte er ins Office of Strategic Services (OSS).[72]

Der „Behemoth“, die bis dahin umfassendste Analyse der „Struktur und Praxis des Nationalsozialismus“, machte seinen Verfasser schlagartig in den USA bekannt. Neumann wurde lobend rezensiert und galt nun als der wichtigste Experte für den Nationalsozialismus, um dessen Mitarbeit sich Regierungsstellen bemühten.[73] Noch heute betrachtet die Forschung den „Behemoth“ als einen Meilenstein in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus, seine Analyse der NS-Wirtschaft gilt wichtigen Stimmen als „immer noch grundlegend“.[74] Das ist um so erstaunlicher, als Neumann zum damaligen Zeitpunkt nur öffentlich verfügbare Quellen zugänglich waren – deutsche Zeitungen, ökonomische Zeitschriften, statistische Jahrbücher und ähnliche Quellenbestände, mit denen er in den Bibliotheken des Instituts für Sozialforschung und der Columbia University arbeitete.[75]

Die Grundthese des „Behemoth“ besagt, das nationalsozialistische Regime sei ein formloses Gebilde, zugleich totalitärer Staat und totalitäre Bewegung.[76] Daher rührt die Bezeichnung „Behemoth“, die sich auf die jüdische Eschatologie und auf Hobbes stützt: Meint „Leviathan“ einen Staat, den Zustand eines „politischen Zwangssystems, in dem Reste der Herrschaft des Gesetzes und von individuellen Rechten noch bewahrt sind“, bezeichnet „Behemoth“ dagegen „einen Unstaat, ein Chaos, einen Zustand der Gesetzlosigkeit, des Aufruhrs und der Anarchie“.[77] Genau dazu entwickele sich der Nationalsozialismus, erklärt Neumann 1941 zu Anfang seines Werkes.[78]

Diese Struktur ist konstituiert durch die Konkurrenz von „vier festgefügten zentralisierten Gruppen, von denen jede nach dem Führerprinzip operiert und ihre eigene legislative, administrative und judikative Gewalt besitzt“[79] – NS-Apparat, Staatsbürokratie, Großindustrie und Wehrmacht. Diese Einschätzung wird 1944 korrigiert, weil sich mittlerweile im Krieg eine Machtverschiebung vollzogen hat: Die Ministerialbürokratie hat weitgehend ihren Einfluß verloren, während die NS-Führung ihre Macht ausgebaut hat. Der nationalsozialistische Block teilt sich nun laut Neumann in zwei Apparate, in die Partei und in den zunehmend dominierenden SS-Sicherheitsapparat. Wehrmacht und Großindustrie behalten Einfluß, auch wenn sie eine neue Rolle spielen. Es bleibt bei vier Machtzentren.[80] Neumann beobachtet diese Zusammenhänge besonders im Bereich der Wirtschaft. Er nennt das System wie erwähnt „totalitärer Monopolkapitalismus“.[81] Damit drückt er auch aus, daß die dominierenden Gruppen ihrer Konkurrenz zum Trotz in die gleiche Richtung streben. „Im Hinblick auf die imperialistische Expansion besitzen der Nationalsozialismus und das Großkapital identische Interessen.“[82] 1944 glaubt Neumann sogar eine zunehmende Verschmelzung der Gruppen zu „Praktikern der Gewalt“ zu erkennen[83] – also die „Tendenz zur Fusion ökonomischer und politischer Herrschaft“ in der letzten Kriegsphase.[84]

Diese Herrschaft dominierender Gruppen ist ein widersprüchliches System. Die Staatsgewalt ist einerseits einheitlich und absolut, man kann von einem „totalitären Staat“ sprechen.[85] Andererseits bauen die herrschenden Gruppen eigene, mit dem Staat konkurrierende und ihn zersetzende Souveränitäten auf – allen voran die Partei, die eine völlig autonome Stellung eingenommen hat.[86] Integriert wird dieses enorm labile System durch die charismatische Herrschaft des „Führers“.[87] In Anlehnung an Max Weber analysiert Neumann die Stellung des „Führers“ als das verbindende Glied, das durch seine charismatische Gestalt den Widerspruch zwischen den konkurrierenden Gruppen und divergierenden politischen Interessen verbirgt. Der „Führer“ ist die einzige Stelle, in der beide Ordnungen des Systems zusammenlaufen, Staat und Bewegung, deren Spitzen er gleichzeitig verkörpert. Hitler gilt den Seinen als „der oberste Führer“; „in seiner Person ist die Macht des Staates, des Volkes und der Bewegung vereint“.[88] Neumanns Untersuchung der Struktur der vier Herrschaftsgruppen kommt zu dem Schluß: „Tatsächlich gibt es außer der charismatischen Führergewalt keine Autorität, die jene vier Gewalten koordinieren und keine Stelle, wo der zwischen ihnen ausgehandelte Kompromiß auf eine allgemeingültige Grundlage gestellt werden könnte.“[89] In der Tat gilt Neumanns Analyse als die erste umfassende Ausarbeitung der bis heute von maßgeblichen Forschern vertretenen These von der polykratischen Natur des nationalsozialistischen Herrschaftssystems.[90]

Insgesamt widmet sich Neumanns Nationalsozialismusanalyse nur wenig der antijüdischen Politik und Ideologie des Regimes. Genauer besehen, haben die Maßnahmen gegen Juden jedoch eine große Bedeutung für Neumanns vorangehend zusammengefaßte Gesamtbeurteilung des Systems als „Unstaat“. Das gilt besonders für Neumanns Analyse des Rechtssystems im nationalsozialistischen Deutschland.[91] Die von Neumann hier entwickelte Rechtskonzeption sollte noch Einfluß auf die Planung der Nürnberger Prozesse haben. [92] Grundlage seiner Analyse ist ein qualifizierter Gesetzesbegriff, wonach voluntas und ratio, Form und Inhalt, ein Akt des Souveräns und eine vernünftige Norm ein Gesetz kennzeichnen müssen, damit es als Gesetz gelten kann. Für Neumann überwiegt in der Tradition der Aufklärung der normative Anspruch an das Gesetz, wohingegen der Wille des Souveräns als formales Kriterium nur von untergeordneter Bedeutung ist. Materiale und formale Elemente müssen verknüpft sein. Kern aller normativen Kriterien eines rationalen Gesetzesbegriffs ist die Allgemeinheit und Gleichheit des Gesetzes.[93]

Die gesamte Rechtstheorie des Nationalsozialismus leugnet jedoch die Allgemeinheit und Gleichheit des Gesetzes,[94] und auch die Rechtspraxis des Nationalsozialismus hat ein allgemeines, gleiches, rationales Gesetz beseitigt. Die Allgemeingültigkeit von Normen wie etwa das Grundrecht, das den einzelnen vor willkürlichen Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Freiheitssphäre des Individuums schützt, wurde abgeschafft. Anders als Ernst Fraenkel in seinem 1938 bereits abgeschlossenen Werk „Der Doppelstaat“[95] betont Neumann, daß der Nationalsozialismus „die Allgemeinheit des Gesetzes und mit ihr auch die Unabhängigkeit der Richter“ nicht nur punktuell, sondern systematisch und „vollkommen“ zerstört hat.[96]

An dessen Stelle ist eine Fülle antiegalitärer Einzelregelungen getreten. Der deutlichste Beweis dafür sind Neumann die Maßnahmen gegen Juden. Das Recht wird umfunktioniert zu einem Instrument der Bewahrung der Existenz des „Volkskörpers“. Es hebt nun „biologische Unterschiede“ hervor und negiert die rechtliche Gleichheit. „Getreu den Lehren des Rassenimperialismus“ wird das willkürliche deutsche Strafrecht sogar weit über die Grenzen Deutschlands hinaus ausgedehnt.[97] Bis ins Detail und so umfassend wie kein anderes in dieser Arbeit besprochenes Werk dokumentiert Neumanns „Behemoth“ die Maßnahmen gegen Juden, die zur völligen Entrechtung geführt haben.[98] Seit der Reichstagsbrandverordnung von 1933 vollzieht sich eine Transformation des Rechts, von dem nur noch „willkürlicher Dezisionismus“ übriggeblieben ist.[99] Das Resultat ist für Neumann eindeutig: Der Nationalsozialismus ist keine Rechtsordnung, sein System verdient nicht den Namen Recht – „das nationalsozialistische Rechtssystem ist nichts als eine Technik der Manipulation der Massen durch Terror“.[100]

Nicht zuletzt die rechtliche Analyse der antijüdischen Politik des deutschen Regimes veranlaßt Neumann also zu der zentralen These des „Behemoth“, der Nationalsozialismus sei ein „Unstaat“. Neumann setzt sich außerdem in einigen Teilen seines Werkes gezielt mit dem Antisemitismus und der Judenverfolgung in Deutschland auseinander.[101] Eine längere Untersuchung zum „Volkstum“ als Quelle der charismatischen Macht des Führers beschreibt, wie der Rassismus – und damit der Antisemitismus als „deutsche Form des Rassismus“ – den Nationalismus als herrschende Ideologie verdrängt hat. In einer historischen Abhandlung ergründet Neumann zunächst die Wurzeln dieses Prozesses. Er unterstreicht anfangs, daß die Mehrheit der Anthropologen weder überlegene noch unterlegene, noch überhaupt reine Rassen kenne. Grundsätzlich sieht er einen Zusammenhang von Rassismus und Minderheitenverfolgung, Ziel ist die Rechtfertigung von Ungleichheit. Nationsbegriff und Nationalismus zielten hingegen im Gefolge der Französischen Revolution auf die Einheit verschiedener Interessen von freien und gleichen Bürgern.[102]

Das Prinzip nationaler Souveränität hemmte bald die imperialistische Expansion. Rassenbiologische Ideologien dienten nun dazu, die Überlegenheit der Eroberer und die Rechtmäßigkeit der Expansion zu begründen. In der deutschen Geistesgeschichte entwickelte sich eine radikalere rassistische Haltung als in anderen Ländern, weil sich der deutsche Expansionsdrang gegen starke Staaten im Osten richtete und nicht auf schwache koloniale Gebiete erstreckte. Der Glaube an die Überlegenheit der „nordischen Rasse“ schließlich führte zu dem auch von Hitler anfangs vertretenen Gedanken, die beiden germanischen Völker Englands und Deutschlands seien zur gemeinsamen Weltherrschaft berufen. Der deutsche Rassismus war laut Neumann schon immer eng mit dem Antisemitismus verschlungen. Seit Luther entwickelte sich im deutschen Geistesleben eine aggressive antisemitische Haltung, die sich kulturell den Juden überlegen sah und zugleich eine jüdische „Weltverschwörung“ fürchtete. Nur die „Arbeiterbewegung blieb immun“ gegenüber der antisemitischen Ideologie, betont Neumann, einst Anwalt der deutschen Arbeiterbewegung.[103]

Nachdem er die Vorgeschichte skizziert hat, wendet sich Neumann der aktuellen Judenverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland zu. Es ist eine besondere Stärke des „Behemoth“, auch da, wo er theoretische Schwächen zeigt und zu funktionalistischen Erklärungen neigt, auf dichter empirischer Basis die antisemitische Natur des nationalsozialistischen Systems nachzuweisen. Der Mangel in der Interpretation wird so ausgeglichen durch die Dokumentation, die jedem Leser erlaubt, sich sein eigenes Bild zu machen. Ohnehin finden sich in Neumanns Analyse der Judenverfolgung auch einige wenig beachtete Elemente, die über eine rein funktionalistische Interpretation hinausgehen.

„Der Nationalsozialismus“, so steht für Neumann 1941 fest, „ist die erste antisemitische Bewegung, die die völlige Ausrottung der Juden verficht. Aber dieses Ziel ist nur Teil eines weitergehenden, als ‘Reinerhaltung des deutschen Blutes’ definierten Planes, in dem sich Barbarei und einige progressive Züge zu einem abstoßenden Ganzen verbinden.“[104] Der Antisemitismus wird im Rahmen eines umfassenderen rassistischen Programms gedeutet. Im Einklang damit stellt Neumann einen Zusammenhang zum „Euthanasie“-Programm her. Die „Exekution von etwa 50 000 Geisteskranken“ ist ihm bereits bekannt. Zum anderen sieht er eine Verbindung von Judenverfolgung und nationalsozialistischer Bevölkerungspolitik, die bereits zu grausamen Maßnahmen wie der Ermordung „nicht lebenstüchtiger“ Kinder geführt hat. Aufgrund dieser Analyse einer umfassenden rassistischen Politik zieht Neumann einen Vergleich zum sowjetisch-stalinistischen System: „In dieser Hinsicht besteht ein vollkommener Unterschied zwischen dem Nationalsozialismus und dem Bolschewismus. Das Privileg der Nazis ist nicht die Verfolgung politischer Gegner – sie wird in beiden Ländern ausgeübt – sondern die Ausrottung hilfloser Individuen“.[105]

Die antisemitische Zielrichtung dieser rassistischen Verfolgungspolitik belegt Neumann durch eine ausführliche Darstellung der antijüdischen Gesetzgebung im Deutschen Reich.[106] Er zeigt, wie jüdische Deutsche Schritt für Schritt entrechtet und aus Wirtschaft und öffentlichem Leben, schließlich von der Berufsausübung und ihrem Besitz ausgeschlossen wurden. Eingehend widmet er sich der „Arisierung“ jüdischen Vermögens, die durch Verträge, mit illegalen Methoden und durch Gesetze betrieben wurde. In diesem Zusammenhang und unter Verweis auf die hauptsächlichen Profiteure der Enteignungen in den Großunternehmen äußert Neumann eine funktionalistische Deutung der Maßnahmen, wonach „die wirtschaftliche Verfolgung der Juden ein bloßes Ablenkungsmanöver war, das den Anschlag auf den gesamten Mittelstand verschleiern sollte“.[107] Für Neumann besteht eine Interessenidentität zwischen dem antisemitischen Parteiapparat und der Großwirtschaft, die die wirtschaftliche Vernichtung der Juden vorantrieb. Auch die Pogrome im November 1938, die zu absurden wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen gegen die geschädigten Juden führten, sind in seinen Augen „Teil eines langgehegten Planes. Die Unzufriedenheit unter den kleinen Geschäftsleuten über ihre Hinausdrängung aus dem Wirtschaftsleben mußte abgelenkt werden.“[108] Derartige deutende Bemerkungen machen jedoch den geringsten Teil seiner Dokumentation aus. Neumann schließt seine Bestandsaufnahme der antijüdischen Maßnahmen mit den Worten: „So gehen Rassentrennung, politische Versklavung, wirtschaftliche Vernichtung und kulturelle Isolation Hand in Hand“.[109]

Einen Interpretationsversuch dieser Verfolgungsmaßnahmen nimmt die Darstellung der „Ideologie des Antisemitismus“ vor. Das schrittweise Vorgehen der Verfolger hat Neumann zufolge einen dreifachen Grund: Rücksichten auf die öffentliche Meinung im Ausland bis 1938 und auf ausländische Wirtschaftspartner zwangen dazu, der Verfolgung den Anschein der Legalität zu geben. Die wirtschaftlichen Maßnahmen gegen Juden waren ein Mittel der Beuteverteilung, wodurch eine Umverteilung des Vermögens zugunsten der das Regime unterstützenden führenden Wirtschafskreise stattfand. So wurde der politische Zusammenhalt des Systems gestärkt. Zuletzt spielten psychologische Faktoren eine Rolle – die „antikapitalistischen Sehnsüchte des deutschen Volkes“ wurden gestillt, indem das Regime seinen Willen und seine Macht zeigte, auch Privateigentum anzutasten und so die Hoffnung der Menschen auf künftige Verstaatlichungen an das Regime zu knüpfen. Das schrittweise Vorgehen erlaubte es, „fertig in der Schublade“ liegende antijüdische Pläne immer dann umzusetzen, wenn die „Volksmassen“ angespornt oder abgelenkt werden mußten.[110]

An dieser Stelle fällt auch Neumanns oft zitierte und besonders auf die Arbeiterschaft gemünzte Äußerung: „Nach meiner persönlichen Überzeugung ist das deutsche Volk, so paradox das auch scheinen mag, noch das am wenigsten antisemitische.“ Neumann begründet diese Aussage damit, daß trotz jahrelanger unaufhörlicher antisemitischer Propaganda keine einzige „spontane antijüdische Aktion von Personen, die nicht der NSDAP angehören“, nachzuweisen sei.[111]

Die antijüdischen Maßnahmen des Regimes, die Neumann „antisemitischen Terrorismus“ nennt, bedürfen seiner Ansicht nach allerdings einer differenzierten Erklärung. Zu diesem Zweck unterscheidet er totalitären und nicht-totalitären Antisemitismus. „Für den totalitären Antisemiten“ – und es wird durch die anschließende Beschreibung der absurden, irrationalen Maßnahmen des Regimes deutlich, daß Neumann als solche die Führungsebenen der Partei und des Sicherheitsapparates ansieht – „ist der Jude schon längst kein Mensch mehr. Er ist zur Inkarnation des Bösen in Deutschland, ja in der ganzen Welt geworden. Mit anderen Worten, der totalitäre Antisemitismus trägt magischen Charakter und entzieht sich jeder Diskussion.“[112] Diese Form des Antisemitismus entzieht sich auch jeder funktionalistischen Erklärung. Es wird selten beachtet, daß Neumann trotz des Übergewichts funktionaler Theorien eine solche Dimension des Antisemitismus kennt. Explizit führt er aus:

Freilich ist der Antisemitismus im heutigen Deutschland mehr als ein bloßes Mittel, dessen man sich bedient, solange es nötig ist, und das man fallen läßt, sobald es seinen Zweck erfüllt hat. Wir dürfen nicht vergessen, daß der Nationalsozialismus die deutsche Geschichte, ja sogar die Weltgeschichte im Sinne der Bekämpfung, Bloßstellung und Ausrottung des jüdischen Einflusses umschreibt. [...] Wie ernst der Nationalsozialismus die „wissenschaftliche Erforschung“ der Judenfrage nimmt, zeigt sich am Beispiel der Eröffnung des „Instituts zur Erforschung der Judenfrage“ [...][113]

Im nicht-totalitären Antisemitismus erkennt Neumann dagegen „Reste von Rationalität“, die ihn einer Analyse zugänglich machen. Es handelt sich um religiöse, ökonomische, politische und soziale Faktoren. Religiöser Antisemitismus ist für Neumann in Deutschland weitgehend inexistent. Die ökonomische Grundlage des Antisemitismus deutet Neumann ähnlich wie Horkheimer zuvor: Obwohl sie nur „Vermittler“ waren, galten die Juden vielen in der deutschen Bevölkerung, denen die dahinterstehenden Strukturen des nichtjüdischen Industrie- und Finanzkapitalismus verborgen blieben, als der „konkrete Ausdruck des Kapitalismus“, mit dem sie in ihrer alltäglichen Lebenswelt konfrontiert wurden. Die antikapitalistischen Sehnsüchte ebenso wie die Angst vor der modernen Welt und Kultur konzentrierten sich im Haß oder Ressentiment gegen die Juden.[114] Politisch wiederum sei der Antisemitismus als Ideologie dem deutschen Imperialismus dienstbar – etwa um die Freundschaft der arabischen Welt zu gewinnen.[115]

Den Kern seiner Antisemitismusdeutung legt Neumann im folgenden dar, wenn er selbst drei wesentliche Gründe für die antijüdische Politik im deutschen Machtbereich benennt: „Erstens sind Rassismus und Antisemitismus ein Ersatz für den Klassenkampf. Die offiziell etablierte, den Klassenkampf verdrängende Volksgemeinschaft benötigt ein integrierendes Element.“ Der „Jude“ wird zum Feind und Sündenbock gemacht. Im Kampf gegen ihn integriert sich die „arische Gesellschaft“. Neumanns Schlußfolgerung daraus wird häufig zitiert: „Dieser innenpolitische Wert des Antisemitismus läßt deshalb eine völlige Vernichtung der Juden niemals zu.“[116] Diese prognostischen Sätze von 1941, die auch 1944 nicht gestrichen wurden, verraten eine vom marxistischen Klassenkampfschema getrübte Wahrnehmung bei Neumann, der zwar die neue Qualität der Judenverfolgung in ihren Einzelheiten erkannte, aber bei einer vertrauten und rational zugänglichen Gesamtdeutung blieb.

„Zweitens bietet der Antisemitismus eine Rechtfertigung für die Expansion nach Osten.“ Die Rassentheorie erlaubt die „völlige Versklavung der im Osten lebenden Juden“. Eine Rassenhierarchie spielt die Minderheiten im Osten gegeneinander aus und schafft mit den Volksdeutschen und den Ukrainern bevorrechtigte Gruppen, auf die sich die deutsche Herrschaft im Osten stützen kann. Zuunterst stehen die Juden, die besonders zu leiden haben. „Ihr kulturelles, wirtschaftliches, rechtliches und politisches Getto ist, wie in Warschau und Krakau, Schritt für Schritt in ein physisches Getto verwandelt worden.“ Neumann nennt auch die Übernahme der deutschen „Judengesetze“ für Polen, den Arbeitszwang, das Tragen des gelben Sterns, die Konfiszierung des Vermögens.[117] „Drittens schließlich ist der Antisemitismus in Deutschland ein Ausdruck der Ablehnung des Christentums und all dessen, wofür es steht.“ Das ist für Neumann in diesem Zusammenhang die Idee der Gleichheit aller Menschen und das Prinzip der Demokratie. Antichristliche und antijüdische Motive verschmolzen mit darwinistischem Naturalismus, Nationalismus und moralischem Nihilismus zu einer Protestbewegung gegen die bürgerliche Zivilisation.[118]

In einem Nachtrag von 1944 verdichtet Neumann seine funktionale Interpretation des Antisemitismus zur sogenannten „Speerspitzentheorie“ des Antisemitismus.[119] Er skizziert kurz den Fortgang der antijüdischen Maßnahmen. Dann erklärt er, „die Verfolgung der Juden, wie sie vom Nationalsozialismus praktiziert wird“, sei „lediglich das Vorspiel zu noch vielen anderen, nicht weniger schrecklichen kommenden Dingen“. Neumann verweist auf Maßnahmen gegen Polen, Tschechen, Franzosen, antifaschistische Deutsche und viele weitere, die ebenfalls in „Konzentrationslager geworfen“ wurden und „unter das Beil des Henkers“ fielen. Daraus schließt Neumann unter Bezugnahme auf marxistische Kategorien:

Der Antisemitismus ist daher die Speerspitze des Terrors. Die Juden werden wie Versuchstiere benutzt, um die Methoden der Repression zu benutzen.
Aber wahrscheinlich nur die Juden können diese Rolle einnehmen. Denn der Nationalsozialismus, der angeblich den Klassenkampf beseitigt hat, benötigt einen Feind, der durch seine bloße Existenz die antagonistischen Gruppen in dieser Gesellschaft integrieren kann. Dieser Feind darf nicht allzu schwach sein. Wäre er zu schwach, könnte er in den Augen des Volkes nicht zum obersten Feind erklärt werden. Doch darf er auch nicht zu stark sein, denn sonst würden die Nazis ja in einen ernsten Kampf mit einem mächtigen Gegner verwickelt. Aus diesem Grund ist auch die katholische Kirche nicht in den Rang eines obersten Feindes erhoben worden. Aber die Juden erfüllen diese Rolle geradezu großartig.
Folglich stellt die Ausrottung der Juden in dieser antisemitischen Ideologie und Praxis nur ein Mittel dar, das schließliche Ziel zu erreichen, nämlich die Zerstörung freiheitlicher Institutionen, Meinungen und Gruppen. Dies könnte man als Speerspitzentheorie des Antisemitismus bezeichnen.[120]

Der Hauptzweck des Antisemitismus wird anschließend bei Neumann deutlich. Die Judenverfolgung diene als Speerspitze der nationalsozialistischen Repression, weil die „Gegensätze in der deutschen Gesellschaft [...] nur durch die allumfassende Terrormaschine verdeckt“ seien. Neumann protokolliert die „physische Ausrottung der Juden“, die „planvolle Ausrottung der Juden“, eine „konstante und folgerichtige Politik des Nationalsozialismus“. Doch die planvolle Ausrottungspolitik muß in seinen Augen eine letztlich funktionale Erklärung finden. Daß der Mord an den Juden ein Selbstzweck sein könnte, kommt ihm nicht in den Sinn. Die „Funktion des Antisemitismus“ aus Neumanns Sicht des Jahres 1944 besteht einerseits darin, eine totalitäre Gesellschaft zu erschaffen und die Reste liberaler Tradition zu zerstören. Der Antisemitismus dient als „Testfeld universaler terroristischer Methoden“, die sich gegen all jene richten, „die sich dem Nazisystem nicht voll und ganz unterworfen haben“. Andererseits binde die Vernichtungspolitik die Mehrzahl der Deutschen um so fester an das Regime, je mehr sie in die Verbrechen verstrickt seien:

Die auf Befehl der Nazis von immer breiteren Schichten des deutschen Volkes praktizierte Verfolgung der Juden verwickelt diese Schichten in eine kollektive Schuld. Die Teilnahme an einem so ungeheuren Verbrechen wie der Ausrottung der Ostjuden macht die deutsche Wehrmacht, das deutsche Beamtentum und die breite Masse zu Mittätern und Helfern dieses Verbrechens und macht es ihnen daher unmöglich, das Naziboot zu verlassen.[121]

Neumann erkennt, daß es sich bei der Verfolgung und Ermordung der Juden um ein „ungeheures Verbrechen“ handelt, aber er begreift nicht, daß dieses Verbrechen nicht mit funktionalen Theorien zu erklären ist. Er versteht den Antisemitismus nur als eine, wenn auch wesentliche Ausdrucksform des nationalsozialistischen Rassismus. Letztlich bestehe seine Funktion darin, die nationalsozialistische Herrschaft ideologisch zu sichern. Auch wenn Neumanns Wahrnehmung durch marxistische Schemata geprägt ist, auch wenn er dem Judenmord vergleichsweise wenige Seiten seines „Behemoth“ widmet, auch wenn er offensichtlich noch nicht das ganze Ausmaß der Verbrechen überschaut, bleibt doch zu konstatieren: Neumann ignoriert die Realität des Holocaust nicht. Neumann bezeichnet den Antisemitismus als Kern der nationalsozialistischen Ideologie, aber er übersieht, daß die Vernichtungspolitik in erster Linie einer antisemitischen Logik folgte. Er beschreibt zutreffend den Prozeß der zunehmenden Entrechtung und Mißhandlung von Juden. Der systematische Massenmord an den Juden wird ausdrücklich, aber nur beiläufig erwähnt. Insofern stehen in Neumanns „Behemoth“ die Dokumentation der Judenverfolgung und die theoretische Schwäche ihrer Interpretation in einem Spannungsverhältnis.

Um zu einer angemessenen Beurteilung von Neumanns Ansatz zu finden, um der Stellung des „Behemoth“ gerecht zu werden, sind die Überlegungen zu berücksichtigen, die Raul Hilberg nachträglich zum „Behemoth“ und zu Neumanns Haltung anstellte. Hilberg, der Pionier der Holocaust-Forschung und Schüler Neumanns an der Columbia University, bezeichnet den „Behemoth“ als einen „Meilenstein“,[122] und er betont die Bedeutung des „Behemoth“ für die Erforschung des nationalsozialistischen Systems. Neumanns Analyse vier konkurrierender Machtzentren eröffnete der Forschung erst den Weg zu einem komplexen Verständnis des Herrschaftssystems. Hilberg zufolge haben sich die wesentlichen Einsichten des „Behemoth“ in die Natur des nationalsozialistischen Regimes bis heute gehalten: die These vom „Unstaat“; das Fehlen einer einheitlichen Ideologie; die Zerstörung des Rechtssystems; die bürokratische Rationalität im einzelnen, während es eine Gesamtrationalität nicht gab. Neumanns Analyse war außerdem von entscheidendem Einfluß auf die grundsätzliche Konzeption der Nürnberger Prozesse und der daraus resultierenden umfänglichen Dokumentation der nationalsozialistischen Verbrechen.[123]

Von besonderem Gewicht für die Fragestellung dieser Arbeit sind Hilbergs Ausführungen, wonach erst die Herrschaftsanalyse des „Behemoth“ Hilbergs eigene Analyse der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik ermöglichte. Wesentliche Elemente von Hilbergs konzeptionellem Gerüst sind seinen Aussagen zufolge dem „Behemoth“ entnommen. Hilbergs Begriff der „Maschinerie der Vernichtung“ ist aus Neumanns Analyse abgeleitet, ebenso Hilbergs Kernthese, der Vernichtungsprozeß habe bürokratischen Charakter gehabt. Hilberg konnte die Verwicklung der vier von Neumann identifizierten Herrschaftseliten in die systematische Ermordung der Juden nachweisen. Neumann wies Hilberg auf wichtige Dokumente hin und er vermittelte Hilberg Kontakte mit Robert Kempner und Telford Taylor, die in den Nürnberger Prozessen eine wichtige Rolle gespielt hatten und die Neumann aus seiner Zeit im OSS kannte. Hilbergs Arbeit selbst beruhte im wesentlichen auf den Dokumenten der Nürnberger Prozesse. Neumann hatte direkt und indirekt wesentlichen Anteil an Hilbergs grundlegender Studie über die nationalsozialistische Vernichtungspolitik.[124]

Zwei biographische Details, die Hilberg überliefert, geben zudem vielleicht einen Hinweis darauf, wie Neumann persönlich den Holocaust wahrnahm. Neumann hatte bereits Hilbergs Magisterarbeit über die Rolle der deutschen Beamtenschaft im Vernichtungsprozeß betreut. Als 1950 Hilberg Neumann sein Vorhaben vortrug, eine umfassende Darstellung des Judenmords als Dissertation vorzulegen, nahm Neumann den Vorschlag an. Aber er warnte Hilberg vor einem solchen Projekt mit den Worten: „Das ist Ihr Begräbnis!“[125] Hilbergs Meinung zufolge spielte Neumann damit auf die mangelnden Berufsaussichten für jemanden an, der sich diesem Thema verschrieb – damals, als weder Öffentlichkeit noch akademische Welt mehr darüber wissen wollten, als man „zukunftsorientiert“ sein wollte.

Allerdings könnte Neumann auch die außerordentliche Schwierigkeit im Sinn gehabt haben, die es bereiten würde, die „ungeheuren Verbrechen“ adäquat darzustellen. Eine weitere biographische Reminiszenz könnte diese Vermutung plausibel erscheinen lassen. Als Hilberg 1950 seine Magisterarbeit „The Role of the German Civil Service in the Destruction of the Jews“ einreichte, war Neumann weitgehend zufrieden. An einer Stelle jedoch verlangte er Änderungen. Dort hatte Hilberg das Verhalten der Juden und die Rolle der Judenräte im Vernichtungsprozeß beschrieben. Neumann verlangte: „Das kann man nicht ertragen, das müssen sie herausnehmen“. Er gab keinen wissenschaftlichen Grund an und ließ sich auf keine Diskussion ein, 

sondern er reagierte einfach als Jude. Punktum. Das hatte nichts zu tun mit seiner Theorie, schon gar nichts mit seinem Marxismus. [...] Ich glaube, in diesem Punkt verhielt sich Neumann wie jeder andere dem Judentum tief verpflichtete Mensch, als der er auf den ersten Blick ja gar nicht erschien, der er aber doch war.[126]

Hilberg kommt zu dem abschließenden Urteil, Neumanns Analyse der Judenverfolgung erfasse korrekt die Einzelheiten des Vernichtungsprozesses, aber wegen seines marxistischen „bias“ konnte Neumann „dann der Tatsache doch nicht voll ins Auge schauen, daß das jüdische Volk als solches annihiliert wurde, und er war nicht bereit, den durch und durch bürokratischen Charakter dieses Vernichtungsprozesses anzuerkennen“.[127] Zugleich blieb der „Behemoth“ ein „unverzichtbares analytisches Werkzeug“ für Hilbergs eigene Erforschung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik.[128] In diesem Sinne läßt sich sagen, daß Hilbergs Werk „Die Vernichtung der europäischen Juden“[129] eine Fortsetzung derjenigen Teile des „Behemoth“ ist, in denen Neumann zu oberflächlich geblieben oder gescheitert ist.

Insgesamt bleibt festzuhalten, daß Neumann die Verfolgung und Ermordung der Juden im einzelnen deutlich wahrnahm. Seine Erklärungsversuche jedoch wurden den Nachrichten, die ihn erreichten, nur selten gerecht. Die Dimension der Verbrechen wird im „Behemoth“ nur angedeutet. Neumann setzte sein Wissen im „Behemoth“ nicht zu einem Gesamtbild der Vernichtungspolitik zusammen. Man muß dennoch die Darstellung der Judenverfolgung im „Behemoth“ differenzierter lesen, als es häufig geschehen ist. Und Neumann scheint persönlich geahnt zu haben, welch „ungeheure Verbrechen“ die Deutschen und ihre Verbündeten an den Juden verübten.

1.3. Antisemitismus und Genozid in der „Dialektik der Aufklärung“ [back to top]

Anders als Neumann legten Horkheimer und Adorno mit der 1944 vollendeten „Dialektik der Aufklärung“ keine empirische Studie über den Nationalsozialismus vor, sondern ein von den empirischen Vorgängen abstrahierendes philosophisches Werk. Dennoch bildet die Erfahrung des Nationalsozialismus und des Antisemitismus deutlich erkennbar den Hintergrund dieses Buches. Es entstand in intellektueller Kooperation zwischen Horkheimer, dem Direktor des Instituts für Sozialforschung, und Adorno, der sein Hauptmitarbeiter geworden war. Beide waren zwischenzeitlich von New York nach Kalifornien übergesiedelt. Die „Dialektik der Aufklärung“ wurde von beiden gemeinsam verfaßt. Die textkritische Forschung hat aber den Entstehungsprozeß rekonstruieren und den einzelnen Kapiteln die ursprünglichen Autoren zuordnen können. Das hier besonders relevante Kapitel „Elemente des Antisemitismus“ mit dem Untertitel „Grenzen der Aufklärung“ wurde demnach zuerst von Adorno unter Mitarbeit von Leo Löwenthal verfaßt. Die 1947 in der Druckfassung des Werkes den sechs zuvor entstandenen hinzugefügte siebte These des Kapitels stammt von Horkheimer.[130] Es liegen bereits einige historische Untersuchungen vor, die sich ausdrücklich mit der Deutung von Antisemitismus und Judenmord in der „Dialektik der Aufklärung“ auseinandersetzen.[131] Diesen Werken kann die vorliegende Arbeit nichts hinzufügen. Im Vorübergehen sollen nur einige fragmentarische Bemerkungen die Entwicklung andeuten, die die einst mit Marcuse und Neumann am Institut für Sozialforschung verbundenen Denker in diesen Jahren nahmen.

Die „Dialektik der Aufklärung“ ist ein Werk „unmittelbarer Zeitgenossenschaft zu Auschwitz“. In ihrem Grundzug wendet sie sich vom marxistischen Modell ab, das Geschichte als den Fortschritt gesellschaftlicher Freiheit ansieht. An die Stelle einer Teleologie des Fortschritts tritt die Dialektik von Fortschritt und Unterdrückung, von Aufklärung und Barbarei. Der mörderische Antisemitismus der Nationalsozialisten ist für Horkheimer und Adorno zwar das Resultat spezifischer historischer Bedingungen, aber er steht für ein allgemeineres Phänomen – für die Tendenz zur „Liquidation des abweichenden anderen“, die in allen modernen Gesellschaften vorhanden ist. Der Antisemitismus ist die sichtbare Barbarei inmitten des Fortschritts. Überwinden kann ihn erst eine Befreiung der Gesamtgesellschaft. Der Weg dorthin führt über die Selbstreflexion der Aufklärung – die Vernunft, die Aufklärung, der Fortschritt müssen sich ihres eigenen Unterdrückungspotentials bewußt werden und in diesem Bewußtsein auf eine allgemeine „Versöhnung“ hinarbeiten.[132]

Diese im einzelnen überaus komplexe und sich in dialektische Wendungen verschlingende Erklärung des Antisemitismus operiert auf verschiedenen Ebenen. Einerseits kennen Adorno, Horkheimer und Löwenthal so etwas wie Neumanns Speerspitzentheorie des Antisemitismus, wonach es die Arbeiter sind, „auf die es zuletzt freilich abgesehen ist“, und wonach die „hohen Auftraggeber“ die Juden „nicht hassen“, aber den Antisemitismus für ihre Zwecke einsetzen.[133] Wichtiger jedoch ist ein grundsätzlicher struktureller Defekt der menschlichen Gesellschaft, der zur Entstehung des Antisemitismus geführt hat. Grundlage dieser Deutungen ist die Psychoanalyse. Horkheimer und Adorno zufolge ist die Geschichte gekennzeichnet von Beherrschung und Unterdrückung. Jeder technische und wissenschaftliche Fortschritt verlangt, Vielfältiges und Verschiedenes starren Kategorien unterzuordnen und alles, was sich nicht in dieses Schema fügt, auszugrenzen oder zu zerstören. So kehrt die Barbarei und Gewalt, die anfangs die Natur über den primitiven Menschen ausübte, immer wieder zurück in der Gewalt, die nun die Menschen ihresgleichen, sich selbst – denn auch die Herrschenden müssen sich anpassen – und der Natur antun.[134]

Die historisch akute Form dieser Unterdückung ist der Antisemitismus, der den menschlichen „Drang nach Vernichtung“ zum „Ritual der Zivilisation“ erhebt.[135] Der Nationalsozialismus nutzt den Antisemitismus als herrschende Ideologie, weil er so die totale Kontrolle auch über die unkontrollierbaren Regungen seiner Untertanen erlangt: „Der Faschismus ist totalitär auch darin, daß er die Rebellion der unterdrückten Natur gegen die Herrschaft unmittelbar der Herrschaft nutzbar zu machen strebt. Dieser Mechanismus bedarf der Juden.“[136] Der Antisemitismus ist in dieser Deutung die Rache der Unterdrückten wegen des Sieges der Zivilisation über die Natur. Denn die Juden erscheinen bei Horkheimer und Adorno als Inbegriff der Zivilisation, als „Kolonisatoren des Fortschritts“.[137] Es gibt hier und auch andernorts in den „Elementen des Antisemitismus“ einige problematische Passagen, die den Juden eine Mitschuld daran zuzuschreiben scheinen, daß sie überhaupt Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit wurden, die dann in Verfolgung umschlug.[138]

Die tiefste Erklärungsebene begreift den Antisemitismus als ein pathologisches Phänomen – als den Ausfall der Reflexion im Urteilsprozeß. Die menschliche Wahrnehmung und Urteilskraft verfährt zwangsläufig projektiv, weil das Subjekt eine Einheit von innen und außen stiften muß. Der Antisemit jedoch verfällt in paranoische Selbst- und Weltzerstörung, er kontrolliert seine Projektionen nicht mehr. Ohne Halt an der Realität treibt er immer weiter, bis er zum „Terrorakt“ greift und zur „Ausrottung“ des anderen, der sich nicht in sein Wahnsystem einfügt.[139] Unter diesen Bedingungen kam es auch zur nationalsozialistischen Judenverfolgung. Horkheimer und Adorno meinen einerseits, es bleibe „dem von der Partei gelenkten Zufall überlassen“, gegen wen sich die Gewalt richte, andererseits jedoch seien die Juden „vorbestimmt“. Die Gründe dieser „Vorbestimmung“, die Juden als Opfer in den Blick der Verfolger rückt, sind vordergründig ökonomischer Natur – das Schwinden der von den Juden repräsentierten „Zirkulationssphäre“ sondert sie als leicht besiegbares Angriffsziel aus.[140] Auf einer viel tieferen psychischen Ebene ist die Verfolgung und Ermordung der Juden der Ausdruck eines urgeschichtlichen, aber immer unerfüllten und unterdrückten Verlangens nach Glück. Was die Juden scheinbar haben – tragen sie doch Züge „des Glückes ohne Macht, des Lohnes ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenzstein, der Religion ohne Mythos“ – wird ihnen zum Verhängnis. Der paranoische Antisemit, dem das Glück unerreichbar ist, weil er im Kreislauf von Herrschaft und Unterdrückung feststeckt, erreicht in seinem Haß die „Vereinigung mit dem Objekt, in der Zerstörung“.[141] Er kennt das Glück nicht, darum soll niemand es haben. „Daß einer Jude heißt“, wirkt auf Antisemiten „als die Aufforderung, ihn zuzurichten, bis er dem Bilde gleicht“ – dem abscheulichen und entmenschlichten Bild nämlich, das sich der Antisemitismus von den Juden macht.[142] Der Antisemitismus ist also in der dialektischen Deutung von Horkheimer und Adorno sowohl „Ritual der Zivilisation“ als auch die Zerstörung der Zivilisation. In einem Brief aus dieser Zeit entwickelt Horkheimer diesen Gedanken in besonderer Klarheit:

[...] wittingly or unwittingly, the Jews have become the martyrs of civilization. To protect them is no longer an issue involving any particular group interests. To protect the Jews has come to be a symbol of everything mankind stands for. Anti-Semitic persecution is the stigma of the present world whose injustice enters all its weight upon the Jews. Thus, the Jews have been made what the Nazis always pretended that they were, the focal point of world history. Their survival is inseparable from the survival of culture itself.[143]

Die „Dialektik der Aufklärung“ entwirft in vielfachen, dialektischen und teilweise paradoxen Wendungen eine facettenreiche Deutung des Antisemitismus, auf die hier nur stark verkürzt eingegangen werden konnte. Eine eigene umfangreiche Arbeit wäre für eine angmessene Untersuchung erforderlich. Ein funktionaler Interpretationsrahmen wird aufrechterhalten, der nun allerdings weniger ökonomisch als psychoanalytisch argumentiert. Zugleich ergründet diese Erklärung die Tiefenstruktur des Antisemitismus, in der nicht mehr zwischen Intentionen und Funktionen unterschieden werden kann, sondern die letzten Gründe des Antisemitismus deutlich werden. Wie immer man die Gültigkeit ihres Erklärungsversuchs beurteilt, Horkheimer und Adorno bewegen sich jedenfalls auf einer abstrakten Ebene, die die konkrete Erfahrung der Opfer des Holocaust kaum einbezieht und spezifische Schritte der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik nicht analysiert. Im weiteren geht es darum, unter welchen Bedingungen Marcuse als Zeitgenosse des Holocaust die Vernichtungspolitik wahrnahm und zu welchem Verständnis der Verbrechen er dabei gelangte.


2. Politische Rahmenbedingungen: Die Forschungsabteilung des OSS [back to contents]

Eine ganze Reihe von Mitarbeitern des Instituts für Sozialforschung trat während des Zweiten Weltkriegs in die Dienste der amerikanischen Regierung: Friedrich Pollock als Berater des Board of Economic Warfare (BEW), Leo Löwenthal als Mitarbeiter des Office of War Information (OWI), Otto Kirchheimer, Herbert Marcuse und Franz Neumann als Mitarbeiter des Office of Strategic Services (OSS) und später im Außenministerium, das die entsprechende Abteilung des nach Kriegsende aufgelösten OSS übernahm.[144] Unter diesen Rahmenbedingungen erfuhren Marcuse und Neumann von der Verfolgung und Ermordung der Juden. Zur Spannung von Theorie und Erfahrung, wie sie bereits im vorangehenden Kapitel deutlich wurde, trat nun die institutionell verankerte Spannung von Theorie und Praxis. Diese äußeren Umstände der Wahrnehmung des Holocaust werden im folgenden dargestellt.

2.1. Entstehung, Entwicklung und Struktur des OSS [back to contents]

Die Geschichte des OSS ist ein Klassiker der Geheimdienstgeschichte. Obwohl dieser erste zentrale Nachrichtendienst der USA nur für wenige Jahre bestand, um 1945 aufgelöst und 1947 von der CIA beerbt zu werden, hat er bis heute seine Faszinationskraft nicht eingebüßt. Beleg dafür sind zahlreiche wissenschaftliche Studien,[145] nicht zu reden vom mythischen Nachleben in einer unüberschaubaren Memoirenliteratur und in einigen Hollywood-Filmen.[146] Im OSS, so heißt es, fanden die Notwendigkeiten eines Geheimdienstes und der liberale Geist des „New Deal“ zueinander.[147] Die gesamte Literatur führt diese Besonderheit auf das unermüdliche Engagement von William J. Donovan (1883-1959) zurück, eines Weltkriegshelden und erfolgreichen Wall-Street-Anwalts, der dem Ostküsten-Establishment der Republikaner angehörte und über gute Verbindungen zum demokratischen Präsidenten Roosevelt verfügte. Donovan war offen für neue Ideen – nach Ansicht mancher sogar bis zur Sprunghaftigkeit allzu offen – und sorgte dafür, daß im OSS ein weitgehend unhierarchischer Geist herrschte. Darin unterschied sich das OSS von anderen Behörden.[148]

Der konservative Interventionist Donovan war bestrebt, im Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland und dessen japanische und italienische Verbündete jeden fähigen Kopf zur Verfügung zu haben, weshalb er gebürtige Amerikaner ebenso einstellte wie Emigranten aus feindlichen Staaten, konservative und antikommunistische Militärs, Beamte, Diplomaten, Industriebosse, Anwälte und Professoren ebenso wie liberale, linke und kommunistische Intellektuelle, Künstler und Wissenschaftler.[149] Wiederholt gerieten darum OSS und FBI in Konflikt, weil das FBI sogenannte „enemy aliens“ einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen mußte und außerdem bereits mit der Überwachung von Personen begonnen hatte, die kommunistischer Sympathien verdächtigt wurden.[150]

Traditionellerweise herrschte in den USA Mißtrauen gegenüber Geheimdiensten, deren Arbeitsweise als mit den Grundsätzen einer liberalen Demokratie nicht vereinbar galt. Während vielfältige Nachrichtendienste in den USA bei Bedarf in Kriegszeiten eingerichtet wurden, um anschließend wieder aufgelöst zu werden, markiert die Gründung des OSS einen Wendepunkt.[151] Seit 1939 sind Überlegungen dokumentiert, eine zentrale Geheimdienstbehörde einzurichten. Die treibende Kraft hinter diesen Plänen wurde bald Donovan.[152] Darin bestärkt hatten ihn Reisen, die er im Auftrag des Präsidenten nach England und in den Nahen Osten unternahm. Sie machten ihm das Ausmaß der Bedrohung Großbritanniens durch das nationalsozialistische Deutschland bewußt. Daraus zog Donovan früh den Schluß, daß Hitler und dessen Verbündete militärisch niedergerungen werden müßten.

Donovans Auftrag lautete insbesondere, sich über Geheimdiensttechniken zu informieren. Darin trafen sich seine persönlichen Neigungen für Spionage mit den militärischen Notwendigkeiten einer Nation, die noch nicht über einen eigenen übergeordneten Nachrichtendienst verfügte, sondern ausschließlich über kleine Geheimdienstabteilungen in den Streitkräften, im Außenministerium und in zahlreichen weiteren Behörden, die in ihren Aufgaben begrenzt waren und teilweise unprofessionell operierten. Auf seinen Reisen traf Donovan deshalb mit Vertretern der britischen Geheimdienste zusammen, die ihn umfassend über die eigene Tätigkeit informierten und ihm als Vertreter des amerikanischen Präsidenten, auf dessen Unterstützung im Krieg London hoffte, kaum ein Geheimnis vorenthielten.[153]

Von den Möglichkeiten und Notwendigkeiten des modernen Geheimdienstkrieges überzeugt kehrte Donovan nach Washington zurück. Er hoffte, mit Aufklärungs- und Propagandaarbeit, Spionage, Sabotage und Subversion alternative Formen des Kampfes zu entwickeln, die einen Krieg entscheiden oder zumindest abkürzen könnten. Da Donovan mit erheblichen deutschen Geheimdienstoperationen rechnete, wollte er außerdem den Feind mit dessen eigenen Waffen schlagen.[154] Für diese Idee setzte er sich nachdrücklich in Washington ein. Gegen die Widerstände der anderen Geheimdienststellen und das Mißtrauen der Politiker konnte er schließlich die Einrichtung des ersten zentralen Nachrichtendienstes in den USA erreichen.[155]

Am 11. Juli 1941 unterzeichnete Präsident Roosevelt den Befehl, der die Gründung einer Behörde namens Coordinator of Information (COI) vorsah und Donovan an dessen Spitze setzte. Die Aufgabenbereiche des COI blieben noch vage formuliert, doch war dessen Anspruch als Koordinationsstelle für geheimdienstliche Tätigkeiten deutlich zu erkennen. Auch eigenes Personal und ein eigenes Budget konnten aufgestellt werden.[156] Der COI etablierte sich und wuchs schnell an Mitarbeitern, doch interne Streitigkeiten führten bald zu seinem Ende. Die liberale Propagandaabteilung Foreign Information Service (FIS) unter Leitung des Dramatikers, Pulitzerpreisträgers und Roosevelt-Vertrauten Robert E. Sherwood wollte lediglich Informationsarbeit leisten, weil ihrer Ansicht nach Propaganda und Täuschung den Idealen des „New Deal“ widersprachen und unamerikanisch waren. Roosevelt löste den Streit schließlich, indem er am 13. Juni 1942 die Einrichtung zweier neuer Institutionen verfügte, des Office of War Information (OWI) mit Propaganda- und Informationsauftrag und des Office of Strategic Services (OSS).[157]

Donovan wurde wiederum zum Direktor des OSS bestellt. Für den neuen Dienst war die Beschaffung und Auswertung von Nachrichten und die Durchführung militärisch notwendiger Geheimoperationen vorgesehen. Das OSS wurde den Joint Chiefs of Staff (JCS), dem amerikanischen Generalstab, unterstellt und war damit eine militärische Dienststelle.[158] Donovan durfte zunächst wie im Ersten Weltkrieg die Rangbezeichnung Colonel (Oberst) führen. Er wurde 1943 zum Brigadegeneral befördert und stieg 1944 in den Rang eines Generalmajors auf. Zivile und militärische Mitarbeiter waren gleichermaßen im OSS beschäftigt.[159] Der militärische Befehl vom 22. Dezember 1942 etablierte das OSS endgültig im schwankenden Gefüge der Washingtoner Behördenrivalität, indem er dessen zentrale Rolle unter den Nachrichtendiensten festschrieb und die Bandbreite der Aufgaben ausführlich formulierte.[160]

Die komplexe Struktur des OSS sah vier zentrale Bereiche vor, kannte aber auch zahlreiche Sonderbereiche, die sich in diese Gliederung nicht einfügten. Die Koordination der Amtsgeschäfte übertrug der sich häufig auf Reisen befindliche Donovan seinem Stellvertreter, Assistant Director Edward Buxton. Ein zweiter Assistant Director stand zahlreichen Sonderabteilungen vor und hielt die Verbindung zu den Außenstellen des OSS und zu anderen Behörden aufrecht. Drei Deputy Directors leiteten die drei Hauptabteilungen: Strategic Services Operations (u.a. Propaganda, Sonder- und Sabotageoperationen), Administrative Services (u.a. Verwaltung und Finanzen), Intelligence (u.a. Spionage, Gegenspionage und Nachrichtenauswertung).[161] Außenstellen richtete das OSS nicht nur in den USA ein, sondern bald auch in allen strategisch wichtigen Regionen in Ostasien, im Nahen Osten, in Nordafrika und in Europa. Der größte Außenposten befand sich in London mit etwa 2000 Mitarbeitern im letzten Kriegsjahr.[162]

Dem Deputy Director of Intelligence waren fünf Abteilungen unterstellt, darunter zwei, die mit Geheimdienstoperationen im Sinne von Spionage und Sabotage nicht viel zu tun hatten. Der Foreign Nationalities Branch (FNB) war die Aufgabe zugewiesen, von den „foreign nationality groups“ in Amerika Nachrichten über deren Herkunftsländer zu beschaffen sowie als Anlaufstelle für politische Emigrantenkreise zu dienen und deren Einbeziehung in den Propagandakrieg zu planen.[163] Besondere Aufmerksamkeit genießt die Research and Analysis Branch (R&A), die Forschungsabteilung des OSS, die sich mit den besten Universitäten messen konnte und anfänglich über die meisten Mitarbeiter innerhalb des OSS verfügte.[164]

2.2. Die Research and Analysis Branch des OSS [back to contents]

R&A war die Stätte, an der sich akademische Gelehrsamkeit und die militärischen Anforderungen des Kriegs verbanden. OSS-Direktor Donovan war sich trotz seiner Vorliebe für geheime Aktionen von Anfang an im klaren darüber, daß R&A das Rückgrat seiner Behörde bilden würde. Alles Wissen kam hier zusammen und wurde zu nutzbaren Formen weiterverarbeitet.[165] Besonders Historiker, Geographen und Wirtschaftswissenschaftler wurden rekrutiert, zahlreiche weitere Disziplinen waren vertreten.[166] Nach Vorarbeiten von Archibald MacLeish, dem Leiter der Library of Congress, übernahm anfangs James P. Baxter III, Historiker und Präsident des Williams College, die Leitung von R&A. Unterstützt wurde Baxter von William L. Langer, einem auf europäische Außenpolitik spezialisierten Professor für Geschichte in Harvard, der ihn bald ablöste und während des gesamten Krieges R&A leitete.[167]

Die Aufgabe von R&A bestand darin, Nachrichten zu sammeln, auszuwerten und den politischen Entscheidungsträgern zugänglich zu machen.[168] Verfaßt wurden hauptsächlich umfassende Regionalstudien, Studien zu speziellen regionalen Problemen und Studien, die gezielt außenpolitischen oder kriegswichtigen Zwecken dienten.[169] Über den politischen Einfluß der R&A-Studien läßt sich oftmals nur spekulieren, doch kommt ihnen mehr als rein akademische Bedeutung zu. In einigen Fällen übten die Arbeit von R&A entscheidenden Einfluß aus.[170] Ihre Informationen bezog die Forschungsabteilung aus verschiedenen Quellen, von Kriegsbefangenenbefragungen bis zu durch Spionage gewonnenen Hinweisen, doch erwies sich die wissenschaftliche Untersuchung öffentlich verfügbarer Quellen in den meisten Fällen am effektivsten.[171]

Nach einer Übergangszeit war R&A in vier regionale Abteilungen gegliedert, Europe-Africa Division, USSR Division, Far East Division und Latin America Division. Sonderbeauftragte hielten Verbindung zu den R&A-Büros in den Außenstellen des OSS bzw. zu anderen Behörden und militärischen Stellen. Ein Komitee kümmerte sich um die Beschaffung auswärtiger Periodika, die Map Division war berühmt für ihren Reichtum an Landkarten, der Current Intelligence Staff verfaßte auf aktuellem Stand Nachrichtenzusammenfassungen, die über die Grenzen des OSS hinaus in Washington zirkulierten. Die Central Information Division schließlich verwaltete das Wissen – Bücher, Periodika und Millionen von Karteikarten.[172]

Die regionalen Divisionen unterstanden einem Chief und dessen Stellvertretern, im Falle der Europe-Africa Division Sherman Kent, einem bekannten Historiker und Professor in Yale. Ihm waren wiederum drei Unterabteilungen unterstellt, Political Subdivision, Geographic Subdivision und Economic Subdivision. Die Political Subdivision der Europe-Africa Division teilte sich in sieben regionale Sektionen, diese wiederum in einzelne Länderreferate. Für die vorliegende Arbeit von besonderer Bedeutung ist die Central European Section (CES), eine interdisziplinär arbeitende Truppe unter Leitung des Historikers Eugene N. Anderson, zu der auch der Bereich Deutschland und Österreich gehörte.[173] In CES versahen auch die ehemaligen Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung ihren Dienst im Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland – Otto Kirchheimer, Herbert Marcuse und Franz Neumann.

In den Worten des Princetoner Militärhistorikers Edward Mead Earle machte die Situation die „total academic mobilization“ notwendig.[174] Offensichtlich befolgten Baxter und Langer diese Maxime. R&A rief zuerst ein „old boys’ network“ von führenden Professoren zu den Waffen, die in der Anfangszeit das zentrale Board of Analysts bildeten und dann Verantwortung für einzelne Abteilungen übernahmen.[175] Diese konservativen Granden sorgten dafür, daß R&A zur Fortführung der Ivy League und anderer bedeutender Universitäten unter den Bedingungen des Krieges wurde, indem sie die mittlere Führungsebene mit eigenen Schülern besetzten. Etwa 40 Historiker fanden auf diese Weise ihren Weg in den Nachrichtendienst der USA, darunter auch nach dem Krieg so wichtige Vertreter der Zunft wie Gordon A. Craig, H. Stuart Hughes, Leonard Krieger, Arthur Schlesinger, Jr. und Carl Schorske. Insgesamt acht künftige Präsidenten der American Historical Association gingen aus R&A hervor, unter den Wirtschaftswissenschaftlern waren fünf künftige Präsidenten der American Economic Association und zwei künftige Nobelpreisträger.[176]

Die dritte Welle der Rekrutierung erfaßte emigrierte Wissenschaftler.[177] Unter ihnen waren die drei ehemaligen Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung. Neumann war als erster in Regierungsstellen und schließlich in das OSS eingetreten. Ihm eilte seit dem Erscheinen des „Behemoth“ der Ruf des führenden Experten für das nationalsozialistische Deutschland voraus.[178] Marcuse und Kirchheimer folgten.[179] Weitere Emigranten in CES waren der ehemalige Institutsmitarbeiter Arkadij Gurland, der Kunsthistoriker Richard Krautheimer sowie der Historiker Felix Gilbert.[180] Gilbert wurde später zum Professor am Institute for Advanced Study in Princeton berufen, der prestigeträchtigsten amerikanischen Wissenschaftsinstitution. Wie Gilbert war auch Hajo Holborn, ein weiterer Emigrant in Diensten des OSS, Schüler des Berliner Historikers Friedrich Meinecke. Holborn, der bereits eine Professur in Yale bekleidete, rangierte als Sonderbeauftragter des Direktors höher in der R&A-Hierarchie und koordinierte die Zusammenarbeit der Abteilung mit den Streitkräften.[181] Alle im OSS beschäftigten Emigranten waren den üblichen Anforderungen entsprechend bereits amerikanische Staatsbürger oder hatten zumindest seit einigen Jahren die Staatsbürgerschaft beantragt.[182]

Beschäftigte das OSS grundsätzlich Mitarbeiter unterschiedlicher politischer Auffassungen, so galt dies besonders für R&A. Von der obersten Führungsriege um William Langer abgesehen, galt R&A innerhalb des OSS als „hotbed of academic radicalism“, was auf die überwiegend sozialdemokratischen Sympathien sowohl der Emigranten wie auch der meisten gebürtigen Amerikaner in R&A anspielte.[183] In allen wichtigen deutschlandpolitischen Fragen waren sich die linken Emigranten und ihre amerikanischen Kollegen einig.[184] Selbst ein junger Wirtschaftswissenschaftler, der offenkundig als Stalinist galt, wurde eingestellt und problemlos in die Economic Subdivision integriert.[185] Insofern ist es korrekt, wenn bemerkt wird: „R&A spanned a political spectrum that ranged in hue literally from Stalinism to blue-blooded Republicanism“.[186]

Die geballte wissenschaftliche Kapazität, die sich in R&A eingefunden hatte, verleitet zu der Annahme, die Verdienste der Abteilung seien nur auf wissenschaftlichem Gebiet zu suchen. Während ein Historiker wie Barry Katz den Arbeiten der Emigranten die politische Relevanz abspricht,[187] betont er die Bedeutung von R&A für die Neuorientierung der Geistes- und Sozialwissenschaften an den amerikanischen Universitäten nach dem Zweiten Weltkrieg.[188] Unbestritten ist das Faktum, daß zahlreiche Entwicklungen auf den interdisziplinären Austausch, die wissenschaftspraktischen Erfahrungen und neue Arbeits- und Kooperationsformen in R&A zurückgehen. An erster Stelle zu nennen ist das Konzept der area studies, das nach dem Krieg zuerst und unter maßgeblicher Beteiligung von OSS-Veteranen wie William Langer, Alexander Inkeles und Barrington Moore, Jr. in der Sowjetologie realisiert wurde.[189]So richtig dieses Urteil ist, übersieht es doch, daß die große wissenschaftliche Bedeutung ein Nebenprodukt von R&A war.[190] Unter den Bedingungen des Krieges bearbeitete hier in einer von Offizieren und Diplomaten geleiteten Behörde eine Gemeinschaft von Wissenschaftler das, was von vorgesetzten Stellen zugewiesen wurde oder was diese Stellen interessieren konnte. Raum für eigene politische Initiativen bestand dabei nicht. Die Mitarbeiter von R&A hatten sich politischer Empfehlungen zu enthalten.[191] Die Konzentration galt dem Tagesgeschäft. Eintreffende Informationen waren zu sichten und in Auswahl und geordneter Form den eigenen Vorgesetzten und den anderen Behörden zuzuführen. R&A war eine Dienstleistungsbehörde. In diesem Rahmen leistete sie „einen Beitrag zur der in Washington geführten deutschlandpolitischen Diskussion“ – nicht mehr, aber auch nicht weniger.[192]Allerdings waren die wissenschaftlichen Analysen von R&A auf indirekte Weise von erheblicher politischer Bedeutung. Diese Bedeutung steigerte sich, je weniger politisch motiviert und je gründlicher und wissenschaftlicher die Analysen gearbeitet waren. Hatten sich die Ergebnisse von R&A als richtig herausgestellt, wurden sie auch von politischen und militärischen Entscheidungsträgern vermehrt berücksichtigt. Dieser Sachverhalt, der die Arbeit von R&A ständig begleitete, läßt sich in zwei Fällen besonders deutlich demonstrieren.[193]Aus heutiger Sicht war von Anfang an das Bild, das man sich im OSS „von der Struktur und Stärke des Deutschen Reiches machte, [...] bei weitem differenzierter und realistischer als das Deutschlandbild des State Department“, von anderen Behörden zu schweigen.[194] Das steigerte das Ansehen des OSS im allgemeinen und von R&A im besonderen. Folge war eine vermehrte Nachfrage nach R&A-Studien und eine Erweiterung des Abnehmerkreises.[195] Grund für das enorme deutschlandpolitische Expertenwissen von R&A war die Tatsache, daß hier amerikanische Deutschlandexperten, vor allem zahlreiche deutsche Emigranten wirkten, die ihre Kenntnisse einbringen konnten.An erster Stelle zu nennen ist Franz Neumann. Er galt in den Worten seines Vorgesetzten als der „recognized intellectual leader“ der CES.[196] Neumanns „Behemoth“ genoß den Ruf, die beste und gründlichste verfügbare Analyse des nationalsozialistischen Deutschland zu sein.[197] In R&A bildete der „Behemoth“ das Grundgerüst, auf dem alle Untersuchungen aufbauten. Felix Gilbert beschrieb den Status des „Behemoth“ innerhalb von R&A als „a kind of bible“.[198] Er diente den Deutschlandanalytikern als Kommunikationscode, seine Strukturanalyse des nationalsozialistischen Systems übernahmen fast alle R&A-Papiere, selbst der Wortlaut beeinflußte zahlreiche R&A-Studien.[199] Auf dieser Grundlage konnten sich amerikanische und emigrierte OSS-Mitarbeiter verständigen, zumal die Schlußfolgerungen des „Behemoth“ mit in Washington, besonders im State Department verbreiteten Ansichten übereinstimmten.[200] Das „deutschlandpolitische ‘Grundsatzprogramm’ der R&A-Branch“ war bereits auf den Seiten des „Behemoth“ prägnant formuliert.[201]Ein Resultat dieser weithin anerkannten Kompetenz war, daß R&A im Sommer 1943 einen Großauftrag von der Civil Affairs Division (CAD) des War Department erhielt. Insbesondere der CES fiel die gewaltige Aufgabe zu, im Rahmen eines umfassenden Programms für die künftige Militärregierung in Deutschland Hintergrundinformationen und praktische Ratschläge zu erarbeiten.[202] Beinahe die gesamte Arbeitsleistung der Abteilung war davon in Anspruch genommen. Umfassende Handbücher und etwa 80 Civil Affairs Guides, die den Offizieren vor Ort Empfehlungen geben sollten, waren zu erstellen.[203]Es war dieser Anteil von R&A an den Planungen für die künftige Militärregierung, der die Morgenthau-Kontroverse auslöste. Nach der Lektüre der sogenannten „SHAEF-Bible“, des „Handbook for Military Government in Germany“, das aus den siebzehn Bänden des „Civil Affairs Handbook Germany“ hervorgegangen war, intervenierte der Finanzminister beim Präsidenten. Er legte seinen Morgenthau-Plan vor, der Deutschland teilen und in einen Agrarstaat verwandeln sollte, um ein für allemal die von dort ausgehende Kriegsgefahr zu bannen. Die Empfehlungen des Handbuchs hielt Morgenthau für viel zu konstruktiv und darum gefährlich. Aus diesem Anlaß verfaßte er seine auf Bestrafung zielenden Vorstellungen.[204]Während das Handbuch für die Militärregierung daraufhin einer Revision unterzogen wurde, blieben die Civil Affairs Guides ununterbrochen gültig.[205] Diese jeweils etwa zwanzigseitigen Broschüren nahmen sich beinahe jeden Problems an, dem ein Military Government Officer begegnen konnte.[206] Zwar waren die Guides ausdrücklich auf die Funktion beschränkt, Hintergrundinformationen zur besseren Entscheidungsfindung zu liefern,[207] doch handelte es sich faktisch um politisch relevante Dokumente, die den Horizont und das Verhalten der Besatzungsoffiziere prägten und so auf einer praktischen Ebene zur Kontinuität der Besatzungspolitik im Sinne der deutschlandpolitischen Konzeptionen von R&A beitrugen.[208]

In einer weiteren Hinsicht war die in R&A geleistete Arbeit von kriegswichtiger Bedeutung. In diesem Fall hatten nicht die Emigranten, sondern die Wirtschaftswissenschaftler daran Anteil. Unter Leitung von Charles Kindleberger entwickelte in der Londoner Außenstelle des OSS eine halbautonome R&A-Gruppe, die eng mit der United States Strategic Air Force zusammenwirkte, eine Methode zur Analyse potentieller Bombenziele. Zu den Spezialitäten dieser Enemy Objectives Unit (EOU) gehörte es, die strategische Notwendigkeit gezielter Bombardierungen – statt der in der englischen Royal Air Force üblichen Flächenbombardements – nachzuweisen, aufgrund ökonomischer Daten die wirksamsten Ziele auszumachen und die Effizienz eines Angriffs präzise zu berechnen. Zumeist lag die EOU richtig mit ihren Einschätzungen, die sich in der englischen Luftwaffe allerdings nicht durchsetzen konnten.[209]

2.3. Wissensstrukturen und Arbeitsbedingungen in der R&A-Branch [back to contents]

Von besonderer Bedeutung für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit sind die Arbeitsstandards in R&A. Jede Studie mußte vorgeschriebenen Anforderungen entsprechen. Bevor diese Studien ihre Empfänger erreichten, gingen sie durch einen institutionellen Filter. Bereits im Juli 1942 wurde das Projects Committee eingerichtet, das über die Einhaltung der Standards wachte und jedes Dokument noch einmal inspizierte.[210] Vorgeschrieben war strikte „Objektivität“.[211] Politische Empfehlungen, ob offen oder subtil, waren verboten.[212] Insbesondere bei Auftragsarbeiten war streng darauf zu achten, daß die Studien nicht über die gestellten Erfordernisse hinausgingen und keine Eigeninitiativen entwickelten. Dem wurde im Rahmen des Civil Affairs-Programm, dessen Abnehmer, die Streitkräfte, für die Besatzungsoffiziere vor Ort verständliche Unterlagen erwarteten, verstärkt Rechnung getragen.[213]Die diesbezüglichen Vorschriften innerhalb von R&A waren umfassend und betrafen selbst stilistische Fragen. An die akademische Arbeitsweise gewöhnte Wissenschaftler mußten lernen, auf bruchstückhafter und provisorischer Datenbasis Einschätzungen vorzunehmen. Entscheidungen mußten getroffen werden, auch wenn nicht alle Informationen vorlagen. Darum erließ das Projects Committee Stilvorschriften, die kurze und klare Darstellungen verlangten – so verfaßt, daß politische oder militärische Entscheidungsträger mit wenig Zeit und wenig Sinn für philologische Feinheiten sich darauf stützen konnten. Selbst renommierte Wissenschaftler sahen sich auf „humbling manuals“ und „style sheets“ verwiesen, die ihnen einen klaren, knappen und präzisen Stil beibringen sollten.[214]

Die Aufgabe von R&A bestand eindeutig in der „collection, classification, and evaluation of raw material“ im Dienste der amerikanischen Außenpolitik.[215] Dazu trug zusätzlich der kollektive und interdisziplinäre Arbeitsprozeß bei. Als letzter Instanz blieb dem Projects Committee die Überarbeitung aller Dokumente vorbehalten. Bereits auf der Arbeitsebene ging jede Analyse durch mehrere Hände. Das diente nicht nur der Zusammenführung von Expertenwissen, sondern gewährleistete auch die gegenseitige Einhaltung der Objektivitätsstandards im Kollektiv.[216]

Kollektiv bedeutet jedoch nicht Anonymität.[217] In der Regel waren die Aufgaben kleinen Teams von Bearbeitern zugeteilt. Üblicherweise war ein Bearbeiter federführend.[218] Da nicht nur die vom Projects Committee weitergeleiteten Endprodukte, sondern in vielen Fällen auch frühere, unredigierte Entwürfe, Sitzungsberichte und Memoranden vorliegen, können durch sorgfältige Archivstudien und durch den Vergleich verschiedener Dokumente in den meisten Fällen die Namen der Autoren herausgefunden werden.[219]

Es bleibt also festzuhalten, daß sich die Arbeitsweise in R&A an den strategischen Notwendigkeiten des Kriegs ausrichtete.[220] Die Interessen der militärischen und politischen Auftraggeber, die begrenzte Informationslage, der institutionelle Filter des Projects Committee, der generelle Objektivitätsanspruch, die stilistischen Vorschriften, die internen Kommunikationscodes und die kollektive Zusammenarbeit in einem ungezwungenen, unhierarchischen, gleichwohl bürokratischen Apparat setzten den Rahmen, innerhalb dessen Marcuse und Neumann Nachrichten einschätzen, Empfehlungen aussprechen und ihren politischen Hoffnungen Ausdruck verleihen konnten. Diese Tatsache gilt es im Sinn zu behalten, wenn im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit der Blick auch auf die R&A-Analysen gerichtet wird, in denen bruchstückhaft oder ausdrücklich vom Mord an den europäischen Juden die Rede ist.


3. Herbert Marcuse und der Holocaust [back to contents]

Nach der knappen Darstellung der Diskussionen über den Nationalsozialismus am Institut für Sozialforschung sowie der Ansichten Adornos, Horkheimers und Neumanns zu Antisemitismus und nationalsozialistischer Judenpolitik gelangt diese Arbeit zu ihrem Hauptteil, der Erörterung des Beitrags von Herbert Marcuse. Dieser wird am ausführlichsten und eingehendsten erörtert, weil sich in Marcuses Schriften die Problemkonstellation der vorliegenden Arbeit am deutlichsten zeigt und weil die Forschung Marcuses Deutungen bisher nicht die gebührende Beachtung geschenkt hat. Dabei werden im folgenden Kapitel neben einer Betrachtung umfangreicherer Texte Marcuses aus den fraglichen Jahren auch R&A-Studien abgehandelt, die Marcuse, Neumann und andere während des Zweiten Weltkriegs im OSS verfaßten. Wie im vorangehenden Kapitel erläutert, hatte die Arbeitsatmosphäre im OSS starke Auswirkungen auf die dort von Marcuse und anderen als Gruppe verfaßten Studien. Sofern ehemalige Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung wie Marcuse und Neumann an deren Abfassung beteiligt waren oder die Studien zumindest im unmittelbaren Umfeld von Marcuse und Neumann entstanden, werden diese darum im folgenden in die Untersuchung einbezogen.[221]

3.1. Die Judenverfolgung in Marcuses Verständnis Anfang der vierziger Jahre [back to contents]

3.1.1. Freiheit und Terror: Ein Aufsatz von 1941

Marcuses theoretisches Verständnis des nationalsozialistischen Deutschland wurzelte im Begriff der „technologischen Rationalität“. Dieser Begriff hatte in den Debatten am Institut für Sozialforschung während der dreißiger und frühen vierziger Jahre Gestalt angenommen.[222] Marcuse entwickelte den Begriff für sich weiter und verlieh ihm eine eigene Prägung in einem Aufsatz, den er 1941 in der Institutszeitschrift „Studies in Philosophy and Social Science“ veröffentlichte, der kurzlebigen Nachfolgerin der berühmten „Zeitschrift für Sozialforschung“, betitelt „Some Social Implications of Modern Technology“.[223] Darin streift Marcuse auch Aspekte, die die Fragestellung der vorliegenden Arbeit betreffen, indem er den theoretischen Rahmen offenlegt, innerhalb dessen er die nationalsozialistische Judenverfolgung deutet.

Das Grundübel der technologischen Rationalität dient Marcuse als Ansatzpunkt. Er stellt eine Verbindung her zwischen dieser einseitigen Rationalität und der Unterdrückung, er deutet sie im Grunde als die zwei Seiten derselben Medaille. Die moderne Industriegesellschaft habe die Vernunft ihrer kritischen Funktion beraubt und auf die technologische, zweckorientierte, auf Effizienz ausgerichtete Funktion reduziert. Diesen zwangsläufigen Prozeß nutze der Nationalsozialismus aus, um seine Herrschaft zu stärken:

National Socialism is a striking example of the ways in which a highly rationalized and mechanized economy with the utmost efficiency in production can also operate in the interest of totalitarian oppression and continued scarcity. The Third Reich is indeed a form of “technocracy”: the technical considerations of imperialistic efficiency and rationality supersede the traditional standards of profitability and general welfare. In National Socialist Germany, the reign of terror is sustained not only by brute force which is foreign to technology but also by the ingenious manipulation of the power inherent in technology: the intensification of labor, propaganda, the training of youths and workers, the organization of the governmental, industrial and party bureaucracy – all of which constitute the daily implements of terror – follow the lines of greatest technological efficiency. This terroristic technocracy cannot be attributed to the exceptional requirements of “war economy”; war economy is rather the normal state of the National Socialist ordering of the social and economic process, and technology is one of the chief stimuli of this ordering.[224]

Rationalität erscheint hier als Instrument der totalen Herrschaft. Im Hintergrund steht deutlich Neumanns polykratische Interpretation des nationalsozialistischen Systems. Die drei bedeutendsten Machtblöcke – Partei, Regierung und Industrie – sind benannt, die Wehrmacht bleibt an dieser Stelle außen vor. Marcuse folgt seinem umfassenden Verständnis technologischer Rationalität und macht in erster Linie die Großindustrie für diesen die nationalsozialistische Herrschaft ermöglichenden gesellschaftlichen Prozeß verantwortlich.[225] Der Schwerpunkt des Aufsatzes liegt jedoch auf den Auswirkungen dieses Prozesses auf die deutsche Gesellschaft. Technologische Rationalität durchdringt Marcuse zufolge bereits die gesamte Bevölkerung. Deren Zusammenarbeit mit dem Regime erfolge als „highly rational compliance“ auf der Basis sachlicher, zweckorientierter Berechnung.[226]

Was man sich darunter vorzustellen hat, macht Marcuse an anderer Stelle anschaulich. Es sei effizienter, sich unterzuordnen, und darum könne die Diktatur gegenüber der deutschen Bevölkerung weitgehend auf Terror verzichten. Marcuse sieht im zweckgerichteten Konformismus der technologischen Rationalität und in der Verführungskraft von Wohlfahrtsstaat und Massenkultur Herrschaftsinstrumente, die weit wirkungsvoller als Terror sind.[227] Soweit folgt er zumeist den durch Neumann vertrauten Interpretationslinien, wenn man Marcuses besonderes Interesse für den gesellschaftlichen und kulturellen „Überbau“ berücksichtigt.[228]

Dieser funktionalen, das Ausmaß des Terrors unterschätzenden Deutung zum Trotz erkennt Marcuse Elemente, die sich einer vollständigen rationalen Kontrolle entziehen, und zwar auf einer sozialpsychologischen Ebene.[229] Marcuse entdeckt den Menschen, wie er sich in der Masse verhält.[230] „As a member of crowd, man has become the standardized subject of brute self-preservation. In the crowd, the restraint placed by society upon the competitive pursuit of self-interest tends to become ineffective and the aggressive impulses are easily released.“ Diesen psychologischen oder vielmehr anthropologischen Befund bezieht Marcuse nun auf die historische Situation in Deutschland und findet auf diese Weise den Weg zurück zur Herrschaft. Die aggressiven Impulse, die normalerweise von gesellschaftlichen Konventionen zurückgehalten würden, entwickelten sich „under the exigencies of scarcity and frustration“.[231]

Weil Mangel und Frustration andere Formen annehmen, aber nicht abnehmen, bleibt in Marcuses Sicht folglich das aggressive Potential erhalten, solange die industrialisierte, rationalisierte Gesellschaft besteht.[232] Die rationalisierte Herrschaft kann die Aggression für ihre Zwecke einsetzen. Genau das geschieht im nationalsozialistischen System. Ganz im Sinne der Herrschaftssicherung wird das aggressive Potential so kontrolliert und effizient wie möglich freigesetzt. Die Rationalisierung der Gesellschaft führt zur Standardisierung. Der Mensch wird zum Massenmenschen. Das nutzt die Herrschaft aus. Als Teil der Masse ist der einzelne der Kontrolle unterworfen. In der Masse eröffnet sich auch die Möglichkeit, im Kollektiv Regungen auszuleben, die ansonsten gesellschaftlich unterdrückt sind. Obwohl diese sich eigentlich rationaler Kontrolle entziehen, werden sie durch ihren gezielten Ausbruch manipulierbar.

Almost everyone has become a potential member of the crowd, and the masses belong to the daily implements of the social process. As such, they can easily be handled, for the thoughts, feelings, and interests of their members have been assimilated to the pattern of the apparatus. To be sure, their outbursts are terrifying and violent but these are readily directed against the weaker competitors and conspicuous „outsiders“ (Jews, foreigners, national minorities). The coordinated masses do not crave a new order, but a larger share in the prevailing one.[233]

Um an den Anfang anzuknüpfen: Auf allgemeinen Terror gegen die Bevölkerung kann nach Marcuse deshalb verzichtet werden, weil ein Teil der Bevölkerung für den Terror abgesondert wird. In Marcuses Deutung lenkt das Regime den Terror, doch es überläßt die Praxis des Terrors der Eigeninitiative der Bevölkerung, was diese wiederum, die sich davon Vorteile verspricht, enger an das Regime bindet.

Diese ersten Bemerkungen vermitteln ein unvollständiges und doch vielsagendes Bild von Marcuses Wahrnehmung der Judenverfolgung im Jahr 1941. Einige Fragen bleiben offen. Marcuses Begriff der technologischen Rationalität ist zweideutig. Er bezeichnet einerseits einen in der Moderne zwangsläufigen, ökonomisch bedingten gesellschaftlichen Prozeß, andererseits ein Herrschaftsinstrument. Aus den weiteren Bemerkungen läßt sich schließen, daß Marcuse der technologischen Rationalität eine Rolle sowohl in der Demokratie wie in der Diktatur, bei der Verbesserung der Lebensumstände wie bei der Versklavung des Menschen zuerkennt.

Marcuse nimmt angesichts dieser Alternativen eine eindeutige Position ein: „Under the terror that now threatens the world the ideal constricts itself to one single and at the same time common issue. Faced with Fascist barbarism, everyone knows what freedom means, and everyone is aware of the irrationality in the prevailing rationality“.[234] Der letzte Satzteil macht den Gesamtzusammenhang noch einmal deutlich. Am „Faschismus“ gewahrt der Beobachter die gefährliche Verbindung von Irrationalität und Rationalität, die jede hochindustrialisierte Gesellschaft kennzeichnet, auch die Demokratie. Damit wird auch Kritik an der Demokratie artikuliert.

Dennoch macht Marcuse einen Unterschied. Entscheidend ist offenbar das politische System. Die westliche, liberale Demokratie ist zwar durchgehend rationalisiert und somit manipulierbar, doch sie ist die Hüterin der Freiheit. Marcuse bezeichnet die liberale Demokratie sogar als Ideal, als die beste denkbare Ordnung unter den gegebenen Umständen. Der einstige Revolutionär und spätere Kritiker der amerikanischen Demokratie übernimmt an dieser Stelle das Selbstverständnis ebendieser Demokratie im Zeitalter des „New Deal“.[235] Das ist bedeutsam, weil es ganz offensichtlich die Untaten des nationalsozialistischen System, dessen „terror“ und „barbarism“ sind, die dieses Urteil begründen. Marcuse verschließt vor diesen Untaten nicht die Augen. Seine Erklärung für den Terror mag unvollständig sein, doch die Wahrnehmung des Terrors dient ihm als das entscheidende Argument in seinem Aufsatz. Marcuses weitere Schriften gelangen hier zu einem noch klareren Verständnis.

3.1.2. Die Herrschaftstechnik des Nationalsozialismus: Eine Vorlesung Ende 1941 [back to contents]

Ende des Jahres 1941 hielt Marcuse an der Columbia University eine Vorlesung im Rahmen einer Vorlesungsreihe über den Nationalsozialismus. Eine ausführlichere Fassung des Manuskripts, im Juni 1942 abgeschlossen und in einer Institutsschrift, die nie erscheinen sollte, zur Publikation vorgesehen, liegt vor: „State and Individual under National Socialism“.[236] Über weite Strecken folgt Marcuse darin der Interpretation des „Behemoth“,[237] der bereist auf der ersten Seite als Hauptquelle genannt ist. Deutlich wird dieser Einfluß an Sätzen wie dem folgenden: „[National Socialism] tends to abolish any separation between state and society by transferring the political functions to the social groups actually in power. In other words, National Socialism tends toward direct and immediate self-government by the prevailing social groups over the rest of the population.“[238]

Gleichzeitig setzt Marcuse eigene Akzente in der Interpretation des Nationalsozialismus, wenn er erklärt: „the old state bureaucracy and the top ranks in industry and finance have recognized a new master and new methods of government“.[239] Marcuses Sichtweise der nationalsozialistischen Polykratie verbindet gegensätzliche Anschauungen miteinander.[240] Der Staat tritt einmal auf als „executive organ of the imperialist economic interests“,[241] doch wird der Industrie insgesamt dann doch eine untergeordnete Rolle zugeschrieben: „The economic relations must therefore be transformed into political relations, economic expansion and domination must not only be supplemented, but superseded by political expansion and domination“.[242] Die beide Seiten vermittelnde Instanz ist Hitler. Trotz aller Rivalitäten zwischen den rivalisierenden Kräften besteht eine zumindest partielle Übereinstimmung der Interessen, die den offenen Ausbruch von Konflikten verhindert. Die

harmony is symbolized in the Leader. Ideologically, he is the embodiment of the German race, its infallible will and knowledge, and the seat of supreme sovereignty. In reality, however, he is the agency through which the diverging interests of the three ruling hierarchies are coordinated and asserted as national interests. He mediates between the competing forces; he is the locus of final compromise rather than sovereignty. His decision might be autonomous, particularly in minor matters, but he is still not free, not his own, but that of others. […] If they accept him as their common master and put up with all the restrictions which the regime places on their liberty, they do so because they know that he, in turn, will master the people, and the restrictions will ultimately be to their own benefit.[243]

Ohne auf Neumanns Deutung Begrifflichkeit ausdrücklich Bezug zu nehmen, erscheint Hitler hier als charismatische Führergestalt, die systemische Spannungen integriert.[244] Dieses Spannungsverhältnis ist bedeutsam, weil Marcuse in dieses Erklärungsmuster auch den nationalsozialistischen Terror einordnet. Auch der Terror ist sowohl zentral gesteuert als auch gesellschaftlichen Kräften überlassen: „it is not only that of the concentration camps, prisons and pogroms; it is not only the terror of lawlessness, but also the less conspicuous though no less efficient legalized terror of bureaucratization.“[245] Marcuse führt noch ein wenig genauer aus, wie der „terror of lawlessness“ von den politischen Stellen induziert wird und so der „Führer“ seine Aufgabe „master the people“ erfüllt.

Dabei tritt die Massenpsychologie Marcuses erneut hervor, wenn er erklärt, der Nationalsozialismus „manipulates the masses by unleashing the most brutal and selfish instincts of the individual“.[246] Wie man sich diese Manipulation vorzustellen hat, erläutert Marcuse für einen Bereich eingehender. Man könnte ihn in Anlehnung an einen späteren Begriff Marcuses als die nationalsozialistische Politik der repressiven Entsublimierung bezeichnen. Auf dem Wege der Abschaffung moralischer und politischer Tabus dringt die Politik in die Sphäre des Privaten ein.[247] Was wie eine sexuelle Befreiung aussieht, nennt Marcuse „the political utilization of sex“.[248] Diese beginnt bereits in den Jugendlagern und dient den Zwecken der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik, um den Bedarf an „man power“ zu stillen.[249] Ein zweites, tiefergehendes Ziel dieser Politik der Entsublimierung ist die „Gleichschaltung“ der Individuen.[250] Die gewährten Freiheiten binden an das System. „The abolition of sexual taboos tends to make this realm of satisfaction an official political domain.“[251] Über die Gewährung von Freiheiten werden die Menschen politisch gelenkt:

The individual is „socialized“ in the distorted sense that society itself takes over his oppressed and deteriorated instincts and interests and asserts them on an international scale. National Socialism makes them the interests of the nation and pursues them through conquest and war. […] The individual recognizes his private satisfaction as a patriotic service to the regime, and he receives his reward for performing it. […] The National Socialist abolition of taboo has a definitely repressive function.[252]

In mehrfacher Hinsicht kann diese Politik bei Marcuse als repressiv bezeichnet werden. Zum einen werden die kontrolliert freigesetzten Triebe für bevölkerungspolitische Zwecke manipuliert. Zum anderen bindet diese Politik die Bevölkerung an das System. Zum dritten ermöglicht das Zusammenspiel von repressiver Entsublimierung und nationalsozialistischer Ideologie, alle unkontrollierbaren und potentiell das System destabilisierenden Triebe umzulenken. Die nationalsozialistische Sexualpolitik, so Marcuse, fördere etwa antisemitische Pornographie, um das aggressive Potential auf ein Ziel zu lenken. Das gesamte Systemfunktioniere auf dieser Grundlage,

the National Socialist abolition of taboos is conditioned upon the simultaneous creation of new objects of humiliation and enslavement. The individuals can be released only insofar as they are at the same time elevated above social groups which are infinitely more fettered, helpless and unhappy than they are. Their liberators appeal to impulses which have tied the released individuals to social frustration and submissiveness: they appeal to resentment, envy, cruelty, hatred of the weaker fellow man. These impulses thrive only in an antagonistic social system, and by fostering them the regime perpetuates the prevailing system in the character structure of the individuals and turns their claims and protests from the executioners to their victims.[253]

Wer ist das Ziel dieses „shrewdly handled means for mass domination“? Laut Marcuse trifft es „groups of aliens and outsiders: Jews, foreigners, feeble-bodied and feeble-minded, ‘traitors’ and the insane.“[254] Aus dieser Sicht folgt zwar die Rassenpolitik des Nationalsozialismus allein zweckmäßigen Berechnungen. Interessant ist aber die Verknüpfung von Erziehung, Sexualpolitik und rassistischer Ideologie, die Marcuse herstellt. Auf diese Weise kann Marcuse zufolge das bevölkerungspolitische Ziel erreicht und die Identifikation der Bevölkerung mit dem System gefördert werden. Darüber hinaus ist die Sexualpolitik ein Instrument, um die Ideologie des Antisemitismus in den Köpfen oder vielmehr im Triebleben der Bevölkerung auszubreiten und auf diese Weise für das Regime gefährliche aggressive Regungen auf Juden und andere Minderheiten umzulenken.[255]

Ganz offensichtlich unterschätzt Marcuse insgesamt die Bedeutung der Ideologie im Nationalsozialismus. Eine rein funktionalistische Deutung des Antisemitismus durchzieht seine Ausführungen. Kurze Zeit später gewinnt Marcuse jedoch die Einsicht, daß die Ideologie des Nationalsozialismus nicht nur ein Instrument der Herrschaft ist, sondern auch ein Selbstzweck, wie im folgenden zu sehen ist.

3.1.3. Die neue deutsche Mentalität: Eine Untersuchung von 1942 [back to contents]

Im Juni 1942 verfaßte Marcuse seinen wichtigsten Beitrag zum zeitgenössischen Verständnis des Nationalsozialismus. „The New German Mentality“, so der Titel der Schrift, wurde als Memorandum offenbar noch Donovans Coordinator of Information (COI), dem Vorläufer des OSS, zugesandt. Marcuse verfolgte damit die Absicht, in Washington eine Stelle zu finden, zumindest Kontakte zu knüpfen. Als er im Dezember 1942 schließlich in die Dienste Office of War Information (OWI) trat, das ebenso wie das OSS im Juni 1942 aus dem COI hervorgegangen war, zirkulierte dieser Text anscheinend im OWI und wurde dort von Marcuse mit Anhängen zur psychologischen Kriegführung versehen.[256]

Daher stellt sich die quellenkritische Frage, ob Marcuse den Erwartungen seiner potentiellen Arbeitgeber entsprechen wollte und ob darum der folgende Text überhaupt seine Meinung wiedergibt. Marcuse baut jedoch eindeutig auf seinen früheren Schriften auf. Seine Gedankenführung steht, auch da, wo sie neue Elemente entwickelt, in deutlicher Kontinuität zu seinen bisherigen Ansichten. „The New German Mentality“ ist, den Adressaten der Schrift angemessen, zwar durchgehend auf die Notwendigkeiten psychologischer Kriegführung abgestimmt. Aber auch hier verläßt Marcuse nicht völlig die bisher gedachten Bahnen. Es sind seine Überlegungen. Die folgende Untersuchung kann allerdings den vielfältigen Themen von Marcuses Text nicht gerecht werden, weil hier die Frage im Mittelpunkt steht, wie der Zeitgenosse Marcuse auf Nachrichten über die antisemitische Ideologie und über die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus reagierte.

Das Leitmotiv des Aufsatzes besagt, die neue deutsche Mentalität unterscheide sich sowohl von der westlichen Zivilisation wie von der traditionellen deutschen Kultur. Die neue deutsche Mentalität sei selbst gespalten: auf der einen Seite die pragmatische Schicht – „matter-of-factness, the philosophy of efficiency and success, of mechanization and rationalization“ –, auf der anderen Seite die mythologische Schicht – „paganism, racism, social naturalism“.[257] Beide gehörten zueinander. Wie aber Marcuse sie in der für die Frankfurter Schule typischen dialektischen Vorgehensweise miteinander verknüpft, erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich.

Marcuse nennt die Gesinnung der „matter-of-factness“, der Sachlichkeit, „the very center of National Socialist mentality“.[258] Mit Sachlichkeit meint Marcuse allerdings nicht, die eine Seite der Medaille überwiege und der Nationalsozialismus sei im Grunde ein ausschließlich rationales System.[259] Der Kern, der alles zusammenhält, ist eine besondere Form der Sachlichkeit. Marcuse umschreibt sie im Einklang mit anderen Denkern am Institut für Sozialforschung wie Neumann und Adorno als „the rationalization of the irrational“.[260] Obgleich der Zweck des Textes als Memorandum zur psychologischen Kriegführung bedingt, daß diese Analyse nicht stringent ausgearbeitet wird, wird hier wie auch im folgenden eines deutlich: Marcuse bezeichnet mit „rationalization of the irrational“ ein Phänomen, das ein Historiker wie Ulrich Herbert unter dem Begriff der „Binnenrationalität“ eingehend untersucht hat.[261]

Innerhalb eines irrationalen Gesamtsystems wird demnach rational operiert. Eine unsichtbare Einheit verbindet in Marcuses Augen die irrationale, der Logik widersprechende Sprache der nationalsozialistischen Ideologie mit der rationalen Sprache von Verwaltung und Technik. Beide sind Ausdruck ein und derselben Mentalität. Deren innere Logik – ihre „Binnenrationalität“ – wird sichtbar an dem Sachverhalt, daß diese Mentalität verschiedene Sprachen spricht, abhängig vom Kontext, ohne sich zu ändern. Den Zusammenhang stiftet in letzter Konsequenz, und darin besteht der neue Aspekt in Marcuses Sichtweise, die Ideologie des Regimes, die jedem Zeichen eine neue Bedeutung zuweist – „a new singular content, determined exclusively by their National Socialist utilization“.[262]

Ausgehend von dieser Erkenntnis, die sich auf linguistische Untersuchungen der dreißiger Jahre stützt, entwickelt Marcuse ein dialektisches Verständnis der nationalsozialistischen Ideologie, das die funktionale und die essentielle Dimension der Ideologie gleichermaßen erfaßt. Mit diesem analytischen Ansatz geht Marcuse an einigen Stellen über den Neumannschen Ansatz hinaus, der erwartungsgemäß dennoch weite Teile des Memorandums durchzieht. Als entscheidende Hilfe zu diesem Verständnis erweist sich für Marcuse das Konzept der „technischen Sprache“.

Every technical language, however, presupposes a „supra-technical“ language community from which it draws its force and appeal, otherwise it could not serve as an all-embracing medium of intersubjective understanding. This language community is chiefly one of sentiments, emotions, subjective desires and impulses. The National Socialist language possesses its supra-technical language community in the mythological layer of the German mentality, and particularly in that complex of ideas, impulses and instincts which constitutes the reservoir for the German protest against Christian civilization. But this complex is mobilized for the pragmatic goals of National Socialism and placed in the service of the technical rationality which guides the efforts to attain these goals. In transforming the mythological and metaphysical elements of the German mentality into instruments of totalitarian control and conquest, National Socialism destroys their mythological and metaphysical content. Their value becomes an exclusively operational one: they are made parts of the technique of domination. The apparently irrational philosophy of National Socialism actually represents the end of „German metaphysics“, its liquidation by the totalitarian technical rationality.[263]

Marcuses Gedankengang an dieser Stelle ist ein wenig kompliziert, und man sollte sich nicht von der Textoberfläche irreführen lassen, die den vertrauten Spuren des „Behemoth“ zu folgen scheint. Darum muß dieser Gedankengang ausführlich nachvollzogen werden. Auf den ersten Blick stellt Marcuse den Nationalsozialismus als vollkommen rationalisierte Diktatur dar. Ideologie dient ihr lediglich als Herrschaftsinstrument. Eine solche Interpretation der zitierten Passage verfehlt allerdings die Grundlage von Marcuses Ansatz. Das entscheidende Wort, von dem alles andere abhängt, steht am Anfang und lautet „presupposes“. Der Nationalsozialismus wäre überhaupt nicht in der Lage, die technologische Rationalität zu gebrauchen und zu mißbrauchen, wenn es nicht die „supra-technical language community“ gäbe. Die Möglichkeit einer technisch-rationalen Sprache, derer sich Eingeweihte bedienen, setzt eine „metaphysische“ Sprachgemeinschaft voraus. Um Ideologie zu Herrschaftszwecken funktionalisieren zu können, muß es erst einmal eine eigenwertige Ideologie geben, die funktionalisiert werden kann. Die technische Verwendung der Ideologie kann diese ja nicht ex nihilo erschaffen, sondern sie benötigt die bereits verbreitete und geglaubte Ideologie, eine Ideologie als Selbstzweck – deren wesentliches Element der Antisemitismus ist.

Man muß hier sehr vorsichtig argumentieren, um Mißverständnisse zu vermeiden. Marcuses Analyse ist zweideutig, er verzichtet nicht auf funktionalistisch-instrumentelle Elemente. Aber daß er überhaupt zweigleisig fährt, ist die Besonderheit seiner bisher einseitigen, theoriefesten Interpretation der nationalsozialistischen Ideologie. Germanenkitsch, Gewaltverherrlichung, Todeskult, Naturalismus und Antisemitismus sind gleichzeitig ein Instrument der Herrschaft und eine Voraussetzung dieser Herrschaft. Beide Seiten stehen in einer dialektischen Beziehung. Der offiziell verkündete Mythos ist echt, nicht nur Täuschung oder Manipulation. Was gesagt wird, wird auch geglaubt und von den Massen übernommen, weil der Mensch in eine metaphysische, „supra-technical“ Gemeinschaft eingebunden sein will, die von der Ideologie gestiftet wird.[264] Genau diese anthropologische Funktion kann aber eben auch politisch instrumentalisiert werden. Marcuses Verknüpfung der beiden Ebenen ist überaus originell. Die verbreitete Ideologie wird durch ihren politischen Einsatz noch wirkungsvoller im Sinne des Regimes. Was bereits vorhanden ist, wird ausgebeutet und in seiner Effizienz gesteigert. Darin liegt für Marcuse die Binnenrationalität des nationalsozialistischen Systems, die Rationalisierung des Irrationalen. Ohne auf einen funktionalistischen Interpretationsrahmen zu verzichten, zeigt Marcuse ideologische Elemente an, die sich der Funktionalisierung entziehen, weil sie dieser vorausgehen und deren Voraussetzung darstellen.

Es ist dieser Prozeß der Rationalisierung des Irrationalen, der es möglich macht, auf der Grundlage einer Gesamtirrationalität rational geplante Verbrechen zu begehen. Auch wenn der Verweis auf die sprachlich erzeugte ideologische Gemeinschaft sein origineller Beitrag zu diesem Thema ist, steht Marcuse mit dieser Ansicht unter den Denkern am Institut für Sozialforschung nicht allein. Einige Ansätze der neueren Forschung würden ihnen beipflichten, indem sie den Zusammenhang von Rationalität und Irrationalität für die nationalsozialistischen Vernichtungspolitik nachweisen. Der Prozeß der Rationalisierung des Irrationalen im nationalsozialistischen System markiert den Höhepunkt der „Vergesellschaftung der Gewalt“, von der die industrialisierten Gesellschaften seit dem Ersten Weltkrieg erfaßt wurden.[265] Marcuse fügt ausdrücklich Beobachtungen zum Vernichtungskrieg in Osteuropa bei. Den Gesetzen der Binnenrationalität gehorchend, bedient sich die nationalsozialistische Irrationalität auch hier rationaler Planung, um ihre Ziele zu erreichen. Mit sicherem Blick nimmt Marcuse in sein Memorandum Nachrichten von der Ostfront auf, die von der Brutalisierung der Kriegführung und von der Gewöhnung an das Töten berichten, von Abstumpfung und davon, daß Töten zur Unterhaltung wird. Die deutschen Soldaten, von denen Marcuse erfährt, sind gleichzeitig Teil einer Mordmaschinerie und selbständig Handelnde. Sie müssen töten und sie wollen töten.[266]

Einerseits dient also das Irrationale der Rationalisierung und Scheinlegitimierung eines rational funktionierenden, aber insgesamt irrationalen Apparates, andererseits ist das Irrationale Selbstzweck und entwickelt eine Eigendynamik. In dieser dialektischen Verschränkung erkennt Marcuse die Tiefenstruktur des nationalsozialistischen Herrschaftssystems: „The rationalization of the irrational (in which the latter preserves its force but lends it to the process of rationalization), this constant interplay between mythology and technology, ‘nature’ and mechanization, metaphysics and matter-of-factness, ‘soul’ and efficiency is the very center of the National Socialist mentality.“[267]

Im Juni 1942 niedergeschrieben, verraten diese Sätze ein für einen Zeitgenossen erstaunlich differenziertes Urteil über die Rolle der Ideologie im Nationalsozialismus, und sie werden teilweise auch von Marcuse selbst in Bezug gesetzt zu den Nachrichten von deutschen Kriegsverbrechen und der Judenverfolgung. Obwohl Marcuses Ansatz weiterer Ausführung bedürfte, obwohl er immer wieder auf vertraute, aber kurzsichtige Konzepte zurückgreift, obwohl manche Schwäche bleibt, kann man insofern dennoch sagen, daß „The New German Mentality“ eine wichtige Erweiterung der ideologiekritischen Teile des „Behemoth“ sei. Von besonderer Bedeutung sind außerdem die zahlreichen und dicht dokumentierten empirischen Befunde.

Über die grundsätzliche Interpretation der nationalsozialistischen antisemitischen Ideologie, über die Einsicht in die Binnenrationalität des nationalsozialistischen Universums hinaus gibt es einige Textstellen, die sich ausdrücklich der Gewalt gegen Juden und andere Opfer der nationalsozialistischen Politik zuwenden. Die nationalsozialistische Ideologie konnte sich auch darum so leicht ausbreiten, so Marcuse, weil sie einem Grundzug des „German character“ entgegenkam.[268] Damit meint Marcuse explizit keinen biologisch vererbten Charakter, sondern ein spezifisches Denk- und Gefühlsmuster, das sich im Laufe der deutschen Geschichte ausgebildet habe. An diese psychische Tiefenstruktur appelliere der Nationalsozialismus in dem Versuch, eine Massenbewegung zu mobilisieren, die sich aus tiefinnerer Ablehnung der christlichen Zivilisation speise.

Weil jedoch die einmal mobilisierten Massen und die herrschenden Gruppen keine wirklichen gemeinsamen Interessen haben, entstehe im nationalsozialistischen System zunehmend innerer, gesellschaftlicher Druck. Um diesen Druck der enttäuschten Massen von sich selbst abzuwenden, um ihn aus dem System zu nehmen, werde dieser von den Herrschenden auf ideologisch ausgesonderte Opfergruppen gelenkt:

Motivated by the desire to relieve the pressure of injustice and frustration, it is quickly diverted against other foes. For example, National Socialism incited the masses to fight against the Jews and the „capitalist plutocrats“, but the extermination of the Jews and the decline of „finance capital“ served to strengthen the hold of those industrial groups which were already predominant in German society.[269]

Allen tiefschürfenderen Interpretationen zum Trotz kehrt Marcuse hier – und nicht nur hier – zu einer rein funktionalistischen Theorie des Unterdrückungsapparates zurück. Neumanns Speerspitzentheorie bildet offensichtlich den Hintergrund dieser Aussage.[270] Wenn Marcuse einerseits die komplexe Rolle der Ideologie im System des Nationalsozialismus zu begreifen begann, warum kam er dann andererseits nicht über die Speerspitzentheorie hinaus, wenn es um die Beurteilung konkreter Verbrechen ging? Standen Theorie und Erfahrung bei ihm im Gegensatz? Oder verstand er, was es bedeutete, von der „extermination of the Jews“ zu schreiben?

Manche Widersprüche lassen sich nicht auflösen. Aber die Beobachtungen zum Vernichtungskrieg im Osten können als Indiz dafür gelten, daß Marcuse auch in der Einordnung konkreter Schreckensnachrichten gelegentlich die einseitig funktionalistische Theorie überwand. Ein letztes Zitat deutet darauf hin, daß er zumindest zu ahnen anfing, welche Dimension die „extermination of the Jews“ annahm. Zu Zwecken der psychologischen Kriegführung überlegt er, ob eine Darstellung der Verbrechen in Kunstwerken den alliierten Kriegszielen dienen könne. Er kommt zu dem Schluß, daß politisch glaubwürdig einsetzbare Kunst das Brechtsche Kriterium der Verfremdung erfüllen müsse. Genau das aber sei im Falle der Untaten unmöglich. Zwar spricht Marcuse hier nicht ausdrücklich von jüdischen, aber allgemein von Opfern des nationalsozialistischen Terrors. Inmitten dieser politisch-ästhetischen Erwägungen spürt er, daß sich deren unfaßliches Leid jeder Darstellung entzieht:

To fulfill this function [der „Verfremdung“], the work of art must be alien to the reality which it indicts, alien to such an extent that it cannot be reconciled with reality, but at the same time, it must appeal to those who suffer from the reality and speak their undistorted language. Today, the „political“ work of art must illuminate at one stroke the absolute incompatibility of the prevailing reality with the hopes and potentialities of men. […] The power of art to serve as an anti-Fascist weapon depends on the strength with which it speaks the truth, unconditionally and without compromise. This simple fact implies a fundamental change in the form structure of art. Art can no longer „depict“ reality, for the latter has passed beyond the reaches of adequate „aesthetic“ representation. The terror as well as the sufferings of those who resist it is greater than the force of artistic imagination. […] The whole truth on this world can be told only in a language not loaded with the reconciliatory hopes and promises of culture, or, in a language which contains these hopes and promises in precisely that satanic form in which National Socialism has realized them.[271]

3.2. Die Wahrnehmung des Judenmords durch Marcuse und sein Umfeld im OSS [back to contents]

Im März 1943 trat Marcuse in die Dienste des OSS. Seit Dezember 1942 war er bereits im OWI beschäftigt. Als Mitarbeiter der R&A-Branch des OSS erwarb sich Marcuse in den Worten seines Vorgesetzten den Ruf als „the leading analyst on Germany“ innerhalb der Central European Section (CES).[272] Die interdisziplinären Arbeitsbedingungen dort wurden bereits ausführlich dargestellt. Franz Neumann war der führende Intellektuelle, sein „Behemoth“ bot den zahlreichen Deutschlandanalysen eine theoretische und empirische Grundlage. Die Sprache des „Behemoth“ diente in CES als Kommunikationscode. Außerdem war den stilistischen Vorschriften Rechnung zu tragen. Verlangt waren Objektivität, Zweckmäßigkeit und politische Zurückhaltung.[273]

Alle diese Studien hatten vorgegebenen politischen Zwecken zu dienen, von der Hintergrundinformation über Wirtschaftsstrukturen bis zur Empfehlung für den künftigen Besatzungsoffizier. So verwundert es nicht, daß nur sehr wenige R&A-Analysen den Mord an den Juden nennen. Dennoch findet die Vernichtungspolitik immer wieder Erwähnung, direkt oder indirekt. Die Zahl der Dokumente, auf die dieser Sachverhalt zutrifft, ist begrenzt. Wie begrenzt, läßt sich im Rahmen dieser Arbeit nicht ermitteln. Das ist eine methodische Einschränkung des folgenden Abschnitts, auf die der Leser hingewiesen werden muß. Würde man die Dokumenten in den Washingtoner National Archives umfassend sichten, könnte man womöglich auf weitere Spuren von Nachrichten über den Holocaust stoßen. Doch die vorliegende Arbeit muß sich auf das berufen, was andere dort bereits entdeckt haben. Allerdings handelt es sich dabei um eine so zentrale Frage, daß Historiker wie Barry Katz oder Petra Marquardt-Bigman mit großer Wahrscheinlichkeit die wichtigsten einschlägigen R&A-Analysen berücksichtigt haben. Es bleibt nichts anderes übrig, als von der wissenschaftlichen Sorgfalt der führenden Forscher auf diesem Gebiet auszugehen und so viele verschiedene Stimmen wie möglich zu vergleichen.[274] Einige der Dokumente liegen außerdem in Quelleneditionen vor.[275] Soweit Quellen zur Verfügung stehen, werden sie behandelt, unabhängig davon, ob sie direkt Marcuse oder Neumann zuzuschreiben sind oder in deren Umfeld in der CES entstanden.[276]

Bereits vom 14. März 1942, also vor dem Eintritt der Emigranten in das OSS, datiert ein Bericht, in dem beobachtet wird: „the pattern of German violence includes the systematic extermination of the Jews“.[277] Franz Neumann wird in den relevanten Dokumenten zum erstenmal im Mai 1943 sichtbar, als er in der wöchentlichen R&A-Nachrichtenzusammenfassung erklärt, die „complete liquidation of the Warsaw ghetto“ sei „the most recent stage in the long process of the extermination of the Jews“. Explizit wird die Speerspitzentheorie vertreten, wonach Verfolgung und Vernichtung der Juden als Auftakt zu allgemeineren Terrormaßnahmen gedeutet werden. „Measures against the Jews are always the ‘spearhead’ for general oppression“; sie seien „the domestic testing ground for universal terrorist methods directed against all groups and institutions that are not fully subservient to the Nazi system“.[278] Ein Stimmungsbericht mit dem Titel „German Morale After Tunisia“, ein im Juni 1943 offenbar von Neumann verfaßtes Papier, erörtert ebenfalls rein funktionalistisch die Bedeutung des Antisemitismus für die nationalsozialistischen Herrschaftsmechanismen. Es steht im Einklang mit der Theorie des „Behemoth“.

For years, anti-Semitism has served the purpose of forcing all Germans either to identify themselves with Nazi-ism or pay the price of dissent. The recent stepping up of anti-Semitism, in connection with the general terroristic campaign against all home front dissidents […] is in large part a campaign to renew the national act of faith: Germans must again decide between accepting the guilt of the regime or openly resisting it, and the act of acceptance increases the widespread conviction that all Germans must stand or fall with Adolf Hitler.[279]

Aus dem Oktober 1943, als Marcuse seine Tätigkeit im OSS aufnahm, ist ein von Leonard Krieger gezeichnetes R&A-Papier überliefert, betitelt „Germany and Denmark – The Danish Jews“.[280] Wie andere relevante Papiere aus der zweiten Hälfte des Jahres 1943 und der ersten Hälfte des Jahres 1944 verrät es deutlich den Einfluß von Neumanns Speerspitzentheorie.[281] Anlaß des Berichts ist die Ankunft Eichmanns in Dänemark, um die Deportationsbefehle durchzusetzen. Kriegers Einschätzung lautet: „the Danish pogrom is the beginning of the final campaign to rid Europe of the Jews“. Krieger ist dennoch nicht in der Lage, die „exploitation of the Jewish question“, von der er berichtet, anders als eine Maßnahme zu anderen politischen Zwecken zu deuten. Ihm kommt nicht in den Sinn, daß Deportation und Ermordung der Juden ein Ziel an sich für die Nationalsozialisten sein könnten. Die Deportation der Juden erklärt Krieger als Speerspitze einer allgemeinen Unterdrückungspolitik: „the Germans have seized on the Jewish danger as a wedge for further penetration of Danish civil life“. Dieser Versuch, den Schreckensnachrichten einen Sinn zu geben, verläßt nicht den von Neumann gesetzten Horizont rationaler und herrschaftstechnischer Erklärungen. Eine besondere Qualität der Judenverfolgung, die sie von anderen Verfolgungsmaßnahmen unterscheidet, wird nicht erkannt.[282]

Weitere Nachrichten über die nationalsozialistischen Verbrechen finden sich in Berichten aus dem Herbst 1943. Felix Gilbert verfaßte einen Bulletinbeitrag, von dem Katz nur den Titel mitteilt: „Mass Murder of Russian Jews by the Wehrmacht“.[283] Samuel Sharp, einer der Polen-Experten von R&A, schätzte im November die Zahl der seit Kriegsbeginn getöteten Juden auf drei Millionen, davon etwas mehr als die Hälfte allein in Polen. Zugleich äußerte Sharp seinen Zweifel an diesen Zahlen. Er hielt sie für etwas übertrieben, denn: „it had been difficult to believe that even the Nazis could apply such methods of mass extermination“. Die Urheber der Vernichtungspolitik wurden von Sharp eindeutig identifiziert: „the orders to exterminate the Polish Jews can be traced all the way up to Himmler and Hitler“.[284] In den Rahmen einer Dokumentation über die deutsche Politik in den besetzten Gebieten gehört ein Beitrag über die antijüdischen Maßnahmen bis hin zur Vernichtungspolitik in Polen. Darin wurde eine Radikalisierung vom Entzug der Rechte über die Segregation bis zur Deportation in Ghettos beobachtet. Auch der nächste Schritt wird beschrieben:

In the latter part of 1942, however, and during 1943, the ghettos were largely liquidated and their inhabitants partly executed, partly allowed to die under harsh conditions, and partly sent away for forced labor. As a result of Nazi policy of the past four years, the Jewish population originally resident in the area of the General Government, totaling some one three-quarters million people, has been cut down to less than 15 per cent of its former size.[285]

Ein Großteil der Arbeit der CES galt danach der Vorbereitung der Besatzungspolitik. Darunter fällt auch eine besondere Aufgabe, die Marcuse am 22. Juli 1944 abschloß, nämlich der Besatzungsoffizieren mitgegebene Civil Affairs Guide „Dissolution of the Nazi Party and Its Affiliated Organizations“.[286] Auch wenn dieser Guide nicht die Verbrechen des Nationalsozialismus dokumentiert, zeigt er dennoch die Bandbreite der Verbrechen, die man sich in R&A vorstellen konnte. Eine unveröffentlichte Liste schließt sich an, auf der 222 000 hauptverantwortliche Personen zur Verhaftung vorgesehen wurden. Das war eine enorme Zahl. Marcuses Vorschläge entsprachen dem auf Neumann zurückgehenden Systemverständnis. Nicht die Ideologie, sondern das System des Nationalsozialismus sollte vorrangig zertrümmert werden. Die Personenliste wurde später von höheren Stellen abgeändert.[287] Zwei der zweiunddreißig Verantwortungskategorien beziehen sich auf Kriegsverbrechen. Zur Gruppe der „aktiven Nazis“ rechnete man unter anderem jeden, der an der Verhaftung oder Denunzierung von politischen Gegnern des Nationalsozialismus mitwirkte, jeden, der an der Ausübung von Gewalt gegen politische oder religiöse Gegner des Systems, gegen deutsche und ausländische Arbeiter, gegen Juden und Kriegsgefangene beteiligt war, und jeden, der von „Arisierungen“, der Ausbeutung der besetzten Gebiete und der Konfiszierung des Eigentums von Juden oder Gegnern des Nationalsozialismus profitierte. Der Völkermord an den Juden findet keine ausdrückliche Erwähnung.[288]

In diesen Zusammenhang gehört auch ein „Military Government and Problems with Respect to the Jews of Germany“ bezeichneter Civil Affairs Guide, der im institutionellen Umfeld von Marcuse und Neumann entstand.[289] Diese ganz auf die Nachkriegssituation ausgerichtete Empfehlung für Besatzungsoffiziere vermeidet eine eingehendere Auseinandersetzung mit der Vernichtungspolitik. Aufgrund des Ausmaßes der erlittenen Verfolgung seien Juden in Deutschland besonders hilfsbedürftig, heißt es einerseits. Andererseits werden die Besatzungsoffiziere darauf hingewiesen, daß Hilfe nur auf der Basis von Bedürftigkeit geleistet werde. Darum sollte der Eindruck vermieden werden, „that the Jews are to be singled out for special treatment“, was hier eine Vorzugsbehandlung bei der Nahrungsmittelvergabe und bei sonstigen Hilfsleistungen meint. „Jews should receive the same treatment as other groups persecuted by the Nazis“, heißt es darum, hinsichtlich Nahrungsmittelvergaben sogar: „Jews should be treated in the same way as other German citizens in need of special rations“. Eine bevorzugte Behandlung von Juden würde dagegen „the distinctions of Nazi racial theory“ fortsetzen. Nach dem Urteil von Marquardt-Bigman, die das gesamte Papier untersuchen konnte, folgt die Gleichbehandlung aller Opfer nationalsozialistischer Verfolgung hier jedoch in erster Linie aus der Auffassung, die Judenverfolgung habe sich qualitativ nicht von anderen Terrormaßnahmen des Nationalsozialismus unterschieden.[290] Ähnliche, persönlich nicht zugeordnete Beurteilungen aus dieser Zeit lassen sich hinzufügen.[291]

Am 15. November 1944 klassifizierte Marcuse in dem Bericht „Some Criteria for the Identification of Anti-Nazis in Germany“ den Widerstand gegen den Nationalsozialismus.[292] In Übereinstimmung mit den im Juli desselben Jahres entwickelten Kriterien erkennt Marcuse als „aktive Anti-Nazis“ nur Personen an, die sich dem Nationalsozialismus in seiner Gesamtheit entgegensetzten. Als solche galten, wer politischer Gefangener war, an Widerstandsakten teilnahm, wegen bekanntermaßen antinationalsozialistischer Gesinnung seinen Arbeitsplatz verloren hatte, in der Öffentlichkeit den Nationalsozialismus kritisierte oder den Opfern und Verfolgten des Regimes Hilfe bot. Nur über die Hintertür wird hier ein Blick auf den Völkermord geworfen. Die Analyse des Widerstands kommt ohne jeden Bezug zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik aus. Ob Nachrichten vom Massenmord ehemalige Anhänger des Regimes zum Widerstand bewogen haben könnten, wird nicht einmal erwogen. Im Vergleich zu anderen untersuchten R&A-Studien ist Marcuses Einschätzung hier besonders stark ideologisch-theoretisch geprägt. Wesentliche Elemente der realen Vorgänge entgehen dadurch seiner Aufmerksamkeit.[293] Allerdings muß in Rechnung gestellt werden, daß Marcuses Kriterien auf bürokratische Vorgaben zurückgehen könnten, die sich vorrangig an juristischen Kriterien orientierten.[294]

3.2.1. Das OSS und die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse [back to contents]

Vom Herbst 1944 an verlagerte sich der Schwerpunkt der Aktivitäten von Marcuse, Neumann und anderen CES-Mitarbeitern. Standen bisher die Planungen für die Militärregierung im Vordergrund, nahm nun die Vorbereitung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse immer größeren Raum in ihrer Arbeit ein.[295] Während zuvor galt, daß das OSS nicht für Dokumentation oder Geschichtsschreibung, sondern für die Bereitstellung strategischen Wissens zuständig war,[296] wurden nun einige Mitarbeiter ausdrücklich mit der Dokumentation der nationalsozialistischen Verbrechen beauftragt.[297] Bereits Ende Oktober 1943 hatte angesichts der kurz zuvor angelaufenen Planungen im Justizministerium Präsident Roosevelt bei OSS-Direktor Donovan angefragt, ob und inwieweit man sich im OSS mit der Frage der Kriegsverbrechen beschäftigt habe. Donovan verwies auf Vorarbeiten des OSS und übersandte dem Präsidenten eine Denkschrift, die dieser an den Außenminister weiterleitete.[298]

Doch erst als sich ab 1944 das War Department mit der Frage beschäftigte, begannen umfangreichere Vorbereitungen, auch im OSS. Im War Department schlug man einen Hauptprozeß vor gegen führende Nationalsozialisten, die der Verschwörung sowie der Begründung und Leitung krimineller Vereinigungen angeklagt werden sollten. Dieser juristische Ansatz war zwar nicht unumstritten, und er erfuhr noch einige Modifikationen.[299] Aber im wesentlichen blieb es bei den im Vorfeld der Konferenz von Yalta vom War Department ausgearbeiteten Vorschlägen.[300] Präsident Truman billigte diese Vorschläge als Richtlinie für die amerikanische Politik hinsichtlich künftiger Prozesse gegen Hauptkriegsverbrecher. Anfang Mai 1945 bestellte Truman den Richter am Obersten Bundesgericht der Vereinigten Staaten, Robert H. Jackson, zum Hauptankläger.[301]

Jackson wiederum verpflichtete den im Zivilberuf erfolgreichen Anwalt Donovan als Mitglied der Anklagevertretung. Dadurch gewann er auch die Dienste des OSS für die Vorbereitung der Kriegsverbrecherprozesse.[302] Besondere Bedeutung fiel dabei Franz Neumann zu. Als Leiter der für Deutschland und Österreich zuständigen Abteilung in der CES unterstanden ihm die Vorbereitungen der Prozesse gegen deutsche Kriegsverbrecher in der Washingtoner Zentrale des OSS. Zudem waren Neumann und Otto Kirchheimer als bereits in der Weimarer Republik prominente Juristen ausgewiesene Experten für das deutsche Rechtssystem. Ihre Kenntnisse auf diesem Gebiet waren nun gefragt. Mehr als zwanzig Mitarbeiter Neumanns waren mit den Vorbereitungen für die Prozesse beschäftigt. Neumanns Abteilung arbeitete dabei eng mit den Vertretern der Rechtsabteilung im Büro des Kriegsministers, Telford Taylor und Benjamin Kaplan, zusammen.[303] Neumann wurde bald der Leiter der War Crimes Unit des OSS in Europa.[304] Er übernahm eine wichtige Rolle bei der Konzeption der Nürnberger Prozesse, auch wenn seine OSS-Abteilung keinen Einfluß auf die Prozeßführung hatte.[305]

Aber nicht nur Neumanns Abteilung war an Vorarbeiten für die Kriegsverbrecherprozesse beteiligt.[306] Im OSS wurde auf dreifache Weise an den Vorbereitungen mitgewirkt: Erstens enthielten die vom OSS gesammelten Nachrichten mitunter Hinweise auf Kriegsverbrechen, die nun genutzt werden konnten.[307] Zweitens bemühten sich R&A-Teams im besetzten Deutschland um die Sicherstellung relevanter Dokumente. Neumann war selbst einige Zeit in Deutschland. In seiner Abwesenheit leitete Marcuse die Deutschlandabteilung und damit die R&A-Prozeßvorbereitungen in Washington.[308] Auch von London aus wurden einschlägige Unterlagen zusammengetragen.[309] Drittens arbeitete R&A eine Reihe von Studien aus, die als Prozeßmaterialien dienen sollten.[310]

Zu diesen Studien, die bereits vor Kriegsende begonnen wurden, zählt auch ein Beitrag vom 1. Januar 1945. Darin wird explizit auf Massenerschießungen und auf Gaskammern Bezug genommen. Neben der von Marcuse früher bereits beobachteten Binnenrationalität[311] der Täter wird auch ihre rassistische Motivation hervorgehoben.

The sober and methodical steps taken by the Nazis to build up their system of police controls were supplemented by methods of terrorism. The men who created the administrative machinery described above were the same individuals responsible of the machine-gunning of civilians packed into cellars and even churches, for the use of gas chambers and crematories for the innocent victims of Nazi racial theories, and for the execution of hostages.[312]

Die bevorzugte Strategie von Neumanns Abteilung bestand darin, das Führerprinzip des Nationalsozialismus ernst zu nehmen und daraus eine juristische Verantwortung der obersten Führer für Verbrechen abzuleiten, selbst wenn diese nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte. Diese deutlich durch den „Behemoth“ informierten R&A-Studien zeugen von einem komplexen Verständnis des Nationalsozialismus als eines polykratischen Herrschaftssystems, das den „Unterführern“ ein erhebliches Maß an Eigeninitiative zugestand.[313] Juristisch war diese Strategie nicht aufrechtzuerhalten, weil sie mit angelsächsischen Rechtsvorstellungen nicht in Einklang zu bringen war und zudem mit zweierlei Maß messen wollte.[314] Andere Rechtskonzeptionen Neumanns fanden Anwendung auf die Prozesse.[315] Die Führerprinzip-Strategie wurde jedoch in den R&A-Studien auf viele Bereiche angewandt, ausdrücklich auch auf die Verfolgung und Ermordung der Juden. In „Leadership Principle and Criminal Responsibility“ vom Juli 1945 wird das nationalsozialistische Führerprinzip unter Heranziehung der Rechtsliteratur des Regimes eingehend erläutert.[316] In einer sorgfältigen Argumentation wird eine Vorgehensweise gegen die Kriegsverbrecher vorgeschlagen, die deren spätere Ausflüchte bereits im voraus entkräftet hätte.[317] Die juristische Strategie von R&A ebenso wie die politischen Mechanismen der nationalsozialistischen Tyrannis werden an der Verantwortung für den Völkermord an den Juden verdeutlicht:

Betrachtet man die hierarchische Struktur der nazistischen Führungsorganisation auf der einen Seite und den breiten und undefinierbaren Entscheidungsspielraum, der dem Führer bei der Verwirklichung politischer Leitideen zukam, auf der anderen, dann scheint es möglich, einen neuen Begriff von Verantwortlichkeit für Taten zu entwickeln, die im Namen des politischen Programms der Nazis begangen worden sind. Es handelt sich ja dabei um ein System, in dem auf einer bestimmten Stufe der Führungshierarchie allgemeine politische Richtlinien formuliert werden, deren Ausführung jedoch unteren Organen überlassen bleibt, ohne daß formale oder schriftliche Anordnungen hierzu ergingen und ohne daß den unteren Organen rechtliche Restriktionen auferlegt wurden. [...] Ein Beispiel: Auf der höchsten Führungsebene ist als allgemeine politische Richtlinie beschlossen worden, „alle Juden ein für allemal aus dem europäischen Leben zu beseitigen [eliminate]“, und in Erfüllung dieses politischen Vorhabens wurde ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung unter der Naziherrschaft tatsächlich vernichtet [exterminated]. Die Verantwortung für die Maßnahmen zur physischen Vernichtung [extermination] ist dann allen Führern und Unterführern aufzubürden, die der höchsten Führung unterstanden und funktional und regional für die Durchsetzung der nationalsozialistischen „Judenpolitik“ zuständig waren. Sie alle haben vermutlich das Programm und die Politik der Nazis in dieser Frage gekannt, und sie alle haben ihre Position dazu benutzt, Programm und Politik durchzusetzen, und sie alle haben gewußt, daß die politischen Direktiven ohne Rücksicht auf rechtliche Einschränkungen befolgt würden. Ob sie sich jeder Einzelheit der praktischen Ausführung in jedem Fall bewußt waren, erscheint bedeutungslos.[318]

Angesichts dieser Analyse des Prozesses, der zum Holocaust führte, kann den R&A-Mitarbeitern um Neumann und Marcuse zwar weiter eine Unterschätzung der antisemitischen Ideologie des Nationalsozialismus zugeschrieben werden. Die neue Qualität des Völkermords kommt auch in dieser Passage nicht zum Ausdruck. Ein so umfassendes Verständnis, wie es Marcuses spätere Briefe an Heidegger belegen,[319] wurde noch nicht formuliert. Dennoch kann keine Rede davon sein, R&A hätte die Vernichtungspolitik im nationalsozialistisch beherrschten Europa ignoriert. Im Gegenteil, die genaue Beobachtung der Organisation des Judenmords, die aus diesem Zitat und weiteren Stellen des Grundsatzpapiers ersichtlich wird,[320] spricht vielmehr dafür, daß die R&A-Mitarbeiter den Verbrechen in Europa intensiv Aufmerksamkeit schenkten, auch wenn ihre Studien nur selten davon berichten.

Derartige Gesamtdeutungen des Nationalsozialismus wurden von R&A durchaus erwartet. Carl Schorske bat als amtierender Leiter der Europe-Africa Political Subdivision (und damit als Vorgesetzter des wesentlich älteren, allseits respektierten Emigranten Neumann) Ende Juni 1945 ausdrücklich darum, über die Dokumentation hinaus ein „rounded picture“ des gesamten nationalsozialistischen Systems zu entwerfen. So sollten die Hintergründe der Verbrechen aufgehellt werden.[321] Der Genozid an den europäischen Juden wurde aber nicht nur in solche grundsätzlichen Darstellungen der Struktur des nationalsozialistischen Herrschaftsapparates eingeordnet. R&A hatte den juristischen Vorgaben des War Department Folge zu leisten, wonach der Hauptanklagepunkt einer nationalsozialistischen Verschwörung vorzubringen war.[322] Aus diesem Grund wurde unter der Leitung des Neumann vertretenden Marcuse eine Serie von Studien über „Nazi Plans for Dominating Germany and Europe“ als Prozeßmaterialien angefertigt. Darunter war ein Beitrag mit dem Untertitel „The Criminal Conspiracy Against the Jews“.[323]

Dieser Bericht wurde von Charles Dwork verfaßt.[324] In Neumanns Abteilung herrschte eine klare Arbeitsteilung. Dwork war seit 1943 in der CES zuständig für alle jüdischen Angelegenheiten, für die Dokumentation der Vernichtungspolitik ebenso wie beispielsweise für Hilfsmaßnahmen nach Kriegsende. Von einem „one-man Jewish desk“ spricht Shlomo Aronson.[325] Aus Dworks persönlichen Unterlagen und aus den R&A-Unterlagen geht hervor, wie intensiv man dort im Vorfeld der Nürnberger Prozesse belastendes Beweismaterial sammelte. Anfänglich stützten sich Dwork und seine Kollegen besonders auf Zeitungsnachrichten und auf die Berichte von Judenrettungen durch Rudolf Kastner (Rezsö Kasztner) in Ungarn, durch das War Refugee Board (WRB) und andere.[326] Außerdem setzte sich Dwork gegenüber einem der wichtigsten Mitarbeiter von Chefankläger Jackson, dem bereits erwähnten Colonel Benjamin Kaplan, dafür ein, dem Holocaust vor Gericht eine zentralere Rolle beizumessen und auch Vertreter jüdischer Organisationen einzubeziehen.[327] Dwork arbeitete eng mit Kaplan zusammen. Beide korrespondierten direkt miteinander und tauschten relevante Dokumente aus.[328]

Die von Dwork gesammelten Informationen wurden zwar nicht umfassend berücksichtigt,[329] sie trugen aber wesentlich dazu bei, daß Erich Kaltenbrunner zum Tode verurteilt wurde.[330] Besondere Aufmerksamkeit richtete Dwork auf die Deportation und Ermordung der rumänischen Juden. Dem OSS waren die betreffenden Unterlagen der Gestapo in die Hände gefallen, aus denen sich die Verantwortung höchster Stellen im Reichssicherheitshauptamt nachweisen ließ.[331] Das wichtigste Zeugnis jedoch, auf das sich Dwork stützte, waren die Aussagen von Rudolf Kastner. Dieser war bereits in Bern vom OSS befragt worden. Am 1. Oktober 1945, unmittelbar vor Beginn der Prozesse, machte er gegenüber Kaplan und anderen Mitarbeitern Jacksons erneut umfassende Angaben.[332]

Kastner, der in Budapest jüdische Organisationen leitete, hatte 1944 Juden aus Ungarn gerettet, indem er sie in Verhandlungen mit Adolf Eichmann und anderen SS-Offizieren freikaufte. Seitdem war er dem OSS bekannt, wo er als besonders vertrauenswürdig galt. Auch Dwork berichtete Kaplan von diesen Rettungsaktionen. Kastners Verhandlungen hatten ihm Einblicke in den Ablauf der deutschen Vernichtungspolitik verschafft. Darum konnte er dem OSS und Jacksons Ermittlern die Verantwortlichen für den Judenmord in Ungarn benennen. Seine Einblicke erlaubten ihm auch, die Gesamtzahl der ermordeten Juden auf sechs bis sieben Millionen zu schätzen, und er konnte infolge seiner Informationen die Entscheidung zur Ermordung der Juden in die Zeit des Angriffs auf die Sowjetunion datieren. Zwar überschätzte Kastner die Rolle Eichmanns und machte auch ansonsten einige nach heutiger Kenntnis fehlerhafte Angaben. Aber er berichtete den amerikanischen Stellen sowohl von massenhafter Zwangsarbeit wie auch von Vernichtungslagern wie Treblinka, in denen Juden massenhaft vergast wurden.[333]

Dwork nahm immer wieder auf diese Aussagen Bezug und machte Kaplan auf Kastner aufmerksam, was zu der bereits erwähnten zweiten Befragung 1945 Anlaß gab. Kastners Zeugenaussage wurde vor Gericht verwendet und führte in der Hauptsache zur Hinrichtung Kaltenbrunners.[334] Außerdem fahndeten Kaplan und Dwork im Herbst 1945 nach dem später erst entdeckten Protokoll der Wannsee-Konferenz. Von der Konferenz hatte man durch Verhöre erfahren, wie Kaplan an Dwork schrieb: „We heard a report according to which Kaltenbrunner participated in a conference on the disposition of the Jews, and that the idea of killing them with gas was his“.[335]

Bei alldem arbeitete Dwork eng mit Neumann zusammen, der die Prozeßvorbereitungen des OSS leitete und damit auch der Vorgesetzte Dworks war.[336] Die Arbeitsteilung in CES hatte zur Folge, daß Dwork stärker als Neumann oder Marcuse mit der Dokumentation der Vernichtungspolitik beschäftigt war, doch die Kenntnisse wurden miteinander geteilt. Das wird auch an einem Dokument deutlich, das zugleich die enge Zusammenarbeit von Dwork und Marcuse in diesem Fall bezeugt. Es handelt sich um einen Beitrag zu der bereits erwähnten R&A-Serie über „Nazi Plans for Dominating Germany and Europe“.[337] Diese Arbeit für die Kriegsverbrechensermittler folgte der offiziellen Vorgabe, für die Verbrechen der Nationalsozialisten den Tatbestand der Verschwörung nachzuweisen. Daran hält sich auch der Beitrag, der dem Mord an den europäischen Juden nachgeht. „The Criminal Conspiracy Against the Jews“ lautet der Untertitel dieses im August 1945 von Dwork abgeschlossenen Beitrags.[338] Entsprechend den offiziellen Vorgaben waren Dwork und auch Vertreter jüdischer Organisationen bemüht, eine Verschwörung der Nationalsozialisten gegen das jüdische Volk mit dem Ziel eines Völkermords an den Juden nachzuweisen, denn nur auf diese Weise konnte eine Verurteilung der Täter erreicht werden.[339]

Ausdrücklich hält Dwork darin im juristischen Duktus seiner Auftraggeber fest:

It is the purpose of the Prosecution to demonstrate the existence of a common plan or enterprise of the German Government, the Nazi Party, and the German military, industrial, and financial leaders to achieve world domination by war. The destruction of the Jewish people as a whole, although an end in itself, was at the same time linked to and closely tied up with this aim of world conquest.[340]

In diesem Papier wird außerdem die Zahl der durch ein systematisches Vernichtungsprogramm der Nationalsozialisten ermordeten Juden auf 5 700 000 geschätzt. Die Folgen dieses Verbrechens für „the future of the Jewish people and of mankind“ sei noch nicht abzusehen. Darüber hinaus sind Barry Katz zufolge, der diese Zitate und Paraphrasen mitteilt, deutliche Anklänge an Neumanns Speerspitzentheorie zu vernehmen.[341] Eine nur wenig früher entstandene Fassung dieses Dokuments macht deutlich, wie stark noch zu diesem Zeitpunkt, als den Mitarbeitern von R&A bereits das Ausmaß des Holocaust bekannt war, an vertrauten Erklärungsschemata festgehalten wurde. Allerdings darf man dies nicht mißverstehen: Die schreckliche Dimension der Verbrechen, die Realität wurde durchaus begriffen. Aber die Erklärung der Ursachen dieser Untaten folgte den vorgegebenen Theorien.

Dworks Schlußredaktion des R&A-Papiers datiert vom 13. August, Marcuses früherer Entwurf vom 12. Juni 1945. Es ist somit nicht auszuschließen, daß Dwork und Marcuse die folgenden Erklärungsversuche gemeinsam formulierten:

    1. The Jew was the weakest enemy of Nazism; the attack on him therefore was the most promising and the least risky one.
    2. The Jew was the only enemy against whom the Nazis could hope to unite otherwise divergent masses of supporters.
    3. The elimination of the Jew, as a competitor, would be most profitable to the petty bourgeoisie which furnished the largest mass support for the Nazi movement.
    4. The Jew was found in all countries; Nazi anti-Semitism was therefore a convenient means for mobilizing potential Nazi allies in foreign countries […]
    5. The ubiquity of the Jew as arch-enemy provided the Nazi with a justification for carrying the struggle for power beyond the frontiers of the Reich.[342]

Die Frage, warum die Juden das Ziel der Vernichtungspolitik wurden, fand hier einen rationalen, funktionalen, instrumentellen Erklärungsversuch. Es scheint, als habe man sich angesichts des zuvor Unvorstellbaren, das mittlerweile vollständig bekannt geworden war, noch einmal und um so fester an Neumanns vorstellbare Speerspitzentheorie zu halten versucht. Allerdings ist noch ein weiteres Motiv hinter diesen Erklärungen sichtbar: Der Mord an den Juden wird erklärt als Teil einer Verschwörung zur Erringung der Weltherrschaft. Damit trägt dieser Entwurf den juristischen Vorgaben Rechnung, die genau darin einen der Hauptanklagepunkte sahen. Selbst dieses scheinbar eindeutige Dokument läßt sich also nicht eindeutig lesen.

Dennoch hat sich bisher der eindeutige Sachverhalt ergeben, daß Neumann, Marcuse und deren Mitarbeiter im OSS umfassende Kenntnis von der Ermordung der Juden erlangten. Die Dokumentation der Verbrechen war während des Kriegs eine strategisch nachrangige Aufgabe, die man Charles Dwork anvertraute. Nach Kriegsende begannen die Vorbereitungen für die Nürnberger Prozesse, an denen R&A intensiv beteiligt war. Im Zuge dieser Vorbereitungen wurde in R&A große Aufmerksamkeit auf den Holocaust gerichtet. Dabei war den politischen und juristischen Vorgaben seitens höherer Stellen Beachtung zu schenken. Doch insgesamt ist der Befund offensichtlich: Marcuse, Neumann, Kirchheimer, Dwork und andere verschlossen keineswegs die Augen vor der Realität. Sie begriffen die Dimension des Judenmords. Sie waren aber noch nicht in der Lage, sich die Ursachen der Vernichtungspolitik ohne Rückgriff auf eine wie auch immer modifizierte funktionale Theorie zu erklären. Bei alldem darf nicht vergessen werden, daß die Hauptaufgabe von Marcuse und Neumann im OSS während des Krieges jedoch nicht darin bestand, die Ermordung der europäischen Juden zu erklären, sondern darin, die amerikanischen Streitkräfte auf ihre künftigen Aufgaben als Besatzungsmacht in Deutschland vorzubereiten.

Die Nürnberger Prozesse entwickelten sich zu einer der umfänglichsten Prozeßserien in der europäischen Rechtsgeschichte. Franz Neumann begründete mit entscheidenden Argumenten die Rechtmäßigkeit dieser Prozesse, und er zog bald juristische und wissenschaftliche Schlüsse aus ihnen.[343] Trotz einer gewissen juristischen Skepsis urteilte der ehemalige R&A-Mitarbeiter Otto Kirchheimer später in seinem berühmten Werk „Political Justice“ über die Nürnberger Prozesse, sie seien eine „morally and historically necessary operation“ gewesen.[344] Die Eröffnung des ersten Prozesses, der vor dem alliierten Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg verhandelt wurde, fand am 20. November 1945 statt.[345] Zu diesem Zeitpunkt war das OSS bereits aufgelöst. Im Zuge einer allgemeinen Verkleinerung des amerikanischen Kriegsapparats wurde das OSS im September 1945 liquidiert. Zum 1. Oktober 1945 wurden die bis dahin nicht zerschlagenen Abteilungen anderen Behörden eingegliedert, hauptsächlich dem War Department. Aus diesen Abteilungen entwickelte sich die 1947 eingerichtete CIA. Die Research and Analysis Branch des OSS aber, die Heimstatt der europäischen Emigranten, fiel an das State Department. Dort firmierte die ehemalige R&A zunächst als Interim Research and Intelligence Service (IRIS), ab 1946 als Office of Research and Intelligence (ORI), das bald im Office of Intelligence Coordination and Liaison (OCL) aufging und schließlich 1947 als Office of Intelligence Research (OIR) wiederbegründet wurde.[346]

Franz Neumann stieg zum Leiter der Central European Branch auf, wie die einstige CES nun hieß, bevor er 1947 das State Department verließ und 1948 auf eine politikwissenschaftliche Professur an der Columbia University wechselte, wo er zuvor bereits Lehraufträge übernommen hatte und bis zu seinem Tod 1954 infolge eines Autounfalls tätig war. Marcuse folgte ihm 1948 in der Leitung der Mitteleuropa-Abteilung nach. Bis zum Tod seiner Frau Sophie 1951 stand er in den Diensten des State Department, danach trat auch er über in die akademische Welt, in der er bereits in seinem letzten Jahr als Mitarbeiter des State Departments einen Forschungsaufenthalt verbracht hatte. Zunächst war er einige Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter des Russian Institute der Columbia University und zugleich des Russian Research Institute der Harvard University. 1954 erhielt er eine Professur für politische Theorie an der Brandeis University. Otto Kirchheimer, der seit 1950 die Mitteleuropa-Abteilung leitete, blieb bis 1955 im State Department. Von da an lehrte er an der New School for Social Research in New York, der einstigen Konkurrentin des Instituts für Sozialforschung, später an der Columbia University.[347]

3.2.2. Briefe über den Holocaust: Zeugnisse des privaten Marcuse 1943-1948 [back to contents]

Der offiziellen Existenz Marcuses, wie sie in wissenschaftlichen Aufsätzen und geheimdienstlichen Dokumenten zum Ausdruck kommt, steht seine private Seite gegenüber. In Marcuses Privatleben Einsicht zu nehmen, fällt ungleich schwerer als seine berufliche Laufbahn zu verfolgen.[348] Vereinzelte private Zeugnisse der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahre sind erhalten, der überwiegende Teil der Korrespondenz ging verloren.[349] Die wichtigsten persönlichen Quellen, in denen sich Marcuse mit dem nationalsozialistischen Antisemitismus und Judenmord auseinandersetzt, sind Briefe, die er an seinen einstigen Vorgesetzten am Institut, Max Horkheimer, und an seinen einstigen Lehrer, Martin Heidegger, gerichtet hat. Marcuses Briefe an Horkheimer wurden durch diesen überliefert,[350] Marcuses Briefe an Heidegger finden sich im Frankfurter Herbert-Marcuse-Archiv.[351]

In einigen der Briefe finden sich kürzere oder marginale Bemerkungen, die auf die Verfolgung der Juden eingehen.[352] Einige wenige Briefe thematisieren ausschließlich den Antisemitismus und die Vernichtungspolitik des nationalsozialistischen Deutschland. In einem der Briefe an Horkheimer entwirft Marcuse eine umfassende Deutung der Vernichtungspolitik, die die theoretischen Entwürfe in Institutskreisen und explizit auch die dort weitgehend geteilte Speerspitzentheorie Neumanns hinter sich läßt. Marcuse, bereits Mitarbeiter des OSS, antwortet aus Washington auf einen Brief, in dem Horkheimer unter anderem über sein mit dem American Jewish Committee vereinbartes Projekt zur Erforschung des Antisemitismus berichtet. Horkheimer eröffnet seine Bemerkungen mit dem Eingeständnis: „The problem of Antisemitism is much more complicated than I thought in the beginning.“ Er betont die Notwendigkeit, mehr über die Wechselwirkungen von „economic-political“ Ursachen des Antisemitismus und „anthropological elements“, die den zeitgenössischen Menschen für antisemitische Propaganda anfällig machten, nachzudenken. Insbesondere hebt er die Bedeutung der Herrschaftsstrukturen für das psychische Leben hervor.

The tendencies in people which make them susceptible to propaganda for terror are themselves the result of terror, physical and spiritual, actual and potential oppression. If we could succeed in describing the patterns, according to which domination operates even in the remotest domains of the mind, we would have done a worth while job.[353]

Marcuse entgegnet auf diese Sicht am 28. Juli 1943 aus Washington mit einer Deutung, die Horkheimers Ausführungen zugleich aufgreift und ihnen eine andere Richtung gibt. Es handelt sich dabei um ein Schlüsseldokument, das eindeutig belegt, daß Marcuse eindringlicher über die Verfolgung und Ermordung nachgedacht hat, als sich die konventionelle Meinung vorstellt. Somit stützt dieser Brief – ebenso wie die Briefe an Heidegger – den in dieser Arbeit vorgetragenen Befund. Was die Untersuchung der relevanten Zeugnisse selbst bisher nahegelegt hat, wird durch die in dieser Hinsicht eindeutigen Horkheimer- und Heideggerbriefe zusätzlich untermauert. Sollte gegen das bisher Ausgeführte der meines Erachtens ungerechtfertigte Einwand erhoben werden, es handele sich nur um Passagen aus Dokumenten, als ob diese nicht ausreichend Beweiskraft hätten, so ließe sich dieser Einwand gegen die Briefe keinesfalls mehr aufrechterhalten. Darum soll ausführlich zitiert werden:

[…] In order to keep up my mind on theoretical problems, I have tried to work up my own ideas on anti-Semitism. So I can at least use the more or less exclusive material I get here for the common cause. […]

Perhaps I wrote you already that the „spearhead“ theory in the form in which we formulated it originally seems to me inadequate, and this inadequacy seems to increase with the development of fascist anti-Semitism. The function of this anti-Semitism is apparently more and more the perpetuation of an already established pattern of domination in the character of men. Note that in the German propaganda, the Jew has now become an „internal“ being, which lives in Gentiles as well as Jews, and which is not conquered even with the annihilation of the „real“ Jews. If we look at the character traits and qualities which the Nazis designate as the Jewish elements in the Gentiles, we do not find the so-called typical Jewish traits (or at least not primarily), but traits which are regarded as definitely Christian and „humane“. They are furthermore the traits which stand most decidedly against repression in all its forms. Here, we should resume the task of elucidating the connection between anti-Semitism and Christianity (which so far has not been followed up in the project). What is happening is not only a belated protest against Christianity but also a consummation of Christianity or at least of all the sinister traits of Christianity. Der Jude ist von dieser Welt, and diese Welt is the one which fascism has to subject to the totalitarian terror.

As far as the socio-economic aspects of anti-Semitism are concerned, it seems to me that we should place more emphasis on anti-Semitism as an instrument of international fascism. With the eclipse of the Hitlerian stage of fascism (which, as we see now, was only a preparatory stage), anti-Semitism becomes more and more a weapon for the „coordination“ of divergent national fascisms, or, a bid for the negotiated peace. Here again, we have to correct our earlier conception. I mean that of the „sham war“. In the last analysis, the concept holds true. But the Scheinhaftigkeit of the war demands rather than excludes the utter defeat of Germany and rests in the ends rather than in the means to achieve these ends. However, I do not believe [for] a minute that the fascist stabilization will succeed in „integrating“ the actual conflicts for any length of time. I do not believe so against all facts and common sense. The most depressing aspect of Mussolini’s exit is that all this happened without any excitement, rebellion, hate. After more than twenty years of terror, the fascist party dissolves like a Kegelklub. Nobody really cares. Life goes on. Nothing has happened. A sign, not of a more mature consciousness, but of a totalitarian apathy, fatigue, indifference. Can you imagine Hitler and his gang just resigning and handing over business to a new management (partly new), but staying on in Germany unmolested and enjoying undisturbed privacy? I think this goes even beyond our most audacious predictions, and still, it might happen.[354]

In diesem Brief wird die theoretische Reflexion offensichtlich unter dem Eindruck empirischer Beobachtungen angereichert, um eine umfassende Interpretation der Vernichtungspolitik zu skizzieren. Marcuse verabschiedet sich von wesentlichen Elementen der Speerspitzentheorie, die nicht nur Neumanns Entwurf, sondern in Grundzügen communis opinio am Institut für Sozialforschung war.[355] Das geschieht explizit, indem Marcuse die Untauglichkeit der Speerspitzentheorie betont. Als Grund führt er die zeitgenössische „Entwicklung des faschistischen Antisemitismus“ an – historische Vorgänge, die den Rahmen der bisherigen Theorie sprengen. Hier gibt Marcuse empirischer Beobachtung den Vorrang vor der Theorie. Marcuse verschließt sich nicht der Realität. Er ist kein reiner Theoriemensch, der vor der Außenwelt blind bleibt. Im Gegenteil, die Beobachtung der Außenwelt wird ihm zum Anlaß, die Theorie zu überdenken. In diesem konkreten Fall gibt er eine vertraute Theorie auf, oder er modifiziert sie zumindest, weil sie als Erklärung des Antisemitismus „unangemessen“ geworden ist.

Was setzt Marcuse an die Stelle der Speerspitzentheorie? Im wesentlichen operiert Marcuses Erklärungsansatz auf vier Ebenen. (1) Die direkte Funktionalität der Speerspitzentheorie wird abgelöst durch eine allgemeine anthropologische Funktionalität. Statt unmittelbarer Systemstabilisierung wird dem Antisemitismus nun die Funktion zugeschrieben, ein bereits etabliertes Herrschaftsmuster im menschlichen Charakter zu verewigen. Was damit gemeint ist, wird im folgenden deutlicher. „Der Jude“ sei in der Propaganda zunehmend zu einem „inneren“ Wesen geworden, das von Juden wie Nichtjuden gleichermaßen Besitz ergreifen könne. Ihm würden von den Nationalsozialisten sowohl „jüdische“ als auch „nichtjüdische“ Eigenschaften zugeschrieben. Auch die Vernichtung der „wirklichen“ Juden könne somit nicht zum Sieg über die „Juden“ führen.

Was Marcuse damit sagen will, ist offensichtlich: Der Antisemitismus im Nationalsozialismus hat eine Eigendynamik entwickelt. Mit der Internalisierung „jüdischer“ Eigenschaften wird die Gesellschaft für einen endlosen Kampf mobilisiert, bei dem sie andere vernichtet und sich selbst reinigt. Die Juden dienen dabei als das Gegenbild, auf das der Nationalsozialismus angewiesen bleibt, um seine Gemeinschaft zu erhalten. Darum wird dieses Gegenbild über „wirkliche“ Juden hinaus ausgeweitet. Hiermit kommt ein weiterer Aspekt dieser Erklärungsebene in den Blick: Die irrationale, chimärische, paranoide Struktur des Antisemitismus. Selbst auf „Nichtjuden“ greift er über. Die Antisemiten sind zu Gefangenen ihres eigenen Systems geworden. Um ihre Herrschaft zu erhalten, wird ihre Ideologie und Politik immer radikaler, bis potentiell jeder, sie selbst eingeschlossen, ihrem Wahn zum Opfer fällt. Die Funktionalität dieser Erklärungsebene hat kaum noch etwas gemeinsam mit der Funktionalität, wie sie die Speerspitzentheorie formuliert.

(2) Mit den irrationalen Wurzeln des Antisemitismus, die in der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik eine Eigendynamik entwickeln, kommt Marcuse auf die tiefsten Ursachen des Antisemitismus zu sprechen. Die Charakterzüge, die „dem Juden“ zugeschrieben werden, ob im nationalsozialistischen Bezeichnungssystem jüdisch besetzt oder nicht, haben alle eine Gemeinsamkeit: Sie sind christlich und „human“ konnotiert, sie stehen laut Marcuse für alles, was der Unterdrückung entgegengesetzt ist. Der Antisemitismus ist folglich anti-human, anti-emanzipatorisch, anti-individualistisch motiviert, er steht für Herrschaft und Unterdrückung. Er ist eine Gegenbewegung gegen Menschlichkeit, gegen die Befreiung des Menschen aus der Unterdrückung, mit anderen Worten: gegen Christentum und Aufklärung – „ein verspäteter Protest gegen das Christentum“. Der Antisemitismus und der Nationalsozialismus insgesamt sind in dieser Deutung einerseits Elemente einer antimodernen Gegenrevolution, andererseits in einer tieferen Schicht unüberwindliche Ausdrucksformen archaischer, urzeitlicher Unterdrückung, die in der Judenverfolgung wieder unkontrolliert hervorbricht.[356]

(3) Hiervon ausgehend, lotet Marcuse eine weitere Erklärungsebene aus. Ist der Antisemitismus einerseits als Rebellion gegen humane und freiheitliche Traditionen des Christentums zu verstehen, so ist er andererseits auch die Vollendung oder Radikalisierung der „finsteren Züge“ des Christentums. Damit meint Marcuse offensichtlich die lange Geschichte christlicher Judenfeindschaft, aus der der moderne Antisemitismus hervorgegangen ist. Der Antisemitismus hat zwar die direkte Verbindung zum Christentum verloren. Aber Marcuse sieht dennoch ein christliches, religiöses, manichäisches Denkmuster im Antisemitismus wirksam:[357] Die Feindschaft gegenüber der Welt oder die Überwindung der Welt durch den Gläubigen. Indem „der Jude“ mit „dieser Welt“ gleichgesetzt wird, wird seine Vernichtung zum Akt der Erlösung. Das Mittel der Erlösung ist „totalitärer Terror“. Marcuse beschreibt in Kurzform einen „Erlösungsantisemitismus“, der aus religiösen Traditionen stammt und auch als säkularisierte Repressionsmacht weiterhin in religiösen Kategorien denkt.[358]

(4) Auf einer vierten Ebene, scheinbar von den anderen Ebenen getrennt, kommt Marcuse zu einer Erklärung, die unmittelbarer an die Speerspitzentheorie anknüpft. Er bezeichnet diese Ebene als die „sozioökonomische“ Seite des Antisemitismus. Der Antisemitismus wird hier erklärt als ein „Instrument des internationalen Faschismus“. Die gemeinsame Verfolgung der Juden stiftet die Einheit des faschistischen Lagers, die ansonsten nicht zu bewerkstelligen wäre. Seit die Herrschaft des Nationalsozialismus im Niedergang begriffen ist, bedarf sie laut Marcuse vermehrt des Antisemitismus, um die Politik der faschistischen Verbündeten durch dieses Mittel zu „koordinieren“.[359]

Dieses Erklärungsmotiv wird in einer OSS-Studie ausgebaut. Demzufolge war die Verfolgung und Ermordung der Juden einerseits Selbstzweck, andererseits ein Instrument zur Weltherrschaft.[360] Marcuses Brief ebenso wie die ausführlicher formulierten OSS-Papiere von Dwork und Marcuse fassen damit eine Seite der Vernichtungspolitik in den Blick, die von der aktuellen Forschung bestätigt wird. Es entspricht den Tatsachen, daß zahlreiche Verbündete des nationalsozialistischen Deutschland von eigenen starken antisemitischen Traditionen geprägt waren und die Vernichtungspolitik aktiv unterstützten. In der zweiten Kriegshälfte war die Ermordung der Juden eine Klammer, die den deutschen Machtblock zusammenhielt.[361]

Dabei darf nicht übersehen werden, daß Marcuse diese von ihm etwas irreführend als „sozioökonomisch“ bezeichnete Erklärung nicht absolut setzt. Sie ist nur ein, und zwar das letztgenannte Element einer mehrdimensionalen Erklärungsskizze des nationalsozialistischen Antisemitismus. Darüber hinaus ist anzunehmen, daß Marcuse die drei zuvor genannten Erklärungsebenen auch für die „faschistischen“ Verbündeten gelten lassen würde, wonach der Antisemitismus nicht erst im Krieg als Herrschaftsinstrument aufgetreten, sondern seit langem aus archaischen und religiösen Motiven entstanden ist. Somit vertritt Marcuse in diesem Brief an Horkheimer selbst da, wo er der Speerspitzentheorie am nächsten scheint, niemals die Speerspitzentheorie in reiner Form. Auch sind Marcuses Überlegungen zum Holocaust offensichtlich von Nachrichten über das Morden in Europa geprägt, die ihn zu neuen Schlüssen führten und alte Theorien aufgeben ließen. Einige Ansichten sind jedoch nur schwer nachzuvollziehen.[362] Unzweifelhaft aber bleibt der Sachverhalt, daß sich Marcuse in diesem Brief eindringlich und umfassend mit der Verfolgung und Ermordung der Juden befaßte. Er erkannte die Zentralität der Vernichtungspolitik für die nationalsozialistische Politik, und er führte fragmentarische, aber in vielerlei Hinsicht zutreffende Überlegungen zu den Ursachen des Antisemitismus an.[363]

Bevor die Briefe an Heidegger zur Sprache kommen, sind einige Bemerkungen zu einem weiteren Text Marcuses angebracht. Dieses Manuskript über die Literatur der französischen Résistance wurde von Marcuse selbst auf den September 1945 datiert. Der „Some Remarks on Aragon“ betitelte Aufsatz mit dem Untertitel „Art and Politics in the Totalitarian Era“ wurde von ihm selbst niemals veröffentlicht.[364] Darin setzt Marcuse auch Überlegungen fort, die er schon 1942 angestellt hat. Wie ausgeführt, erkannte er bereits in „The New German Mentality“ die Schwierigkeit, das Leid der Opfer des Nationalsozialismus darzustellen.[365] Allerdings konzentriert sich Marcuse auf das Leid der Widerstandskämpfer, nicht auf das der Juden, doch sind seine Beobachtungen von allgemeiner Bedeutung.

Er kritisiert, daß man mit der Darstellung von Konzentrationslagern und der Ermordung von Widerstandskämpfern „bestsellers“ und „movie hits“ mache.[366] In der Literatur der französischen Résistance entdeckt er jedoch den Versuch, dem Schrecken gerecht zu werden und sich nicht der Kulturindustrie zu unterwerfen. Marcuse zeigt, wie die Surrealisten einst die Sprache vom „gleichgeschalteten“ Inhalt befreiten und die Form zum Inhalt machten, indem die Form zum „Instrument der Zerstörung“ wurde. Wörter erschienen in ihrer „brute nakedness“. Die Entwicklung der Kunst jedoch wurde eingeholt von der Geschichte, die Avantgarde war dem Politischen nicht gewachsen: „The surrealistic terror was surpassed by the real terror“. Aus diesem Grund fanden die surrealistischen Autoren zurück zu einer klassischen Form, in die brutal die schreckliche Realität einbricht. So entwickelt die Literatur der Résistance eine neue Sprache, in der bisher unvorstellbares Leid ausgedrückt werden kann:

Their world is the reality of totalitarian fascism. This determines the totality of their art. Its raison d’être is the political. The political is the absolute negation and contradiction. But to present the political directly would mean to posit it as a content, thus to surrender it to the monopolistic system. The political must rather remain outside the content: as the artistic a priori which cannot be absorbed by the content but which is itself absorbing all content. […]

The content as such is irrelevant, can be everything (for everything is today the object of totalitarian domination and therefore of liberation) but it must be shaped in such a manner that it reveals the negative system in its totality and, at the same time, the absolute necessity of liberation. The work of art must, at its breaking point, expose the ultimate nakedness of man’s (and nature’s) existence, stripped of all the paraphernalia of monopolistic mass culture, completely and utterly alone, in the abyss of destruction, despair and freedom.[367]

Marcuse führt dies an zahlreichen Beispielen aus der Literatur der Résistance vor, an Texten von Aragon, Éluard und anderen. Er zeigt etwa, wie ein Gedicht zwischen zwei Zeilen „all the terror of fascism“ enthält, wie durch die verfremdende Darstellung einer jäh unterbrochenen Liebesbeziehung der Schrecken sichtbar wird.[368] Die Autoren, die Marcuse untersucht, verspüren die „necessity to rescue language from its utter destruction“, denn der Sprache ist die „language of the enemy“ eingeschrieben.[369] Besonders deutlich wird der Versuch der Résistance-Literatur, eine Antwort auf die Schrecken des Nationalsozialismus zu finden, an Aragons Roman „Aurélien“, dem Marcuse sich am ausführlichsten widmet. Abschließend betont Marcuse, daß auch die Darstellung des Leids der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung Kunst bleibt und der Realität niemals gleich werden kann. Er nennt Picassos Gemälde „Guernica“. Auch die Literatur der Résistance ist nur Kunst, aber sie nähert sich dem realen Schrecken. In ihrer Form wird sie dem Leid der Opfer so gerecht, wie es nur möglich ist, ohne es in seinem ganzen wirklichen Schrecken darstellen zu können.

The effect is an awakening of memory, remembrance of things lost, consciousness of what was and what could have been. Sadness as well as happiness, terror as well as hope are thrown upon the reality in which all this occurred; the dream is arrested and returns to the past, and the future of freedom appears only as a disappearing light. […]

Darkness, terror and utter destruction are brought to life by grace of the artistic creation and the artistic form; they are therefore incomparable to the fascist reality. […]



Art does not and cannot present the fascist reality […]. But any human activity which does not contain the terror of this era is by this very token inhuman, irrelevant, incidental, untrue.[370]

Selbst wenn Marcuse in diesen Zeilen nicht explizit auf das Leid der Juden zu sprechen kommt, sondern vom Leid der verfolgten und ermordeten Widerstandskämpfer in Frankreich spricht, von denen nicht wenige Juden waren, wird deutlich, daß er die Verbrechen des Nationalsozialismus für so ungeheuerlich hält, daß die Kunst neue Ausdrucksformen suchen muß, und daß sogar alle künftige Kunst, die Wahrheitsanspruch erhebt, dieser Verbrechen gedenken muß.

Bei Marcuses Briefen an Heidegger von 1947 und 1948 handelt es sich wiederum um Schlüsseldokumente hinsichtlich der Fragestellung dieser Arbeit.[371] Die beiden Briefe offenbaren ein so klares Verständnis des Holocaust, daß man sogar rückblickend nur noch schwer annehmen kann, Marcuse habe dem Mord an den Juden kaum Beachtung geschenkt. Viel eher ist man geneigt anzunehmen, daß, wer die Dimension der Verbrechen so tiefgehend begriffen hat, auch zuvor eindringlich darüber nachgedacht haben muß. Heidegger war Marcuses einstiger Lehrer und von 1933 bis 1934 als überzeugter Nationalsozialist „Führer-Rektor“ der Universität Freiburg. Marcuse besuchte ihn im Schwarzwald während einer längeren dienstlichen Europareise in der ersten Hälfte des Jahres 1947.[372]

Zwischen beiden war es zu einer Aussprache über Heideggers nationalsozialistisches Engagement gekommen. Marcuse knüpft in seinem Brief aus Washington vom 28. August 1947 daran an, indem er Heideggers Rechtfertigungsversuche grundsätzlich kritisiert. Er betont wiederholt, daß er und viele andere immer noch auf ein klärendes öffentliches Wort Heideggers warteten, private Bemerkungen wie die gegenüber Marcuse reichten nicht aus. Solange das nicht geschehe, gelte Heidegger als „Nazi Ideologe“ und nicht als Philosoph. Marcuse kommt dabei auch auf den Mord an den europäischen Juden zu sprechen:

Ein Philosoph kann sich im Politischen täuschen – dann wird er seinen Irrtum offen darlegen. Aber er kann sich nicht täuschen über ein Regime, das Millionen von Juden umgebracht hat – bloß weil sie Juden waren, das den Terror zum Normalzustand gemacht hat und alles, was je wirklich mit dem Begriff Geist und Freiheit und Wahrheit verbunden war, in sein blutiges Gegenteil verkehrt hat. Ein Regime, das in allem und jedem die tödliche Karikatur jener abendländischen Tradition war, die Sie selbst so eindringlich dargelegt und verteidigt haben. Und wenn das Regime nicht die Karikatur, sondern die wirkliche Erfüllung dieser Tradition war – auch dann gab es keine Täuschung, dann mußten Sie diese ganze Tradition anklagen und [ihr] abschwören. [...]

Ich werde diese Woche ein Paket an Sie abgehen lassen. Meine Freunde haben sich sehr dagegen gewehrt und mir vorgeworfen, daß ich einem Mann helfe, der sich mit einem Regime identifiziert hat, das Millionen meiner Glaubensgenossen in die Gaskammern geschickt hat (um Mißverständnisse auszuschließen, möchte ich bemerken, daß ich nicht nur als Jude, sondern auch aus politischen, sozialen und intellektuellen Gründen von Anfang an Anti-Nazi war. Ich wäre es auch gewesen, wenn ich ein „Vollarier“ wäre.) [...][373]

Damit war der Austausch zwischen beiden noch nicht abgerissen.[374] In einem Antwortbrief vom 20. Januar 1948 bedankte sich Heidegger aus Freiburg zunächst für das mittlerweile eingetroffene Carepaket. Er habe den Inhalt an ehemalige Schüler verteilt, die nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun gehabt hätten, um so Marcuses Freunde zu beruhigen. Anschließend nimmt er Stellung zu Marcuses Vorwürfen. Marcuses Brief zeige ihm, „wie schwer ein Gespräch mit Menschen ist, die seit 1933 nicht mehr in Deutschland waren und die den Beginn der nationalsozialistischen Bewegung von ihrem Ende aus beurteilen“. Dann folgt in sechs Punkten eine ausführliche Erklärung seines Verhaltens. Die ersten fünf Punkte beziehen sich auf Heideggers persönliches Verhalten, der sechste Punkt wird grundsätzlich und vergleicht in der Absicht, Heideggers Engagement zu entschuldigen, den Holocaust mit der Vertreibung der Deutschen aus den östlichen Gebieten des Deutschen Reiches:

Zu den schweren berechtigten Vorwürfen, die Sie aussprechen „über ein Regime, das Millionen von Juden umgebracht hat, das den Terror zum Normalzustand gemacht hat und alles, was je wirklich mit dem Begriff Geist und Freiheit und Wahrheit verbunden war, in sein blutiges Gegenteil verkehrt hat“, kann ich nur hinzufügen, daß statt „Juden“ „Ostdeutsche“ zu stehen hat und dann genauso gilt für einen der Alliierten, mit dem Unterschied, daß alles, was seit 1945 geschieht, der Weltöffentlichkeit bekannt ist, während der blutige Terror der Nazis vor dem deutschen Volk tatsächlich geheimgehalten worden ist.[375]

In seinem Brief vom 13. Mai 1948 wendet sich Marcuse gegen diesen Vergleich. Er habe lange gezögert, auf Heideggers Brief zu antworten, schreibt er aus Washington. Marcuse geht hauptsächlich auf Heideggers zitierten Vergleich ein, denn die systematische Ermordung der europäischen Juden hat für Marcuse eine andere Dimension als die Untaten der Vertreibung. Der Holocaust ist für ihn etwas unvergleichlich Schlimmeres, etwas – wenn man den Begriff lediglich als analytische Bezeichnung für das heranzieht, was Marcuse auszudrücken versucht – bisher Einzigartiges:

Wir wußten, und ich selbst habe es noch gesehen, daß der Beginn schon das Ende enthielt, das Ende war. Nichts ist dazugekommen, was nicht schon von Anfang an da war. Die Schwierigkeit des Gesprächs scheint mir vielmehr darin zu liegen, daß die Menschen in Deutschland einer totalen Pervertierung aller Begriffe und Gefühle ausgesetzt waren, die sehr viele nur zu bereitwillig hinnahmen. Anders ist es nicht zu erklären, daß Sie, der wie kein anderer die abendländische Philosophie zu verstehen vermochte, im Nazismus „eine geistige Erneuerung des ganzen Lebens“, eine „Rettung des abendländischen Daseins vor den Gefahren des Kommunismus“ (der doch selbst ein wesentlicher Bestandteil dieses Daseins ist!) sehen konnten. Das ist kein politisches, sondern ein intellektuelles Problem – ich möchte beinahe sagen: ein Problem der Erkenntnis, der Wahrheit. Sie, der Philosoph, haben die Liquidierung des abendländischen Daseins mit seiner Erneuerung verwechselt? War nicht diese Liquidierung schon in jedem Worte der „Führer“, in jeder Geste und Tat der SA lange vor 1933 offenbar?

Aber nur auf einen Abschnitt Ihres Briefes möchte ich eingehen, weil mein Schweigen vielleicht als Eingeständnis ausgelegt werden könnte:

Sie schreiben, daß alles, was ich über die Ausrottung der Juden sage, genauso für die Alliierten gilt, wenn statt „Juden“ „Ostdeutsche“ steht. Stehen Sie nicht mit diesem Satz außerhalb der Dimension, in der überhaupt noch ein Gespräch zwischen Menschen möglich ist – außerhalb des Logos? Denn nur völlig außerhalb dieser „logischen“ Dimension ist es möglich, ein Verbrechen dadurch zu erklären, auszugleichen, zu „begreifen“, daß andere so etwas ja auch getan hätten. Mehr: wie ist es möglich, die Folterung, Verstümmelung und Vernichtung von Millionen Menschen auf eine Stufe zu stellen mit einer zwangsweisen Verpflanzung von Volksgruppen, bei der keine dieser Untaten vorgekommen ist (vielleicht von einigen Ausnahmefällen abgesehen)? Die Welt sieht heute so aus, daß in dem Unterschied zwischen den Nazi-Konzentrationslagern und den Deportierungen und Internierungslagern der Nachkriegszeit schon der ganze Unterschied zwischen Unmenschlichkeit und Menschlichkeit liegt. Auf der Basis Ihres Arguments hätten die Alliierten Auschwitz und Buchenwald mit allem, was darin vorging, für jene „Ostdeutschen“ und die Nazis beibehalten sollen – dann wäre die Rechnung in Ordnung! Wenn aber der Unterschied zwischen Unmenschlichkeit und Menschlichkeit auf diese Unterlassung reduziert ist, dann ist dies die weltgeschichtliche Schuld des Nazi-Systems, das der Welt vordemonstriert hat, was man nach über zweitausend Jahren abendländischen Daseins mit dem Menschen machen kann.[376]

Die Wortwahl Marcuses wird den Opfern der Vertreibung nicht gerecht und nimmt an manchen Stellen zynische Züge an („Verpflanzung“). Dennoch ist sein Urteil in der Gesamtsicht richtig, und es entspricht dem bis heute herrschenden Konsens: Die systematische Ermordung von Millionen Juden ist ein so ungeheures und unvorstellbares Verbrechen, daß daneben die barbarischen Ausschreitungen im Zuge der Vertreibung von Deutschen einer anderen, vertrauteren Dimension von Verbrechen anzugehören scheinen.[377] Vor allem verwahrt sich Marcuse gegen jeden Versuch, die Verbrechen „auszugleichen“, also gegeneinander aufzurechnen, zu relativieren. Die nationalsozialistische Politik führte für Marcuse zu nichts geringerem als der „Liquidierung des abendländischen Daseins“. Mit anderen Worten: Der Nationalsozialismus hat die Traditionen, die Gemeinsamkeiten, die Zivilisation Europas zerstört. Er führte zu der schrecklichen Situation, daß der Unterschied von Menschlichkeit gegenüber Unmenschlichkeit sich in den Unterschieden von Internierungslagern gegenüber Konzentrationslagern abzeichnet. Der Nationalsozialismus kulminierte im „Zivilisationsbruch“[378] – im Völkermord an den europäischen Juden. Dieses Verbrechen ist für Marcuse einzigartig, es ist für ihn die Essenz und zwangsläufige Konsequenz des Nationalsozialismus, es ist der Zusammenbruch aller europäischen Zivilisation, der Zusammenbruch des „abendländischen Daseins“.

Deutlicher hätte Marcuse nicht zum Ausdruck bringen können, wie sehr ihn der Holocaust beschäftigte. Berücksichtigt man, was an quellenkritischen Sachverhalten vorgetragen wurde, gilt das auch für andere Schriften, die Marcuse zwischen 1941 und 1948 verfaßte und die vorangehend untersucht wurden. Offensichtlich sah Marcuse im Mord an den Juden keine Nebensächlichkeit, sondern das Zentrum des Nationalsozialismus. Das gilt teilweise bereits für die früheren Schriften des Untersuchungszeitraums. Vollständig und eindeutig trifft es auf einen Brief an Horkheimer von 1943 zu – und auf die Briefe an Heidegger von 1947 und 1948, die in gewisser zeitlicher Distanz und umfassender Kenntnis des Holocaust geschrieben wurden und rückblickend das zuvor Geschriebene erhellen.

Bei allen Texten müssen zudem die Entstehungsumstände berücksichtigt werden. Diese ließen es, wie ausführlich gezeigt, oftmals überhaupt nicht zu, daß dem Judenmord größere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dessenungeachtet finden sich in allen hier erörterten Zeugnissen mehr als nur marginale Hinweise auf den Holocaust. Vielmehr veranlaßten die Nachrichten, die er vom systematischen Morden in Europa erhielt, Marcuse offensichtlich dazu, vertraute Theorien zu überarbeiten oder gänzlich aufzugeben, weil sie der grausamen historischen Realität nicht gerecht wurden. Statt der Speerspitzentheorie entwickelte Marcuse ein vielschichtiges Verständnis des nationalsozialistischen Antisemitismus, das zu der Erkenntnis gelangte, daß die Verfolgung und Ermordung der Juden das ideologische und politische Zentrum des Nationalsozialismus waren.

Wie sollte man auch annehmen können, Marcuse habe den Holocaust ignoriert? Wie die meisten Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung war Marcuse auf unorthodoxe Weise Marxist. Aber wie die meisten dort war er auch Jude. Bei allen Schwächen seiner Einschätzungen trifft es nicht zu, daß bei ihm „ideologische Barrieren“ verhinderten, „das Offensichtliche zur Kenntnis“ zu nehmen.[379] Er verschloß seine Augen nicht vor dem Schicksal der europäischen Juden. Er wußte, daß „Millionen von Juden umgebracht [worden waren] – bloß weil sie Juden waren“, wie er an Heidegger schrieb. Dieses Schicksal war auch die Erfahrung seiner Familie. Marcuses Eltern und sein Bruder Erich erlebten in Deutschland zunehmende Entbehrungen und Einschüchterungen, fortschreitende Entrechtung, wiederholte antisemitische Ausschreitungen. Im beinahe letztmöglichen Augenblick, im März 1939 flohen sie nach London, wo bereits Marcuses Schwester Else mit ihrem Ehemann lebte. Anderen engen Verwandten glückte die Flucht nicht mehr. Sie kamen im Konzentrationslager Theresienstadt ums Leben.[380]

Wer einerseits betont oder sich der herrschenden Meinung anschließt, daß die Schrecken des Holocaust einzigartig waren, daß wir sie bis heute nicht völlig begriffen haben, daß es keine angemessene Art und Weise gibt, über das unermeßliche Leid zu sprechen, kann andererseits nicht verlangen, Marcuse und andere Zeitgenossen des Holocaust hätten diesen in jeder Zeile, die verfaßten, in jedem Satz, den sie äußerten, vollständig und umfassend verstehen müssen. Diese historische Einsicht muß sich der heutige Beobachter in den Sinn rufen.[381] Ein gerechtes Urteil – wenn es denn ein Urteil sein muß und nicht einfach beim Versuch der Tatsachenfeststellung belassen werden kann – muß die historischen Umstände berücksichtigen. Doch selbst nach heutigen Maßstäben schneidet Marcuse nicht schlecht ab.

Seiner klaren Einsicht, wie sie vorangehend herausgearbeitet wurde, entspricht seine schon 1942 formulierte Erkenntnis, daß sich das Leid der Opfer einer ästhetischen Darstellung entzieht.[382] Marcuses Überlegungen zur Literatur der französischen Résistance belegen, daß ihn diese Frage noch 1945 beschäftigte. Das Neue an der nationalsozialistischen Verfolgung der Juden war nicht leicht zu verstehen für jemanden, der bereits über eine Theorie des Antisemitismus verfügte. Die intellektuelle Gemeinschaft der Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung verstärkte diesen Hang zur gemeinsam geteilten funktionalistischen Theorie. Die Arbeitsbedingungen im OSS förderten eine Vernachlässigung der Verfolgung und Ermordung der Juden, weil die Behörde ihre Arbeit strategischen Prioritäten unterzuordnen hatte. All diesen widrigen Umständen zum Trotz gelang es Marcuse, das Neue immer besser zu verstehen. Was hätte er anderes tun können, als auf vertraute, rationalisierende Theorien zurückzugreifen? Das Bemerkenswerte in seinem Fall besteht darin, daß er die Realität die Oberhand über die Theorien gewinnen ließ, indem er schrittweise diese Theorien umformte oder aufgab.

Darüber hinausgehend muß die Frage offenbleiben, ob Marcuse infolge seiner persönlichen Erlebnisse als Flüchtling und infolge der Erlebnisse seiner Familie traumatisiert war. Das Trauma blockiert in den meisten Fällen die Fähigkeit, über das traumatogene Erlebnis zu sprechen. Daß Marcuse traumatisiert war, kann und muß nicht bewiesen werden. Aber was üblicherweise Opfern, Überlebenden und Angehörigen von Opfern des Holocaust zugeschrieben wird, muß im Fall Marcuses zumindest erwogen und erwähnt werden. Sollte es zutreffen, daß Marcuse traumatisiert war, wäre dies eine Erklärung dafür, warum er nicht häufiger, intensiver und ohne Zuflucht zu tröstlichen, weil rationalisierenden Theorien zu nehmen, den Mord an den Juden zum Gegenstand seiner Überlegungen gemacht hat. Allerdings hat sich Marcuse bereits häufig und intensiv und gelegentlich sogar unter völligem Verzicht auf rationalisierende Theorien als Zeitgenosse über den Holocaust geäußert. Sollte er also traumatisiert gewesen sein, so verharrte er nicht in Sprachlosigkeit, sondern er rang darum, sein Trauma durchzuarbeiten.[383]

Nach dieser eingehenden Untersuchung Marcuses und nach der Darstellung seiner Umgebung am Institut für Sozialforschung und im OSS erhebt sich die Frage nach dem weiteren historischen Kontext. Wie wurde der Holocaust von Marcuses Zeitgenossen in Amerika im allgemeinen wahrgenommen? War man während des Krieges in der Lage, das Ausmaß der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zu verstehen? Welche zeitgenössischen Deutungsmuster des Judenmords gab es in den USA?


4. Die USA und der Holocaust: Eine Skizze der zeitgenössischen Wahrnehmung [back to top]

Marcuse und Neumann haben im Exil nicht nur die amerikanische Staatsbürgerschaft beantragt und erhalten. Sie wurden auch durch die Zeit im OSS als Amerikaner „akkulturiert“. Sie machten neue wissenschaftliche und persönliche Erfahrungen in enger Zusammenarbeit mit Amerikanern, was teilweise zu einem Wandel ihrer politischen und theoretischen Positionen führte.[384] Als deutsch-jüdische Emigranten in den USA lebten sie nicht außerhalb des amerikanischen Alltags. Wie im OSS mit den Nachrichten über den Holocaust verfahren wurde, war bereits Gegenstand der Erörterung. Abschließend sind einige Bemerkungen dazu angebracht, wie die amerikanische Regierung und die weitere amerikanische Öffentlichkeit in den Jahren des Zweiten Weltkrieges vom Judenmord erfuhren und wie sie auf diese Kenntnisse reagierten. Diese Frage wird in den USA seit langem gestellt und hat zu einer enormen Zahl an Literatur wie zu heftigen Debatten geführt, die von Beobachtern als „der amerikanische Historikerstreit“ charakterisiert werden.[385] Im folgenden findet sich eine knappe Skizze wichtiger Ergebnisse der Diskussion. Sie stützt sich auf zwei neuere Darstellungen, die einen zuverlässigen Überblick bieten.[386]

Die Debatte nimmt ihren Ausgang bei der Flüchtlingspolitik der USA vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Die bürokratische Regelung der Einwanderungsquoten, die auch für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und später aus dem nationalsozialistisch beherrschten Europa nicht erleichtert oder aufgehoben wurden, ist ebenso eingehend untersucht worden wie die amerikanische Initiative zur Konferenz von Évian im Juli 1938. Den meisten Darstellungen zufolge waren diese Bemühungen eher kosmetischer Natur. Einigen engagierten Akteuren zum Trotz bestand der Zweck der Konferenz darin, Hilfsbereitschaft zu demonstrieren, ohne diese in konkrete Schritte umsetzen zu müssen. Für die USA bedeutete das, im großen und ganzen keine zusätzlichen zu den bereits jährlich zugelassenen Flüchtlinge aufzunehmen. Die Motive dieser amerikanischen Politik werden von vielen Historikern in der Innenpolitik gesucht. Verwiesen wird auf die Existenzängste einer von wirtschaftlichen Nöten geplagten Wählerschaft. Jeder Einwanderer wurde als Bedrohung und potentieller Konkurrent um den Arbeitsplatz wahrgenommen. Außerdem wird eine nicht zu unterschätzende antisemitische Stimmung in der Bevölkerung angeführt. Auf beides nahmen Politiker Rücksicht, um ihre Chancen bei künftigen Wahlen nicht zu mindern.[387] Zudem ist zu bedenken, daß die Juden lange nur als eine von mehreren verfolgten Opfergruppen des Nationalsozialismus betrachtet wurden. Und selbst in den Augen amerikanischer Juden waren die Auschreitungen in Deutschland 1938 noch nicht schlimmer als antisemitische Mordtaten in der Ukraine. In dieses Deutungsmuster wurden auch die weiteren Nachrichten von der gezielten Verfolgung und später der Ermordung der Juden eingeordnet.[388] Dennoch konnte im August 1938 ein Intergovernmental Committee for Refugees (ICR) eingerichtet werden, das den Flüchtlingen helfen sollte.[389]

Auf verschiedenen Wegen erfuhr Amerika später vom Holocaust. Vereinzelte Berichte von Flüchtlingen und Korrespondenten hatten 1941/42 bereits auf eine neue Stufe der Judenverfolgung hingedeutet, die auch vor Massenmord nicht zurückschreckte. Die britische Regierung verfügte durch ihre Funkaufklärung sehr früh über genaue Kenntnisse, ließ jedoch aus militärischen Gründen nicht einmal die Amerikaner daran teilhaben.[390] Eine erste detaillierte Meldung vom 11. Mai 1942, daß es sich bei den Morden an Juden in Polen um eine systematische Ausrottungspolitik handelte, gelangte aus dem polnischen Untergrund über schwedische Geschäftsleute im Juni 1942 an die Weltöffentlichkeit. Die BBC und große Zeitungen berichteten darüber, doch besonders amerikanische Blätter drückten ihren Unglauben über diese Nachrichten aus. Das Ausmaß der Verbrechen war für die Zeitgenossen einfach nicht vorstellbar – „man registrierte wohl mit Schrecken und Abscheu den Massenmord an den Juden, aber daß die vielen Aktionen Teil eines Gesamtvorhabens mit dem Ziel der totalen Ausrottung der Juden sein könnten, lag jenseits des Erfahrungshorizonts westlicher Gesellschaften.“[391]

Der Durchbruch in der öffentlichen Wahrnehmung erfolgte bald darauf in Verbindung mit den beiden Telegrammen, die Gerhard Riegner, der Leiter des Genfer Büros des World Jewish Congress, am 8. und 11. August 1942 über britische und amerikanische diplomatische Vetretungen in der Schweiz nach London und Washington absetzte. Auf verschlungenen Wegen hatte Riegner einen Bericht von Eduard Schulte erhalten, einem deutschen Großindustriellen, der Zugang zu hohen nationalsozialistischen Kreisen hatte und mehrfach den Alliierten strategische Informationen lieferte, bevor er 1943 selbst in die Schweiz floh. Schulte teilte mit, daß im Führerhauptquartier ein Plan zur vollständigen Vernichtung der europäischen Juden gefaßt worden sei. Die Juden sollten im Osten zusammengetrieben und mit Blausäure getötet, die Leichen in Krematorien verbrannt werden. Riegner konnte die Nachricht selbst kaum glauben.[392] Seine Wahrnehmung wird in der Literatur wie folgt zusammengefaßt:

Riegner stand vor derselben Frage, die sich alle Menschen stellten, sobald sie mit der Realität des Holocaust konfrontiert wurden. Noch hatte man Vergleichbares nicht erlebt. Von den Massentötungen der Juden im Osten hatte man Kenntnis erlangt, man stand der Tatsache fassungslos gegenüber und reagierte mit Abscheu, aber man wollte darin immer nur örtlich begrenzte Ausbrüche antisemitischer Barbarei erkennen. Daß da nach einem Plan gehandelt wurde, der auf die totale Vernichtung des jüdischen Volkes abzielte, konnte nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden, weil dem Gedanken in der westlichen, zivilisierten Welt eine Denkhemmung entgegenstand.[393]

Riegner war ein aus Deutschland emigrierter Jude, der für einen jüdischen Verband arbeitete. Er hatte Verfolgungsmaßnahmen am eigenen Leib erlebt und aus nächster Nähe beobachtet, und dennoch fiel es ihm anfänglich schwer, dem Bericht Glauben zu schenken. In diesem Wahrnehmungsdilemma befanden sich nach Einschätzung der Literatur nicht nur er, sondern die Mehrzahl seiner Zeitgenossen. Marcuse und Neumann kann es nicht anders gegangen sein, als sie erstmals die Nachrichten von der systematischen Ermordung der Juden vernahmen.[394]

Auch das offizielle Washington wurde in Kenntnis gesetzt. Riegner hatte das State Department gebeten, sein Telegramm an Rabbi Stephen Wise in New York weiterzuleiten, der Präsident des American Jewish Congress und ein Bekannter von Präsident Roosevelt war. Die Beamten des State Department verhinderten dies jedoch. Die Bürokratie des State Department war immer wieder bestrebt, öffentliches Aufsehen zu vermeiden und Initiativen zur Rettung jüdischer Flüchtlinge zu behindern. Als das Telegramm auf anderem Wege an Wise gelangte, entwickelte sich eine neue Dynamik. Der Wendepunkt war im November 1942, als Wise mit Unterstützung von Sumner Welles, dem stellvertretenden Außenminister, mit der Nachricht vom systematischen Genozid an den Juden vor die Presse trat. Am 8. Dezember 1942 empfing daraufhin Präsident Roosevelt jüdische Repräsentanten zu einem Gespräch über die Schreckensnachrichten. Resultat war eine am 17. Dezember 1942 verabschiedete gemeinsame Erklärung der Alliierten. Darin wurden die Ausrottung der Juden verurteilt und den Tätern strafrechtliche Konsequenzen als Kriegsverbrecher angedroht.[395]

Seit Ende des Jahres 1942 war man also in der amerikanischen Öffentlichkeit über den Holocaust informiert, auch wenn man sich das Ausmaß der Verbrechen noch nicht recht vorstellen konnte. Trotz der anfänglichen Zurückhaltung der immer noch ungläubigen Medien entstand bald in der Öffentlichkeit ein „Bewußtsein für die Tragödie des europäischen Judentums“. Einer Umfrage vom Januar 1943 zufolge hielten 47 Prozent der befragten Amerikaner die Nachricht für zutreffend, daß im deutschen Machtbereich bisher zwei Millionen Juden ermordet worden waren, wohingegen 29 Prozent der Amerikaner diese Meldungen als ein Gerücht ansahen. Zu einer breiteren Kenntnis trug auch der Einsatz jüdischer Organisationen und christlicher Kirchen bei, die Hilfsmaßnahmen für die bedrohten Juden forderten.[396]

Umfassendere Hilfsmaßnahmen wurden jedoch immer wieder von der Bürokratie des State Department vereitelt, oftmals gemeinsam mit britischen Behörden. Während die Führung des Ministeriums, besonders Sumner Welles, den Nöten der Juden aufgeschlossen war, blockierte die mittlere Führungsebene des für die Visaerteilung zuständigen Apparates immer wieder Rettungsinitiativen. Die Bürokratie war nicht bereit, Einmischungen von außen in ihre Belange zuzulassen. Außerdem war in den Rängen des State Department bei nicht wenigen eine antisemitische Grundhaltung zu beobachten, die den Einsatz für jüdische Flüchtlinge lähmte. Vor diesem Hintergrund ergriff im Dezember 1943 Finanzminister Morgenthau die Initiative. Monatelang waren Anordnungen seines Ministeriums zur finanziellen Regelung der Judenrettung von Beamten des State Department hintertrieben worden. Morgenthau beschwerte sich bei Außenminister Cordell Hull über die Obstruktionshaltung und den Antisemitismus der Beamten.[397] Am 16. Januar 1944 wurde der Präsident eingeschaltet, Morgenthau legte eine Denkschrift über die Verfehlungen des State Department vor.[398]

Ergebnis war am 22. Januar 1944 die Einrichtung einer eigenständigen Flüchtlingsbehörde – des War Refugee Board (WRB). Dem State Department wurde die Flüchtlingskompetenz entzogen. Der neuen Behörde gelang es, etliche Juden zu retten, aber insgesamt war ihr kein großer Erfolg beschieden, auch wegen mangelnder finanzieller Ausstattung. Einige Tausend aber, wie die von Raoul Wallenberg aus Budapest geretteten Juden, konnten durch die Hilfe des WRB aus dem deutschen Machtbereich entkommen. Allerdings war die deutsche Mordmaschinerie schon so fortgeschritten, daß es nur noch relativ wenige Flüchtlinge gab, denen geholfen werden konnte.[399]

Die vorangehend knapp skizzierten Sachverhalte sind der Anlaß für heftige Auseinandersetzungen unter amerikanischen Historikern. Die Grundfrage dieses Streits lautet, ob die USA mehr zur Rettung der europäischen Juden hätten tun können. Diese Frage spaltet sich in zwei Bereiche auf – die Flüchtlings- und Einwanderungspolitik sowie die Frage einer Bombardierung von Auschwitz, nachdem man von den dort verübten systematischen Massenmorden erfahren hatte.[400] Die Grundfrage des Historikerstreits rührt an das Selbstverständnis der amerikanischen Nation als Zuflucht aller Flüchtlinge, was die Debatte emotional und moralisch aufgeladen hat.[401]

Es steht fest, daß die USA über 100 000 jüdische Flüchtlinge aus dem deutschen Machtbereich aufnahmen. Das war mehr, als irgendein anderes Land getan hat, aber nach Meinung vieler war es weniger, als die USA gemessen an Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft hätten tun können.[402] Drei Gründe werden von den Kritikern der Regierungspolitik immer wieder herausgearbeitet, die erklären sollen, warum die Reaktion der USA auf den Holocaust so ausfiel. Demnach nahmen erstens die gewählten Politiker auf die wirtschaftlichen Ängste ihrer Wähler Rücksicht und schotteten den Arbeitsmarkt ab. Zweitens gab es besonders im State Department, aber auch im amerikanischen Kongreß und in der Bevölkerung starke antisemitische, fremdenfeindliche und isolationistische Tendenzen, die wechselseitig ein Engagement für verfolgte Juden erschwerten. Drittens bewirkte der Regierungsstil von Präsident Roosevelt eine strukturelle Schwächung aller Initiativen. Nur wer sich bereits gegen andere Minister oder Behörden durchgesetzt hatte, konnte mit der Unterstützung des Präsidenten rechnen.[403] Dem Präsidenten selbst wird ein persönliches Interesse am Schicksal der Juden nachgesagt. Doch wurde sein Einsatz gebremst von politischem Pragmatismus und Rücksichten auf die antisemitische Wählerschaft.[404]

Andererseits wird zur Entlastung der Regierung vorgebracht, daß damals der Holocaust noch nicht sichtbar war, nur einzelne Verfolgungs- und Vernichtungsmaßnahmen, die erst später zu einem Gesamtbild zusammengesetzt wurden. Der Holocaust konnte noch nicht in seiner vollen Tragweite erfaßt werden. Zweitens bestand vor 1939 nach Ansicht einiger Forscher für Amerika keine Dringlichkeit in der Flüchtlingsfrage, die Suche nach Neuansiedlungsgebieten hatte Vorrang vor der Einwanderung in die USA. Drittens gab es strukturelle Zwänge, die nicht immer mit bösen Absichten zu tun hatten. Zwar leisteten State Department und Kongreß Widerstand gegen eine Erleichterung der Einwanderungsbestimmungen. Aber auch die strategischen Prioritäten zielten in diese Richtung – Vorrang hatte im Krieg der Sieg, der auch den Juden die Befreiung bringen sollte. Erschwerend kam hinzu, daß für die amerikanische Politik wie in der amerikanischen öffentlichen Wahrnehmung der Hauptfeind Japan hieß.[405]

Noch schwieriger ist eine Lösung der Frage, ob man Auschwitz hätte bombardieren sollen. Ob dies militärisch möglich und ob es überhaupt sinnvoll gewesen wäre, bleibt bis heute heftig umstritten. Es ist kein klares Ergebnis dieser Debatte zu erkennen. Die eine Seite führt technisch-strategische Hindernisse an, die andere moralische Indifferenz, Antisemitismus und politische Berechnung. Im Kern ist diese Debatte zu einer moralischen Angelegenheit geworden, sachlich sehen sich beide Seiten im Recht, ein Historiker spricht von einem „Dialog der Gehörlosen“.[406] Bei alldem darf nicht vergessen werden, daß der Hauptschuldige Deutschland hieß und die Täter Deutsche sowie ihre Verbündeten waren. Es bestanden insgesamt nur wenige Möglichkeiten der USA, nach Beginn des Mordens weitere bedeutende Rettungsaktionen durchzuführen. Dessenungeachtet wäre jedes gerettete Leben ein Erfolg gewesen.[407]

Zwei Ergebnisse sind insgesamt festzuhalten: Seit Ende des Jahres 1942 verfügte die amerikanische Öffentlichkeit über zunehmend genauere Nachrichten von der Ermordung der europäischen Juden. Diese Schreckensmeldungen wurden wahrgenommen, und man war darüber erschüttert. Aber, das ist der zweite Befund, diese Meldungen wurden anfänglich nicht in ihrer gesamten Tragweite begriffen. Diese lag außerhalb des Denkbaren. Nur langsam setzte man die Berichte zu einem Gesamtbild der Vernichtungspolitik zusammen. Die zeitgenössische Wahrnehmung des Holocaust in den USA war nicht identisch mit der Wahrnehmung dessen, was wir heute als „den Holocaust“ verstehen.[408] Man darf nicht vergessen, daß sich die USA in einem Krieg befanden, der ihre Aufmerksamkeit vorrangig beanspruchte: „Der Mord an den europäischen Juden war, insofern sein Vollzug überhaupt bemerkt oder als wirklich anerkannt wurde, nur eine der zahllosen Dimensionen eines Konflikts, der mehreren zehn Millionen Menschen auf dem ganzen Erdball das Leben kostete.“[409]

Mit zunehmender Kenntnis der Verbrechen ist jedoch eine stärkere Reaktion auf die schrecklichen Meldungen festzustellen. Verschiedene Hilfsmaßnahmen wurden ergriffen, aber eine endgültige Rettung der Juden konnte in den Augen aller und auch der überwältigenden Mehrheit der amerikanischen Juden nur ein vollständiger Sieg der Alliierten im Krieg gegen Hitler herbeiführen. Das alles gilt für die amerikanische Öffentlichkeit ebenso wie für die amerikanische Regierung, und es gilt, wie die Ergebnisse der vorangehenden Kapitel zeigen, auch für deutsch-jüdische Emigranten wie Marcuse und Neumann, deren schriftliche Reaktionen im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit standen.


5. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung [back to contents]

(1) Die Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung im amerikanischen Exil vertraten ursprünglich eine funktionalistische Deutung von Antisemitismus und Judenverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland. Die deutsch-jüdischen Emigranten der Frankfurter Schule wurden auch Zeitgenossen des Holocaust. Ihre Wahrnehmung war von Versuchen geprägt, die Nachrichten vom Judenmord in den Rahmen ihrer rationalen, funktionalistischen und marxistisch grundierten Theorien einzuordnen. Daß die Ermordung der europäischen Juden ein eigenständiges Hauptziel der Nationalsozialisten sein könnte, war für sie nicht vorstellbar. Dennoch erkannte Franz Neumann auch irrationale Elemente der Vernichtungspolitik, die sich einer rationalen Erklärung entzogen. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno entwarfen als zeitgenössische Reaktion auf die Nachrichten über Auschwitz eine pessimistische Geschichtsphilosophie, die eine Theorie der Ursachen des Antisemitismus enthält.

(2) Der amerikanische Nachrichtendienst OSS bot im Zweiten Weltkrieg vielen Emigranten die Möglichkeit, einen Beitrag zum Kampf gegen den Nationalsozialismus zu leisten. Mitarbeiter der Forschungs- und Analyseabteilung des OSS wurden auch die zuvor mit dem Institut für Sozialforschung verbundenen deutsch-jüdischen Emigranten Otto Kirchheimer, Franz Neumann und Herbert Marcuse. Sie waren in einer Atmosphäre fruchtbarer Zusammenarbeit mit amerikanischen Wissenschaftlern und anderen Emigranten hauptsächlich mit Planungen für die amerikanische Besatzungspolitik in Deutschland und später mit Vorbereitungen für die Nürnberger Prozesse beschäftigt. Ihre Arbeit hatte strategischen Prioritäten zu dienen und bürokratischen Vorgaben zu folgen.

(3) Herbert Marcuses zeitgenössische Wahrnehmung des Holocaust stand im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit. Seine theoretischen Schriften der Jahre 1941/42 verraten ein differenziertes Verständnis der nationalsozialistischen Ideologie, das dennoch zu funktionalen Erklärungen des Antisemitismus tendiert. An manchen Stellen scheint aber die Erkenntnis auf, daß es sich beim Antisemitismus um ein eigenständiges und für den Nationalsozialismus zentrales Phänomen handelt. Auch erste Nachrichten von der Vernichtungspolitik werden zur Kenntnis genommen. Marcuse deutete bereits 1942 an, daß dem Leid der vom Nationalsozialismus Verfolgten keine künstlerische Darstellung gerecht werden kann. Eine ähnliche Ansicht wiederholt er 1945. Während seiner Zeit im OSS vom Jahr 1943 an war Marcuse zunächst nur wenig mit den Meldungen über den Genozid an den Juden befaßt.

Mit der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse verlagerte sich der Schwerpunkt seiner Arbeit jedoch auf die Dokumentation der nationalsozialistischen Verbrechen. Das gilt auch für Franz Neumann und andere Mitarbeiter der für Mitteleuropa zuständigen Abteilung im OSS. In ihren Berichten wurde die Ermordung der europäischen Juden wiederholt thematisiert. Die systematische Natur des Völkermords wurde herausgestellt. Als Mordmethoden wurden Massenerschießungen und Gaskammern in Vernichtungslagern genannt. Die Verstrickung weiter Kreise in das Mordprogramm wurde aufgedeckt. Soweit die bekannt gewordenen Einzelheiten in größere Zusammenhänge eingeordnet wurden, neigten die Mitarbeiter des OSS häufig zu funktionalen Erklärungen der Vernichtungspolitik. Dazu trugen bereits entwickelte Wahrnehmungsmuster bei, auf die man im Arbeitsalltag zurückgreifen konnte, aber ebenso die juristischen Vorgaben, die den Mord an den Juden als Teil einer Verschwörung zum Angriffskrieg sehen mußten, um die Verantwortlichen als Kriegsverbrecher überführen zu können.

In den wenigen privaten Zeugnissen Marcuses, die aus den fraglichen Jahren vorliegen, ist ein aufmerksamer Zeitgenosse des Holocaust zu beobachten, der immer mehr die funktionalen Erklärungen hinter sich läßt und die zentrale Stellung des Antisemitismus und des Völkermords an den Juden in der nationalsozialistischen Ideologie und Politik zu erkennen beginnt. Wenige Jahre nach Kriegsende wird in Briefen deutlich, wie sehr der Holocaust Marcuse persönlich beschäftigte. Das Wesen des Nationalsozialismus bestand für ihn in der Ermordung der europäischen Juden und der Zerstörung der westlichen Zivilisation. Während seine Wahrnehmung des Holocaust zuvor in unterschiedlichen Abstufungen immer auch von funktionalen Erklärungen geprägt war, fand er nun zu einer von funktionalen Elementen völlig freien Wahrnehmung des Holocaust, die das Ungeheure und Einzigartige der Vernichtung der europäischen Juden begreift.

Es scheint, als habe Marcuse der Distanz zu theoretisch-wissenschaftlichen Zusammenhängen bedurft, um diese Einsichten zu formulieren. Im privaten Schutzraum des Briefes konnte er seine persönlichsten Ansichten äußern, die sich der völlig neuen Dimension des Holocaust bewußt wurden. Marcuses zeitgenössische Wahrnehmung des Holocaust ist von Widersprüchen gekennzeichnet. Seine Wahrnehmung war von äußeren Umständen und inneren Einsichten abhängig, und in seinem Innern wiederum trafen lange gehegte Theorien auf neue Nachrichten und schmerzliche, womöglich traumatisierende Erfahrungen, die mit Hilfe dieser Theorien immer weniger zu verstehen waren. Was er erfuhr, wurde in bestehende Deutungsmuster eingeordnet, bis diese zerbrachen oder schrittweise aufgegeben wurden. Die institutionellen, theoretischen und persönlichen Konflikte, in denen Marcuse seine Wahrnehmung des Holocaust ausbildete, machen sichtbar, was es hieß, ein Zeitgenosse des Holocaust zu sein. In der historischen Verdeutlichung dieses schwierigen und vielschichtigen Wahrnehmungsprozesses sieht die vorliegende Arbeit ihr eigentliches Anliegen. Marcuse war ein Zeuge des Holocaust.

(4) Was auf Marcuse zutrifft, gilt im allgemeinen auch für die amerikanische Öffentlichkeit und die amerikanische Regierung. Es war für die Zeitgenossen des Holocaust überaus schwer, die volle Tragweite der Judenmords zu erfassen. Seit Ende des Jahres 1942 waren Regierung und Öffentlichkeit über das systematische Mordprogramm der Nationalsozialisten informiert. Trotz dieser und weiterer Nachrichten blieb die Dimension der Verbrechen für viele unvorstellbar. Zudem handelte es sich nur um einen, wenn auch einen besonders erschütternden Teil der Nachrichten in einem Weltkrieg, der an vielen Fronten über fünfzig Millionen Tote forderte. Der Blick der Zeitgenossen auf den Holocaust wurde immer wieder durch andere Nachrichten abgelenkt. Die Reaktion der amerikanischen Regierung ist Gegenstand einer Forschungsdebatte, die nach Gründen für die schwache Hilfe für jüdische Flüchtlinge sucht. Dennoch bleibt festzuhalten, daß im Vergleich keine Nation so viel für die Rettung der Juden getan hat wie die USA. Man muß auch bedenken, daß in den Augen fast aller Zeitgenossen des Holocaust die beste und endgültige Hilfe für die Juden darin bestand, daß die Alliierten den Krieg gewinnen.

(5) Zuletzt ist die Frage angebracht, wie Marcuse in späteren Jahren den Holocaust betrachtete. Blieb er bei der Sicht, die er in den Briefen von 1947/48 entworfen hatte? Die Beschäftigung mit Auschwitz war nach dem Krieg das geistige Zentrum der einst im amerikanischen Exil mit dem Institut für Sozialforschung verbundenen Denker. Die Aufmerksamkeit der Forschung konzentriert sich dabei auf Adorno.[410] Mit der „Dialektik der Aufklärung“ beginnend, versuchen seine späteren Werke immer wieder, die Bedeutung von Auschwitz zu denken. Sein opus magnum „Negative Dialektik“ von 1966 schließlich kreist um einen neuen kategorischen Imperativ: Handle so, daß sich Auschwitz nie wiederholt. Besondere Berühmtheit hat ein anderes, 1949 formuliertes und 1951 veröffentlichtes Diktum Adornos erlangt: „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Aufklärung und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“[412] Weder Kunst noch Theorie können demnach den Schrecken des Holocaust gerecht werden. Wie in der vorliegenden Arbeit ausgeführt, gelangte Marcuse bereits 1942 und 1945 zu ähnlichen Ansichten, auch wenn diese nur am Rande fallen und nicht, wie bei Adorno später, das Zentrum seiner Äußerungen bilden.

Anders als Adorno machte Marcuse den Holocaust nicht zum manifesten Mittelpunkt seines Denkens. Daß er sich später „nicht systematisch und erschöpfend mit jener Periode und den mit ihr verbundenen Ereignissen auseinandergesetzt“ hat, „könnte den Eindruck einer gewissen historischen Nachlässigkeit, einer Distanz jenem Ereignis gegenüber erwecken“, bemerkt Zvi Tauber, der Marcuses Deutung von Auschwitz nach 1945 untersucht hat.[413] Zu seinen frühen Schriften, die in der Alternative „Barbarei oder Sozialismus“ denken und eine Kontinuitätslinie vom liberal-demokratischen Gesellschaftssystem zur totalitären Herrschaft ziehen, bemerkte Marcuse 1964 jedoch: „Daß all dies vor Auschwitz geschrieben wurde, trennt es so tief von der Gegenwart.“[414] Explizit bedeutet das an dieser Stelle, im Rückblick sei keine ökonomische Erklärung von Auschwitz mehr zulässig. Der Holocaust scheint ihm hier das zentrale Ereignis seines Lebens zu sein. Ist also auch Marcuses Deutung des Holocaust nach 1945 von Gegensätzen gekennzeichnet?

Der theoretische Befund steht fest: Marcuse hat „uns keine Erklärung des industriellen Massenmords hinterlassen, keine Antwort auf die Frage nach dem Logos von Auschwitz, vor allem keine Deutung der universellen Bedeutung der Vernichtung der europäischen Juden.“[415] Dennoch spielte der Holocaust eine wichtige Rolle im Denken des späten Marcuse. Einerseits gebrauchte Marcuse Auschwitz als universellen Begriff für die Schrecken und Grausamkeiten der Geschichte. Daraus resultierten Vergleiche, die in politischer Absicht faktisch die Bedeutung des Holocaust relativieren. Diese Bilder von Auschwitz nahmen zu, als Marcuse zum Vorkämpfer gegen den Krieg in Vietnam wurde. Marcuse erwähnte Hunger, Folter und andere „aktuelle Ausformungen von Unterdrückung und Ausbeutung mit der Welt der Konzentrationslager und des Grauens der Massenvernichtung des öfteren in einem Atemzuge“.[416] In einem Brief an Horkheimer vom 17. Juni 1967 erklärte er sogar:

Laß mich meine Meinung so extrem wie möglich aussprechen. Ich sehe in Amerika heute den historischen Erben des Faschismus. Die Tatsache, daß die Konzentrationslager, die Morde, die Folterungen außerhalb der Metropole stattfinden (und meist Schergen anderer Nationalität überlassen werden) ändert nichts am Wesen. Was in Vietnam geschieht, sind Kriegsverbrechen und Verbrechen an der Menschheit. Die „andere Seite“ begegnet dem Terror mit Terror, aber sie hat weder Napalm noch „fragmentation bombs“, noch „saturation raids“. Und sie verteidigt ihr armseliges, mit entsetzlicher Mühe und mit schweren Opfern etwas menschlicher gewordnenes Leben, das die westlichen Machthaber mit der ganzen brutalen leistungsfähigen technischen Perfektion der westlichen Zivilisation systematisch aushungern, verbrennen, vernichten.[417]

Marcuses öffentliche Äußerungen waren weniger „extrem“, aber gleichen Sinnes. Er stellte immer wieder eine Nähe von Vietnam und Auschwitz her. Zweifel, ob das, was in Vietnam vor sich ging, „tatsächlich mit dem Völkermorden der Nazis gleichgesetzt werden“ konnte, kamen ihm scheinbar nicht.[418] Wie Tauber anmerkt, wollte Marcuse allerdings keinen empirischen Vergleich vornehmen, sondern einen tiefenpsychologischen Zusammenhang herstellen. Auschwitz und Vietnam werden zu verallgemeinerten Ereignissen einer Geschichte der „Fortzeugung von Gewalt“, zu „gleichwertige[n] Metapher[n] der Leidens- und Schreckensgeschichte der Menscheit“. Marcuses politisch motivierte Interventionen zielten darauf, diesen Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Dabei setzte er sich der Gefahr aus, durch Gleichsetzungen die wesentliche Besonderheit von Auschwitz zu annullieren.[419]

Das ist jedoch nicht das ganze Bild. Auch der späte Marcuse hatte noch eine andere Seite. Auch Tauber verweist auf die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Briefe an Heidegger, in denen Marcuse die Besonderheit der nationalsozialistischen Verbrechen benennt. Diese Einsicht kann er auch später nicht völlig vergessen haben, auch wenn sie seinem politischen Engagement im Wege stand. Ein weiteres Indiz für diese Haltung zu Auschwitz sieht Tauber in Marcuses Stellung zu Israel. Anders als seine politischen Äußerungen zu Vietnam vermuten lassen könnten, war Marcuse kein Gegner des Staates Israel. Seine Stellungnahmen zu Israel waren getragen von „emotionale[r] Beteiligung“. Für ihn bestand eine „Rechtfertigung des Staates Israel aus der jüdischen Erfahrung mit Verfolgung und Vernichtung“. Wie er 1971 anläßlich eines Besuchs in Israel erklärte, glaubte er,

daß das historische Ziel, das hinter der Gründung des Staates Israel stand, die Absicht der Verhinderung der Rückkehr von Konzentrationslagern, von Pogromen an Juden und allen anderen Formen von Verfolgung und Diskriminierung war. Dieses Ziel akzeptiere ich, zumal es meiner Meinung nach Teil des Kampfes um Freiheit und Gleichheit aller rassischen und nationalen Minderheiten darstellt, die in der ganzen Welt verfolgt werden.[420]

Marcuse bezeichnete sich damals sogar als Zionisten und meinte damit die Unterstützung von Israel als Zufluchtsland für verfolgte Juden. Dies war die erste, die nationale Folgerung für Israel, die Marcuse in diesem Zusammenhang aus Auschwitz zog. Zugleich zog er auch eine zweite, universelle Folgerung aus Auschwitz, wie aus dem vorangehenden Zitat ebenfalls deutlich wird. Ziel war die Beendigung aller Diskriminierung und Verfolgung. Aus diesem Grund kritisierte Marcuse auch die israelische Behandlung der Palästinenser. Im Jahre 1969 hatte er seine Lehren aus Auschwitz bereits für ein israelisches Publikum wie folgt zusammengefaßt: „Die Verknüpfung des Kampfes der Befreiung aller mit dem Kampf um die Sicherheit der Nation [Israel].“[421] Offensichtlich ging Marcuses persönliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust auch in späteren Jahren tiefer, als es seine politischen Aussagen über Vietnam und über die Gewaltgeschichte der Menschheit erkennen lassen.

Diese Vermutung von Tauber wird durch einen Fund im Marcuse-Archiv gestützt. Noch 1979 hatte Marcuse eine „Holocaust-Mappe“ angelegt. Darin hatte er teils unterstrichene und kommentierte Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitte gesammelt. Gegenstand der Artikel war zumeist die öffentliche Diskussion um die Ausstrahlung der Fernsehserie „Holocaust“.[422] Vielleicht wird hier seine lebenslange persönliche Auseinandersetzung mit dem Judenmord deutlich, vielleicht ist es nur das Zeichen einer erwachten Alterssensibilität, die ihrer jüdischen Wurzeln gedachte. Marcuse, der Zeitgenosse und Zeuge des Holocaust, der aus seiner geliebten deutschen Kultur vertrieben worden war,[423] geliebte Menschen durch die Mordtaten der Nationalsozialisten und spätere Tragödien des Lebens verloren hatte, zum Helden einer Generation von Linksintellektuellen erhoben worden und zuletzt von Alter und gesundheitlichen Beschwerden gezeichnet war, beschäftigte sich jedenfalls noch bis kurz vor seinem Tod am 29. Juli 1979 mit dem schrecklichsten Verbrechen, das die Menschheit je gesehen hatte und dem er selbst nur durch die Flucht nach Amerika entkommen war.

 


Notes

[1] In der vorliegenden Arbeit wird kein einzelner, starr wiederholter Begriff für die Ermordung der europäischen Juden gebraucht. Darin folgt sie Dominick LaCapra, Representing the Holocaust. History, Theory, Trauma, Ithaca/London 1994, S. 45 Anm. 5, der mit guten Argumenten dafür plädiert, synonym und gleichzeitig verschiedene Begriffe wie Holocaust, Schoah oder Auschwitz zu verwenden. Detlev Claussen, Die Banalisierung des Böden. Über Auschwitz, Alltagsreligion und Gesellschaftstheorie, in: Michael Werz (Hrsg.), Antisemitismus und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt, Frankfurt am Main 1995, S. 13-28, hier S. 16 f., hingegen spricht sich für die Verwendung von Auschwitz und gegen den Begriff Holocaust aus. Auschwitz steht meiner Meinung nach allerdings vorrangig für den industriellen Teil der Vernichtungspolitik in Vernichtungslagern. Die neuere deutsche Forschung wählt häufig auch den Begriff Vernichtungspolitik; vgl. Ulrich Herbert (Hrsg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939-1945. Neue Forschungen und Kontroversen, Frankfurt am Main 1998; Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München/Zürich 1998. Zu den Problemen des hebräischen Begriffs Schoah und des Begriffs Holocaust vgl. Israel Gutman, Vorwort des Hauptherausgebers, in: Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, 4 Bde., München/Zürich 1998, Bd. 1, S. ix-xv; Eberhard Jäckel, Vorwort zur deutschen Ausgabe, in: ebd., S. xvi-xix.

[2] Einen ersten Überblick bietet Ian Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 148-206, 329-355.

[3] Vgl. u.a. Saul Friedländer (Hrsg.), Probing the Limits of Representation. Nazism and the „Final Solution“, Cambridge, MA/London 1990; LaCapra, Representing the Holocaust; ders., History and Memory after Auschwitz, Ithaca/London 1998; ders., Writing History, Writing Trauma, Baltimore/London 2001.

[4] Zu den zahlreichen Debatten der letzten Jahre seien nur einige wenige Beispiele ausgewählt; vgl. u.a. Claussen, Die Banalisierung des Bösen; Johannes Heil/Rainer Erb (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit. Der Streit um Daniel J. Goldhagen, Frankfurt am Main 1998; Kershaw, Der NS-Staat, S. 356-403; Peter Novick, Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord, Stuttgart/München 2001; Ernst Piper (Hrsg.), Gibt es wirklich eine Holocaust-Industrie? Zur Auseinandersetzung um Norman Finkelstein, Zürich/München 2001; Frank Schirrmacher (Hrsg.), Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1999; Julius H. Schoeps (Hrsg.), Ein Volk von Mördern? Die Dokumentation zur Goldhagen-Kontroverse um die Rolle der Deutschen im Holocaust, Hamburg 51997.

[5] Vgl. u.a. David Bankier, Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat. Die „Endlösung“ und die Deutschen. Eine Berichtigung, Berlin 1995; Otto Dov Kulka/Aron Rodrigue, The German Population and the Jews in the Third Reich. Recent Publications and Trends in Research on German Society and the „Jewish Question“, in: Yad Vashem Studies 16 (1984), S. 421-435; Ian Kershaw, German Popular Opinion and the „Jewish Question“, 1939-1945, in: Arnold Paucker (Hrsg.), Die Juden im nationalsozialistischen Deutschland. The Jews in Nazi Germany, 1933-1945, New York 1986; Hans Mommsen/Dieter Obst, Die Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die Verfolgung der Juden 1933-1945, in: Hans Mommsen/Susanne Willems (Hrsg.), Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Studien und Texte, Düsseldorf 1985, S. 374-421.

[6] Vgl. u.a. Richard Breitman, Staatsgeheimnisse. Die Verbrechen der Nazis – von den Alliierten toleriert, München 1999; Martin Gilbert, Auschwitz and the Allies, New York/London 1981; Walter Laqueur, The Terrible Secret. An Investigation into the Suppression of Information about Hitler’s „Final Solution“, London 1980; ders./Richard Breitman, Der Mann, der das Schweigen brach. Wie die Welt vom Holocaust erfuhr, Frankfurt am Main/Berlin 1986; Michael J. Neufeld/Michael Berenbaum (Hrsg.), The Bombing of Auschwitz. Should the Allies Have Attempted It?, New York 2000; Monty Noam Penkower, The Jews were expandable. Free World Diplomacy and the Holocaust, Urbana/Chicago 1983; David S. Wyman, Das unerwünschte Volk. Amerika und die Vernichtung der europäischen Juden, Ismaning bei München 1986; ders. (Hrsg.), The World Reacts to the Holocaust, Baltimore/London 1996; ders./Rafael Medoff, A Race Against Death. Peter Bergson, America, and the Holocaust, New York 2002; aktueller Forschungsüberblick bei Novick, Nach dem Holocaust, S. 31-85; Günter Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste. Amerika und die jüdischen Flüchtlinge 1938-1945, Frankfurt am Main/New York 2003, bes. S. 205-258.

[7]   Vgl. u.a. Wyman, Paper Walls. America and the Refugee Crisis 1938-1941, Amherst 1968; Breitman/Alan M. Kraut, American Refugee Policy and European Jewry, 1933-1945, Bloomington/Indianapolis 1987; Michael R. Marrus, Die Unerwünschten. The Unwanted. Europäische Flüchtlinge im 20. Jahrhundert, Berlin/Göttingen/Hamburg 1999, S. 139-334; Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste.

[8] Vgl. den Forschungsüberblick durch Claus-Dieter Krohn/Patrik von zur Mühlen/Gerhard Paul/ Lutz Winckler (Hrsg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, Darmstadt 1998; und als umfangreiches Nachschlagewerk: Werner Röder/Herbert A. Strauss (Hrsg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, 3 Bde., München/New York/London/Paris 1980-1983.

[9]   Martin Jay, The Dialectical Imagination. A History of the Frankfurt School and the Institute of Social Research, 1923-1950, Berkeley/Los Angeles/London 1996, mit neuem Vorwort zu dem erstmals 1973 erschienenen Werk ebd., S. xi-xxiv; Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung, München 1988.

[10] Als Überblick vgl. Wolfgang Krieger, Die amerikanische Deutschlandplanung. Hypotheken und Chancen für den Neuanfang, in: Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine perspektivische Rückschau, München/Zürich 1995, S. 25-50.

[11] Christof Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler. Das Dritte Reich im Visier der amerikanischen Geheimdienste 1941 bis 1945, Stuttgart 1999. Über dieses Werk findet sich auch ältere Literatur zum Thema, die oftmals jedoch auf noch begrenzten Quellenbeständen beruht.

[12] Barry M. Katz, Foreign Intelligence. Research and Analysis in the Office of Strategic Services 1942-1945, Cambridge, MA/London 1989.

[13] Petra Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen über Deutschland 1942-1949, München 1995.

[14] Neuere Darstellungen setzen im Jahr 1939 einen Akzent und sehen in diesem Zeitraum den Beginn einer qualitativ neuen Phase der Judenverfolgung, die ab 1941 in die systematische Vernichtungspolitik mündete; vgl. u.a. Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 1: Die Jahre der Verfolgung 1933-1939, München 1998; Herbert, Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939-1945; Longerich, Politik der Vernichtung.

[15] Diesen Zusammenhang hat als für die frühe Frankfurter Schule bestimmend herausgearbeitet: Helmut Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Studien zur frühen Kritischen Theorie, Frankfurt am Main 1978. Allerdings schenkt Dubiel diesem Zusammenhang hinsichtlich der Wahrnehmung von Judenverfolgung und Judenmord keine Beachtung.

[16] Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, hrsg. von Gert Schäfer, Frankfurt am Main 1984.

[17] Die nachfolgend benutzte Ausgabe dieses vielfach gedruckten Werks ist Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 3: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1997.

[18] Jay, Frankfurter Schule und Judentum. Die Antisemitismusanalyse der Kritischen Theorie, in: Geschichte und Gesellschaft 5 (1979), S. 439-454; englische Fassung als ders., Permanent Exiles. Essays on the Intellectual Migration from Germany to America, New York 1985, S. 90-100.

[19] Anson Rabinbach, In the Shadow of Catastrophe. German Intellectuals between Apocalypse and Enlightenment, Berkeley/Los Angeles/London 1997, S. 166-198; ders., Why were the Jews Sacrificed? The Place of Anti-Semitism in „Dialectic of Enlightenment“, in: New German Critique 81 (2000), S. 49-64.

[20] Der mehrfach abgedruckte Aufsatz ist zuletzt erschienen in: Dan Diner, Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München 2003, S. 152-179.

[21] Vgl. u.a. Claussen, Grenzen der Aufklärung. Zur gesellschaftlichen Geschichte des modernen Antisemitismus, Frankfurt am Main 1987; ders., Vom Judenhaß zum Antisemitismus. Materialien einer verleugneten Geschichte, Darmstadt/Neuwied 1987, S. 201-212; Einzelbeiträge zu Leo Löwenthal, Horkheimer, Adorno, Marcuse, Walter Benjamin und anderen versammelt der sprichwörtlich gewordene Sammelband von Diner (Hrsg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main 1988; eine schwierig einzuschätzende Darstellung, die den Begriff der Frankfurter Schule sehr weit faßt und noch die linken Faschismustheorien der siebziger Jahre einbezieht, aber auch immer wieder Bemerkungen zu Adorno, Horkheimer und Neumann enthält, sich dabei grundsätzlich als korrigierend versteht und den Theorien die „geschichtliche Realität“ gegenüberstellt, ohne die historischen Bedingungen der Entwicklung dieser Theorien zu berücksichtigen, ist Erich Cramer, Hitlers Antisemitismus und die „Frankfurter Schule“. Kritische Faschismus-Theorie und geschichtliche Realität, Düsseldorf 1979.

[22] Vgl. Jay, The Dialectical Imagination, bes. S. 143-172; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, bes. S. 314-327, 390-423; in den Biographien verstreute Bemerkungen und Forschungen befinden sich in: Stefan Müller-Doohm, Adorno. Eine Biographie, Frankfurt am Main 2003, bes. S. 257-489; Claussen, Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie, Frankfurt am Main 2003; Lorenz Jäger, Adorno. Eine politische Biographie, München 2003, bes. S. 170-181, 195-205.

[23] Am wichtigsten scheint mir hier ein Interview mit Raul Hilberg zu sein, Pionier der Holocaust-Forschung und ein Schüler Franz Neumanns: Raul Hilberg/Alfons Söllner, Das Schweigen zum Sprechen bringen. Ein Gespräch über Franz Neumann und die Entwicklung der Holocaust-Forschung, in: Diner, Zivilisationsbruch, S. 175-200; vgl. außerdem manche Passagen in der nachfolgend angegebenen Literatur zu Neumann.

[24] Vgl. u.a. Rainer Erd (Hrsg.), Reform und Resignation. Gespräche über Franz L. Neumann, Frankfurt am Main 1985; Peter Intelmann, Franz L. Neumann. Chancen und Dilemma des politischen Reformismus, Baden-Baden 1996, S. 19-61, 224-278; Mattias Iser/David Strecker (Hrsg.), Kritische Theorie der Politik. Franz L. Neumann – eine Bilanz, Baden-Baden 2002; Bernd Ladwig, Die politische Theorie der Frankfurter Schule. Franz L. Neumann, in: André Brodocz/Gary S. Schaal (Hrsg.), Politische Theorien der Gegenwart. Eine Einführung, Bd. 1, Opladen 2002, S. 35-75; Gert Schäfer, Franz Neumanns Behemoth und die heutige Faschismusdiskussion, in: Neumann, Behemoth, S. 663-776; Alfons Söllner, Geschichte und Herrschaft. Studien zur materialistischen Sozialwissenschaft 1929-1942, Frankfurt am Main 1979; ders., Franz L. Neumann – Skizzen zu einer intellektuellen und politischen Biographie, in: Neumann, Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930-1954, hrsg. von Alfons Söllner, Frankfurt am Main 1978, S. 7-56.

[25] Vgl. Neumann, Behemoth, S. 131-168, 265-268, 509-530, 581-583.

[26] Zvi Tauber, Herbert Marcuse. Auschwitz und My Lai?, in: Diner, Zivilisationsbruch, S. 88-98.

[27] Vgl. Herbert Marcuse, Schriften, Bd. 4: Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Frankfurt am Main 1989.

[28] Marcuse, Collected Papers of Herbert Marcuse, Bd. 1: Technology, War, and Fascism, hrsg. von Douglas Kellner, London/New York 1998. – Eine deutsche Übersetzung einiger dieser Dokumente bei Marcuse, Feindanalysen. Über die Deutschen, hrsg. von Peter-Erwin Jansen, Lüneburg 1998.

[29] Vgl. Douglas Kellner, The Unknown Marcuse. New Archival Discoveries, in: Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. xiii-xvi, hier S. xv.

[30] Eine Einführung in die Quellen und ihre Entstehungsumstände bietet der Herausgeber Kellner, Technology, War, and Fascism. Marcuse in the 1940s, in: Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 1-38.

[31] Eine ausführliche Rezension des Bandes von John Abromeit, Book Review, in: Constellations 8 (2001), S. 148-155, hier S. 150, geht sehr schnell über diese Frage hinweg, ohne Marcuses Texte eingehender auf Spuren seiner Wahrnehmung des Holocaust zu untersuchen.

[32] Der wichtigste und umfassendste biographische Beitrag über Marcuse ist Katz, Herbert Marcuse and the Art of Liberation. An Intellectual Biography, London 1982. Die betreffenden Jahre werden behandelt ebd., S. 105-135.

[33] Söllner (Hrsg.), Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland. Analysen politischer Emigranten im amerikanischen Geheimdienst, Bd. 1: 1943-1945, Frankfurt am Main 1982.

[34] Jürgen Heideking/Christof Mauch (Hrsg.), Die USA und deutscher Widerstand. Analysen und Operationen des amerikanischen Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg, Tübingen/Basel 1993; dies. (Hrsg.), American Intelligence and the German Resistance to Hitler. A Documentary History, Boulder/Oxford 1996.

[35] Einen Überblick über die von ihnen hauptsächlich benutzten Quellenbestände geben Katz, Foreign Intelligence, S. 200; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 287-298.

[36] Vgl. unten, S. 75 f.

[37] Das soll den Leser in die Lage versetzen, selbst die Vielschichtigkeit dieser Dokumente zu erkennen. Damit wird theoretischen Erwägungen Rechnung getragen. Ein weiteres Ziel ist es, die Quellen selbst sprechen zu lassen und so zur Lebendigkeit und Lesbarkeit der Darstellung beizutragen. Den theoretischen Hintergrund bilden u.a. Überlegungen von Dominick LaCapra; vgl. dazu Tim B. Müller, Der „linguistic turn“ ins Jenseits der Sprache. Geschichtswissenschaft zwischen Theorie und Trauma. Eine Annäherung an Dominick LaCapra, in: Jürgen Trabant (Hrsg.), Sprache der Geschichte, München 2004, erscheint in Kürze.

[38] Darin unterscheidet sich diese Vorgehensweise von aus nachträglicher Perspektive gesprochenen Urteilen, die leicht den Gestus moralischer Vorhaltungen oder intellektueller Abrechnungen annehmen, wie etwa im genannten Buch von Cramer, Hitlers Antisemitismus, oder bei den nachfolgend in dieser Einleitung noch angeführten Beiträgen von Shlomo Aronson und Richard Breitman.

[39] Wichtige Untersuchungen und Überlegungen auf diesem Gebiet sind Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1984; François Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München/Zürich 1996; Tony Judt, Past Imperfect. French Intellectuals, 1944-1956, Berkeley/Los Angeles/Oxford 1992; ders., The Burden of Responsibility. Blum, Camus, Aron, and the French Twentieth Century, Chicago/ London 1998; Mark Lilla, The Reckless Mind. Intellectuals in Politics, New York 2001.

[40] Vgl. Jay, The Dialectical Imagination, S. 31-37, das Zitat ebd., S. 133.

[41] Vgl. Jay, Frankfurter Schule und Judentum; ders., Permanent Exiles, S. 90-100; zum Antisemitismus-Projekt auch ders., The Dialectical Imagination, S. 224-252; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 390-423.

[42] Katz, Foreign Intelligence, S. 57.

[43] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 55-57; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 77-79, 199, 201.

[44] Katz, The Holocaust and American Intelligence, in: Moses Rischin/Raphael Asher (Hrsg.), The Jewish Legacy and the German Conscience. Essays in Memory of Rabbi Joseph Asher, Berkeley 1991, S. 297-307, hier S. 305.

[45] Katz, The Holocaust and American Intelligence, S. 301.

[46] Breitman, Staatsgeheimnisse, S. 317 f.

[47] Vgl. Breitman, Staatsgeheimnisse, S. 317 f., Anm. 17, 18.

[48] Vgl. Shlomo Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial. The OSS, Charles Dwork, and the Holocaust, in: Holocaust and Genocide Studies 12 (1998), S. 257-281, hier S. 257-260.

[49] Vgl. Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 260-264, 274, 276.

[50] Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 269. Eine Erwähnung Marcuses im Zusammenhang mit Neumann erfolgt ebd., S. 272 f.

[51] Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 274.

[52] Vgl. dazu unten, Anm. 336.

[53] Abromeit, Book Review, S. 150.

[54] Vgl. dazu unten, Kapitel 3.2.2.

[55] Jeffrey Herf, One-Dimensional Man, in: The New Republic 220/5 (1. Februar 1999), S. 38-42, bes. S. 39 f., Zitat S. 40.

[56] Vgl. Katz, The Holocaust and American Intelligence, S. 301.

[57] Vgl. zur voranstehend nicht einmal flüchtig skizzierten Geschichte des Instituts für Sozialforschung in der Weimarer Republik, auf der Flucht und im amerikanischen Exil Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung; Jay, The Dialectical Imagination, S. 3-142; ders., Permanent Exiles, S. 28-61; Ulrike Migdal, Die Frühgeschichte des Instituts für Sozialforschung, Frankfurt am Main/New York 1981; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 9-292. – Nicht in Verbindung damit, sondern in politischer Distanz und fachlicher Konkurrenz stand die gleichzeitig in New York entstandene New School for Social Research, ebenfalls eine wichtige Anlaufstelle für Emigranten; vgl. Claus-Dieter Krohn, Wissenschaft im Exil. Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den USA und die New School for Social Research, Frankfurt am Main/ New York 1987.

[58] Zur Diskussion am Institut über den Nationalsozialismus vgl. Jay, The Dialectical Imagination, S. 143-172; Söllner, Geschichte und Herrschaft; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 314-327; Michael Wilson, Das Institut für Sozialforschung und seine Faschismusanalysen, Frankfurt am Main/New York 1982. Eine Sammlung wichtiger Diskussionsbeiträge am Institut liegt vor als: Horkheimer/Pollock/Neumann/Kirchheimer/Gurland/Marcuse, Wirtschaft, Staat und Recht im Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939-1942, hrsg. von Dubiel/Söllner, Frankfurt am Main 1981; der instruktiven Einleitung folgt die anschließende Skizze weitgehend: Dubiel/Söllner, Die Nationalsozialismusforschung des Instituts für Sozialforschung – ihre wissenschaftsgeschichtliche Stellung und ihre gegenwärtige Bedeutung, in: ebd., S. 7-31.

[59] Vgl. Dubiel/Söllner, Die Nationalsozialismusforschung, S. 14-17; die ausschlaggebenden Beiträge waren Pollock, State Capitalism. Its Possibilities and Limitations, in: Studies in Philosophy and Social Science 9 (1941), S. 200-225; ders., Is National Socialism a New Order?, in: ebd., S. 440-455; beides in deutscher Übersetzung in: Horkheimer et al., Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, S. 81-128.

[60] Vgl. Dubiel/Söllner, Die Nationalsozialismusforschung, S. 16-24, Zitat S. 28. Wichtige Beiträge zur oder Auszüge aus der Debatte enthält in deutscher Übersetzung Horkheimer et al., Wirtschaft, Staat und Recht im Nationalsozialismus, S. 129-336.

[61] Horkheimer, Die Juden und Europa, in: Zeitschrift für Sozialforschung 8 (1939), S. 115-137; Wiederabdruck in: Horkheimer et al., Wirtschaft, Staat und Recht im Nationalsozialismus, S. 33-53; beides wird zitiert; vgl. dazu Diner, Gedächtniszeiten, S. 156-162; Dubiel/Söllner, Die Nationalsozialismusforschung, S. 11-13; Jay, Frankfurter Schule und Judentum, S. 440 f.

[62] Horkheimer, Die Juden und Europa, S. 115 bzw. S. 33.

[63] Horkheimer, Die Juden und Europa, S. 121, 116 bzw. S. 39, 34. „Der Faschismus ist die Wahrheit der modernen Gesellschaft“, heißt es ebd., S. 116 bzw. S. 34.

[64] Horkheimer, Die Juden und Europa, S. 130 f. bzw. S. 48. Noch direkter formuliert: „Dieselbe Rationalität, nach der unterlegene Konkurrenten schon immer ins Proletariat versanken [...], diese ökonomische Zweckmäßigkeit hat jetzt auch den Juden das Urteil gesprochen. [...] Sie kommen unter die Räder. Andere als sie sind heute die Tüchtigsten: die Führer der neuen Ordnung in Wirtschaft und Staat“ (ebd., S. 130 bzw. 47).

[65] Horkheimer, Die Juden und Europa, S. 131 f. bzw. S. 48 f.

[66] Horkheimer, Die Juden und Europa, S. 133 bzw. S. 51.

[67] Vgl. Horkheimer, Die Juden und Europa, S. 129 f., 132 f., 135 f. bzw. S. 46 f., 50, 52 f.

[68] Horkheimer, Die Juden und Europa, S. 134 bzw. S. 51.

[69] Horkheimer, Die Juden und Europa, S. 131 bzw. S. 48.

[70] Selbst die bürgerlichen Philosophen kennen laut Horkheimer einen Feind, „der nicht dazugehört, nicht durch Verträge geschützt ist, hinter dem keine Macht steht, ein Fremder, ein bloßer Mensch, [der] restlos preisgegeben“ ist (Horkheimer, Die Juden und Europa, S. 134 bzw. S. 52). Auch in den Terrormaßnahmen erkennt Horkheimer nichts grundsätzlich Neues: „Der Terror, zu dem die herrschende Klasse dabei Zuflucht nimmt, ist seit Macchiavelli von den Autoritäten immer wieder empfohlen worden“ (ebd., S. 123 bzw. S. 41).

[71] Vgl. zu den voranstehenden zwei Absätzen Diner, Gedächtniszeiten, S. 152-162, Zitate S. 159 f.

[72] Vgl. zur Biographie von Marcuse und Neumann und besonders zu den oben skizzierten Lebensstationen Neumanns Erd, Reform und Resignation, S. 27-182, bes. 29-32, 47-53, 66-73, 83-95, 110-112, 114-131; Intelmann, Franz L. Neumann, S. 19-61; Katz, Herbert Marcuse, S. 13-135; Söllner, Franz L. Neumann; ders., Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration. Studien zu ihrer Akkulturation und Wirkungsgeschichte, Opladen 1996, S. 55-71, 166-196; ders., Neumann als Archetypus – die Formierung des „political scholar“ im 20. Jahrhundert, in: Iser/Strecker, Kritische Theorie der Politik, S. 39-55; Matthias Stoffregen, Franz L. Neumann als Politikberater, in: ebd., S. 56-74; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 113-123, 251-265, 327-338. Bibliographie seiner wissenschaftlichen Schriften in: Neumann, Behemoth, S. 777-784; ders., Wirtschaft, Staat, Demokratie, S. 460-467. – Ein Nachlaß von Franz Neumann, den man auf die vorliegenden Fragen untersuchen könnte, ist nicht erhalten; vgl. Söllner, Neumann als Archetypus, S. 42.

[73] Vgl. Intelmann, Franz L. Neumann, S. 45-50; Schäfer, Franz Neumanns „Behemoth“, S. 665 f.; Erd, Reform und Resignation, S. 109-122; der Erfolg Neumanns ging Horkheimer und Adorno offensichtlich zu weit – Neumann vertrat andere Ansichten als sie, war aber nun der einzige in den USA bekannte Vertreter des Instituts; vgl. ebd., S. 121 f.

[74] Kershaw, Der NS-Staat, S. 258 Anm. 50; diese Bemerkung ist der Ausgabe Reinbek bei Hamburg 1994 entnommen und in der ansonsten zitierten Ausgabe von 1999 nicht mehr enthalten; vgl. aber ebd., S. 45, 68, 96, 120, wo Neumanns „Behemoth“ u.a. als „meisterhaft“ bezeichnet wird; Schäfer, Franz Neumanns „Behemoth“, S. 665 f. mit Anm. 8.

[75] Vgl. Erd, Reform und Resignation, S. 120.

[76] Zum „Behemoth“ und zu seinen wichtigsten Thesen sowie zur Relevanz dieser Thesen aus heutiger Sicht vgl. Hilberg, Die bleibende Bedeutung des „Behemoth“, in: Iser/Strecker, Kritische Theorie der Politik, S. 75-82; Intelmann, Franz L. Neumann, S. 224-278; Jay, The Dialectical Imagination, S. 161-167; Richard Saage, Das sozio-politische Herrschaftssystem des Nationalsozialismus. Reflexionen zu Franz Neumanns „Behemoth“, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte Tel Aviv 10 (1981), S. 342-363; Schäfer, Franz Neumanns „Behemoth“; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 320-327.

[77] Neumann, Behemoth, S. 16.

[78] Neumann, Behemoth, S. 16 fährt fort: „Da wir glauben, daß der Nationalsozialismus ein Unstaat ist oder sich dazu entwickelt, ein Chaos, eine Herrschaft der Gesetzlosigkeit und Anarchie, welche die Rechte wie die Würde des Menschen ‘verschlungen’ hat und dabei ist, die Welt durch die Obergewalt über riesige Landmassen in ein Chaos zu verwandeln, scheint uns dies der richtige Name für das nationalsozialistische System.“ Vgl. die Zusammenfassung seiner Untersuchung ebd., S. 531-550.

[79] Neumann, Behemoth, S. 543

[80] Vgl. Neumann, Behemoth, S. 659-661.

[81] Neumann, Behemoth, S. 313.

[82] Neumann, Behemoth, S. 422.

[83] Neumann, Behemoth, S. 660 f.

[84] Schäfer, Franz Neumanns „Behemoth“, S. 698.

[85] Vgl. Neumann, Behemoth, S. 78-80, 271.

[86] Vgl. Neumann, Behemoth, S. 102 f.

[87] Vgl. zur charismatischen Herrschaft Neumann, Behemoth, S. 114-130.

[88] Neumann, Behemoth, S. 115.

[89] Neumann, Behemoth, S. 543.

[90] Vgl. Kershaw, Der NS-Staat, S. 96, 120; Schäfer, Franz Neumanns „Behemoth“, S. 682-695.

[91] Vgl. Neumann, Behemoth, S. 509-530.

[92] Vgl. unten, Kapitel 3.2.1., bes. Anm. 343; vgl. Joachim Perels, Franz L. Neumanns Beitrag zur Konzipierung der Nürnberger Prozesse, in: Iser/Strecker, Kritische Theorie der Politik, S. 83-94.

[93] Vgl. Neumann, Behemoth, S. 509 f.

[94] Vgl. Neumann, Behemoth, S. 516-523.

[95] Vgl. Neumann, Behemoth, S. 509 Anm. 75; Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, Hamburg 2001 unterscheidet in seiner Analyse des nationalsozialistischen Staates zwischen einem Maßnahmenstaat, der Unrecht praktiziert, und einem Normenstaat, der die Rechtsinstitutionen schützt. Im Zweifelsfall setzt sich der Maßnahmenstaat durch. Hinsichtlich der Differenzen von Fraenkel und Neumann muß man bedenken, daß Fraenkel früher schrieb als Neumann. Zum anderen ist der Unterschied in der Beurteilung des in beiden Fällen eingehend untersuchten deutschen Rechtssystem wohl eher gradueller als prinzipieller Natur; vgl. Erd, Reform und Resignation, S. 117 f.; Hilberg, Die bleibende Bedeutung des „Behemoth“, S. 79 f.; Intelmann, Franz L. Neumann, S. 273-278; Perels, Franz L. Neumanns Beitrag, S. 83 f.

[96] Neumann, Behemoth, S. 517.

[97] Neumann, Behemoth, S. 523, 529. Hilberg, Die bleibende Bedeutung des „Behemoth“, S. 79 f. mit Anm. 1 geht weiter auf diesen Gedanken ein und beschreibt zwei Fälle von vielen, in denen die Willkür des Gesetzes im Krieg auf Polen ausgedehnt wurde. Für Neumann gilt laut Hilberg: „Die Juden standen außerhalb des Rechts, allein schon weil sie nie voraussehen konnten, was ihnen im nächsten Moment widerfahren würde“. Das gibt Hilberg Anlaß zu fragen, ob hier nicht nur ein Zusammenbruch des Rechts und eine Auflösung rational begründeter Normativität zugrunde liegt, sondern vielmehr noch eine antisemitische Logik, die Neumann nicht ausreichend berücksichtigt. Hilberg verweist als Antwort jedoch darauf, daß für Neumann bereits die Voraussetzung, daß es überhaupt zur Entrechtung und Deportation der Juden kommen konnte, inakzeptabel war. Der Zusammenbruch des Rechts ging für ihn diesen rechtlosen Akten voraus, sie waren für ihn kein vorrangig antisemitisch begründeter Mißbrauch des Rechts, sondern antisemitische Maßnahmen in einem bereits rechtlosen Raum – denn wo es überhaupt solche Maßnahmen geben kann, gibt es bereits kein Recht mehr. Hier kommt sein qualifizierter Rechtsbegriff wieder zum Tragen, wonach eine Rechtsordnung bestimmte Kriterien erfüllen muß. Deren Nichterfüllung kann demzufolge eine Intervention von außen sogar in einem souveränen Staat begründen.

[98] Vgl. Neumann, Behemoth, S. 147-165.

[99] Neumann, Behemoth, S. 524. Von besonderer Bedeutung für diese Entwicklung war das Instrument der „Schutzhaft“; vgl. ebd., S. 523 f.

[100] Neumann, Behemoth, S. 530.

[101] Vgl. Neumann, Behemoth, S. 131-168, 265-268, 581-583.

[102] Vgl. Neumann, Behemoth, S. 131-136.

[103] Vgl. Neumann, Behemoth, S. 136-146.

[104] Neumann, Behemoth, S. 147.

[105] Neumann, Behemoth, S. 147 f.

[106] Zum Folgenden vgl. Neumann, Behemoth, S. 148-158.

[107] Neumann, Behemoth, S. 153.

[108] Neumann, Behemoth, S. 155 f.

[109] Neumann, Behemoth, S. 158.

[110] Vgl. Neumann, Behemoth, S. 158 f.

[111] Neumann, Behemoth, S. 159. Vgl. dazu Erd, Reform und Resignation, S. 120 f. Diese Ansicht wurde am Institut für Sozialforschung allgemein geteilt; vgl. Jay, Frankfurter Schule und Judentum, S. 442. – Neumanns Vertrauen in die deutsche Bevölkerung, insbesondere in die Arbeiterschaft, wird auch an anderer Stelle deutlich. Der Antisemitismus komme von oben, die deutschen Arbeiter samt ihren Organisationen seien insgesamt nicht anfällig für den Rassenimperialismus des Nationalsozialismus, betont Neumann, dagegen akzeptierten die „entwurzelten Mittelschichten“ die nationalsozialistische Ideologie; vgl. Neumann, Behemoth, S. 265-268.

[112] Neumann, Behemoth, S. 159.

[113] Neumann, Behemoth, S. 161 f. Obwohl diese Passage nicht eindeutig dem „totalitären Antisemitismus“ zugeordnet ist, kann man sie gar nicht anders lesen denn als eine Darstellung dieses Antisemitismus als Selbstzweck – denn hier stellen die Juden genau jene „Inkarnation des Bösen“ dar, die der „totalitäre Antisemitismus“ zum Inhalt hat. Vgl. auch ebd., S. 132, wonach der Antisemitismus „nicht nur als Mittel der Verfolgung, sondern als echte Lebensauffassung akzeptiert wird, die das gesamte nationalsozialistische Weltbild bestimmt.“

[114] Vgl. Neumann, Behemoth, S. 159-161.

[115] Vgl. Neumann, Behemoth, S. 162 f.

[116] Neumann, Behemoth, S. 163.

[117] Neumann, Behemoth, S. 163-165.

[118] Neumann, Behemoth, S. 165-168.

[119] Vgl. Neumann, Behemoth, S. 581-583.

[120] Neumann, Behemoth, S. 582.

[121] Neumann, Behemoth, S. 582 f.

[122] Hilberg, Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers, Frankfurt am Main 1994, S. 79.

[123] Vgl. Hilberg, Die bleibende Bedeutung des „Behemoth“.

[124] Vgl. Hilberg, Unerbetene Erinnerung, S. 54-58, 61-72, 74, 78 f.; ders./Söllner, Das Schweigen zum Sprechen bringen, S. 175-184.

[125] Hilberg/Söllner, Das Schweigen zum Sprechen bringen, S. 179; Hilberg, Unerbetene Erinnerung, S. 58, wo es aber in abmildernder Übersetzung heißt: „Das ist Ihr Untergang“; im englischen Wortlaut jedoch sagte Neumann: „It’s your funeral“ (ders., The Politics of Memory. The Journey of a Holocaust Historian, Chicago 1996, S. 66).

[126] Hilberg/Söllner, Das Schweigen zum Sprechen bringen, S. 178-180; vgl. Hilberg, Unerbetene Erinnerung, S. 58.

[127] Hilberg/Söllner, Das Schweigen zum Sprechen bringen, S. 180 f. – Die entscheidende Schwäche des „Behemoth“ ist für Hilberg, daß Neumann aufgrund der ihm zugänglichen Quellen die zentrale Rolle der SS und des Polizeiapparates „nicht wirklich verstand“ (ebd., S. 177).

[128] Hilberg, Unerbetene Erinnerung, S. 78.

[129] Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, 3 Bde., Frankfurt am Main 1990.

[130] Vgl. Gunzelin Schmid Noerr, Nachwort des Herausgebers. Die Stellung der „Dialektik der Aufklärung“ in der Entwickung der Kritischen Theorie. Bemerkungen zu Autorschaft, Entstehung, einigen theoretischen Implikationen und späterer Einschätzung durch die Autoren, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5: „Dialektik der Aufklärung“ und Schriften 1940-1950, hrsg. von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt am Main 1987, S. 423-452. – Die „Elemente des Antisemitismus“ finden sich in: Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 192-234.

[131] Vgl. bes. Diner, Gedächtniszeiten, S. 152-179; Rabinbach, In the Shadow of Catastrophe, S. 166-198; ders., Why Were the Jews Sacrificed?; Jay, Frankfurter Schule und Judentum; siehe auch ders., The Dialectical Imagination, S. 253-280; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 364-383; sowie die mehr philosophisch und soziologisch orientierten Darstellungen von Claussen, Grenzen der Aufklärung; ders., Vom Judenhaß zum Antisemitismus, S. 201-212; ders., Nach Auschwitz. Ein Essay über die Aktualität Adornos, in: Diner, Zivilisationsbruch, S. 54-68.

[132] Diese extrem verkürzte Darstellung der Hauptthese folgt Claussen, Vom Judenhaß zum Antisemitismus, S. 209-212, dort auch die Zitate.

[133] Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 192, 195; vgl. Rabinbach, In the Shadow of Catastrophe, S. 194.

[134] Vgl. bes. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 204-211.

[135] Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 194 f.

[136] Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 210.

[137] Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 199.

[138] Vgl. dazu bes. Rabinbach, In the Shadow of Catastrophe, S. 184-191, 194 f.; ders., Why Were the Jews Sacrificed?, S. 60-64.

[139] Vgl. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 211-225, Zitat S. 216.

[140] Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 224.

[141] Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 225.

[142] Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 211.

[143] Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 17: Briefwechsel 1941-1948, hrsg. von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt am Main 1996, S. 599; Brief Horkheimers aus Pacific Palisades an Isaac Rosengarten, Herausgeber der Zeitschrift „The Jewish Forum“, vom 12. September 1944.

[144] Vgl. Jay, The Dialectical Imagination, S. 167-172; Katz, Herbert Marcuse, S. 105-139, zum Eintritt in die Behörden bes. S. 107, 112-115 mit Anm. 8; ders., Foreign Intelligence, S. 26, 29-35; Kellner, Technology, War, and Fascism, S. 15-20; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 67-73; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 26 f., 67-74, 124-134; Söllner, Archäologie der deutschen Demokratie. Eine Forschungshypothese zur theoretischen Praxis der Kritischen Theorie im amerikanischen Geheimdienst, in: ders., Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd. 1, S. 7-37; ders., Wissenschaftliche Kompetenz und politische Ohnmacht. Deutsche Emigranten im amerikanischen Staatsdienst 1942-1949, in: Thomas Koebner/Gert Sautermeister/Sigrid Schneider (Hrsg.), Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und während der Besatzungszeit 1939-1949, Opladen 1987, S. 136-150; ders., „The Philosopher not as King“. Herbert Marcuses politische Theorie in den vierziger und fünfziger Jahren, in: Exilforschung 6 (1988), S. 108-122; beides auch in: ders., Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration, S. 118-132, 199-211; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 327-338. Marcuse arbeitete seit Dezember 1942 für das OWI und seit März 1943 für das OSS. Auch die Ehefrauen von Marcuse und Neumann waren zeitweise in Regierungsstellen beschäftigt, Inge Neumann wie auch Annemarie Holborn, die Frau des Historikers Hajo Holborn, ebenfalls im OSS, in der dessen Central Information Division eingegliederten Biographical Records Section, Sophie Marcuse als Statistikerin im Gegenspionagedienst der U.S. Army G-2.

[145] Die einzige ältere Darstellung, die immer noch bestehen kann, auch wenn sie aufgrund der damals noch schlechteren Quellenlage eine Globaldarstellung bietet, ist Bradley F. Smith, The Shadow Warriors. OSS and the Origins of the CIA, New York 1983; eine ursprünglich für den CIA-internen Gebrauch vorgesehene, mittlerweile freigegebene Studie, die einen umfangreichen Dokumentenanhang enthält, ist Thomas F. Troy, Donovan and the CIA. A History of the Establishment of the Central Intelligence Agency, Frederick, MD 1981. Eine aktuelle, für ein breiteres Publikum geschriebene Gesamtdarstellung der amerikanischen Geheimdienstaktivitäten im Krieg bietet Joseph E. Persico, Roosevelt’s Secret War. FDR and World War II Espionage, New York 2002. Neuere Literatur findet sich auch über George C. Constantinides, The OSS. A Brief Review of Literature, in: George C. Chalou (Hrsg.), The Secrets War. The Office of Strategic Services in World War II, Washington 1992, S. 109-117 und über Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler.

[146] Vgl. Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 291-302. Das OSS findet sogar wiederholte Erwähnung in einem der bedeutendsten Werke der amerikanischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel. Roman, Reinbek bei Hamburg 1981. An einer Stelle wird auf die auch im folgenden angedeuteten Differenzen zwischen OSS und OWI angespielt. Es wird von Mitarbeitern britischer Behörden erzählt, „die ihre kleinen grünen Antennen auf die nutzbaren Emanationen der Macht ausgerichtet haben, sich in der amerikanischen Innenpolitik auskennen (wo sie genau zwischen den New-Deal-Anhängern im Office of War Information und den betuchten Ostküstenrepublikanern beim Office of Strategic Services zu unterscheiden wissen)“ (ebd., S. 126).

[147] Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 25, 67-73, 114, 205-219.

[148] Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 33, 54; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 42-45; Smith, The Shadow Warriors; Troy, Donovan and the CIA.

[149] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 6-11, 14, 32-34, 125-127; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 24-33, 67-73, 114; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 42 f., 86-88; Smith, The Shadow Warriors, S. 121-129, 360-389; Troy, Donovan and the CIA, S. 73-80; Robin W. Winks, Getting the Right Stuff. FDR, Donovan, and the Quest for Professional Intelligence, in: Chalou, The Secrets War, S. 19-38. Berühmt ist Donovans Spruch: „I’d put Stalin on the OSS payroll if I thought it would help us defeat Hitler“ (Richard Harris Smith, OSS. The Secret History of America’s First Central Intelligence Agency, Berkeley/Los Angeles/London ²1981, S. 10). Ein ehemaliger Mitarbeiter des OSS wird mit der Aussage zitiert, Donovan habe „jeden ein[gestellt], von dem er glaubte, daß er zur Kriegführung auf eine Art und Weise beitragen werde, die sich von der der Militärs unterschied“ (Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 43).

[150] Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 43 zufolge war das FBI der Ansicht, Donovan habe Mitarbeiterlisten vernichten lassen, damit die Presse nichts von der Einstellung von Kommunisten und anderen „fragwürdigen Gestalten“ erfahre. In der McCarthy-Ära waren manche ehemalige Mitarbeiter des OSS Repressalien ausgesetzt, der gesamte Dienst galt als kommunistisch unterwandert; vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 12, 26, 61; Kellner, Technology, War, and Fascism, S. 27 Anm. 46; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 67, 114, 210; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 70 f.; Smith, The Shadow Warriors, S. 330 f., 368-370; Troy, Donovan and the CIA, S. 313.

[151] Zur Vorgeschichte des amerikanischen Geheimdienstwesens vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 15 f.; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 19-21; Troy, Donovan and the CIA, S. 3-21.

[152] Die treibende Kraft hinter Donovan wiederum war William S. Stephenson, der britische Geheimdienstkoordinator für Nordamerika in New York. Zum engen Verhältnis von Donovan und Stephenson sowie zur Bedeutung des Beitrags des britischen Nachrichtendienstes zu Donovans Reisen, zur amerikanischen Unterstützung Englands im Krieg und zur Einrichtung eines amerikanischen Geheimdienstes vgl. Troy, Wild Bill and Intrepid. Donovan, Stephenson, and the Origin of CIA, New Haven/London 1996. Darin wird aber auch die unter manchen Autoren verbreitete Legende widerlegt, Donovan sei sogar ein Agent der Briten gewesen.

[153] Das einzige Geheimnis, das ihm vorenthalten worden zu sein scheint, war ULTRA, die Entzifferung des deutschen Codes durch die britischen Geheimdienste; zu den Reisen vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 16-20; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 21 f., 33-42, 300; Smith, The Shadow Warriors, S. 3-54, bes. 40-54; Troy, Donovan and the CIA, S. 27-42; ders., Wild Bill and Intrepid, S. 19-92.

[154] Zum Szenario einer deutschen „Fünften Kolonne“ vgl. Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 33-42.

[155] Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 20-23; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 40-42; Smith, The Shadow Warriors, S. 55-68; Troy, Donovan and the CIA, S. 43-65.

[156] Der Wortlaut des Befehls ist abgedruckt bei Troy, Donovan and the CIA, S. 423; vgl. auch ebd., S. 65-116; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 23 f., 53-55; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 42-45; Smith, The Shadow Warriors, S. 69-78, 84-117.

[157] Der Wortlaut der Befehle ist abgedruckt bei Troy, Donovan and the CIA, S. 424-427; vgl. auch ebd., S. 117-153; Heideking/Mauch, USA und deutscher Widerstand, S. 2-6; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 53-58; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 86-92; Smith, The Shadow Warriors, S. 117-121, 140-144, 157-167; zum mit der institutionellen Trennung nicht endenden Konflikt zwischen OWI und OSS und zur Arbeit des OWI insgesamt vgl. Clayton D. Laurie, The Propaganda Warriors. America’s Crusade Against Nazi Germany, Lawrence 1996.

[158] Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 55 f.; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 92; Smith, The Shadow Warriors, S. 157-176; Troy, Donovan and the CIA, S. 155-177; ders., Wild Bill and Intrepid, S. 93-133.

[159] Vgl. Troy, Donovan and the CIA, S. 2, 24, 63, 68, 155-159, 168-172, 187-191, 196, 199-204, 314 Anm. 78; ders., Wild Bill and Intrepid, S. 130 f.; Persico, Roosevelt’s Secret War, S. 90 f., 187, 248 f., 360 f. Auch Mitarbeiter der wissenschaftlichen Forschungsabteilung R&A wie Carl Schorske, H. Stuart Hughes und Leonard Krieger bekleideten militärische Ränge, Hughes stieg bis zum Lieutenant Colonel (Oberstleutnant) auf; zur Karriere der drei vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 169-186.

[160] Der Wortlaut des Befehls ist abgedruckt bei Troy, Donovan and the CIA, S. 431-434; weitere Befehle waren nötig, um diese Stellung auszubauen; diese finden sich ebd., S. 436 ff. Vgl. ebd., S. 179-229; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 56-58; Smith, The Shadow Warriors, S. 140-176, 200-211.

[161] Vgl. Schaubild Nr. 1 unten, S. 129; einen ersten Überblick bieten Heideking/Mauch, USA und deutscher Widerstand, S. 6-8; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 23-32; Smith, The Shadow Warriors, S. 204-211. – Wie sehr Donovan bemüht war, im Krieg jede Möglichkeit auszuschöpfen, unterstreicht die zeitweilige Einrichtung einer Psychoanalytic Field Unit, geleitet von dem Psychoanalytiker Walter C. Langer, der unter anderem über die Psyche Hitlers aufklären sollte. Auch Allen W. Dulles, der Leiter des OSS-Büros in Bern, griff gelegentlich auf die Dienste des Tiefenpsychologen C. G. Jung zurück. Vgl. Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 89 f., 155 f.

[162] Zu London vgl. Felix Gilbert, Lehrjahre im alten Europa. Erinnerungen 1905-1945, Berlin 1989, S. 187-200; Katz, Foreign Intelligence, S. 23 f., 78-84, 103-128; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 54, 63 f.; Walt W. Rostow, The London Operation. Recollections of an Economist, in: Chalou, The Secrets War, S. 48-60; Arthur Schlesinger, Jr., The London Operation. Recollections of a Historian, in: ebd., S. 61-68; Troy, Donovan and the CIA, S. 115, 117. Die Vielfalt der Außenstellen wird deutlich durch regelmäßige Wechsel des Schauplatzes bei Smith, The Shadow Warriors.

[163] Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 27 f., 67-74. Beispielsweise wurde eine Zeitlang in Zusammenarbeit mit anderen Regierungsstellen wie dem State Department die Einrichtung einer deutschen Exilvertretung mit Thomas Mann an der Spitze erwogen; vgl. ebd., S. 115-124. Anfang der 1950er Jahre erinnerte George F. Kennan an die Verdienste der FNB und plädierte dafür, eine derartige Abteilung erneut einzurichten; vgl. ebd., S. 294 mit Anm. 16.

[164] Kurze Beschreibung bei Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 26 f.; Smith, Shadow Warriors, S. 69-78; umfangreichere Darstellung ebd., S. 360-389. Umfassend befassen sich mit der Arbeit von R&A oder einzelner Abteilungen Katz, Foreign Intelligence; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen; Söllner, Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd. 1; die Erinnerungsliteratur ist zahlreich, auf deutsch vgl. Erd, Reform und Resignation, S. 151-182; Gilbert, Lehrjahre im alten Europa, S. 187-230.

[165] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 2-5; Smith, The Shadow Warriors, S. 361; zum ausgezeichneten Ruf von R&A vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 7-9 (dort unter anderem das zeitgenössische Urteil des britischen Geheimdienstkoordinators für Nordamerika, William S. Stephenson, der R&A „the most brilliant team of analysts in the history of intelligence“ nannte), 24, 30, 33, 57, 64 f., 207 f., 215 f.; Troy, Donovan and the CIA, S. 85, 133, 311.

[166] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 5-13; ders., The OSS and the Development of the Research and Analysis Branch, in: Chalou, The Secrets War, S. 43-47.

[167] Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 25-33, 59; Katz, Foreign Intelligence, S. 3-8. Laut ebd., S. 20, nannte Langer eine fünfzigbändige Ausgabe der Werke Rankes, die er während der deutschen Inflation für einen Liedvortrag in Leipzig erstanden hatte, sein kostbarstes Eigentum. In seiner Autobiographie geht Langer ausführlich auf seinen Einsatz im OSS ein: William L. Langer, In and Out the Ivory Tower. The Autobiography of William L. Langer, New York 1977.

[168] Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 56 f.; Smith, The Shadow Warriors, S. 363; Troy, Donovan and the CIA, S. 133 und die Dokumente S. 431-434, 436-442.

[169] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 13-21; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 58-66; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 26 f. Siehe auch die im weiteren Verlauf dieses Kapitels erwähnten Beispiele.

[170] Von besonderer Bedeutung während des Krieges waren der Beitrag der R&A-Branch zum Civil Affairs-Programm des War Department und die Planungen der R&A-Wirtschaftswissenschaftler in London für den Bombenkrieg. Von beidem wird noch die Rede sein, wie auch davon, welche wichtige Rolle R&A in der Morgenthau-Kontroverse spielte. Zum Umfang der Nutzung von R&A-Studien vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 65 mit Anm. 74, 165-168, 270-272; verstreute Bemerkungen bei Smith, The Shadow Warriors, S. 373-386.

[171] Vgl. Schaubild Nr. 3 unten, S. 131; Katz, Foreign Intelligence, S. 17, 34 f.; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 60 f.

[172] Vgl. Schaubild Nr. 2 unten, S. 130; Katz, Foreign Intelligence, S. 17, 21-27; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 24-33, 53-66; Smith, The Shadow Warriors, S. 371. Die angegebene Gliederung ist „idealtypisch“, während des gesamten Krieges kam es immer wieder zu kleineren oder größeren organisatorischen Veränderungen innerhalb des OSS. Ein Bild vom materiellen Umfang der in R&A geleisteten Arbeit vermittelt Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 64. Demnach wurden bis Kriegsende etwa 3000 Studien erstellt, von wenigen Seiten umfassenden Papieren bis zu Handbüchern von 1500 Seiten. Die Materialsammlung umfaßte 3 Millionen Karteikarten, 300 000 Photos, 300 000 „intelligence documents“, 1 Million Karten, 350 000 Ausgaben ausländischer Serienpublikationen, 50 000 Bücher und Tausende von Postkarten und biographischen Akten.

[173] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 21-27; zur CES bes. ebd., 29-61; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 29, 67-73; allgemeiner Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 124-134; Smith, The Shadow Warriors, S. 360-389. Auch hier gilt, daß sich die angegebene Organisationsstruktur, nachdem sie sich anfangs mehrfach grundlegend geändert hatte, auch noch in Kleinigkeiten verändern konnte, nachdem sie einmal gefunden war.

[174] Zitiert von Katz, Foreign Intelligence, S. 6. Edward Mead Earle war denn auch eine der Wissenschaftsgrößen, die die Einrichtung von R&A unterstützten; vgl. ebd., S. 5.

[175] Smith, The Shadow Warriors, S. 362; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 24-33; Katz, Foreign Intelligence, S. 2-9.

[176] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 9 f.; ebd., S. xii spricht zwar von sieben künftigen Präsidenten der American Historical Association, S. 9 Anm. 15 führt jedoch acht namentlich auf.

[177] Katz, Foreign Intelligence, S. 10-13; Marquardt-Bigman, Amerikanische Deutschlandanalysen, S. 67-73; Smith, The Shadow Warriors, S. 379.

[178] Vgl. Intelmann, Franz L. Neumann, S. 45-47; Katz, Foreign Intelligence, S. 33 f., 35 f.; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 70 f.; Schäfer, Franz Neumanns Behemoth, S. 665; Söllner, Wissenschaftliche Kompetenz und politische Ohnmacht, S. 143; die Erinnerungen bei Erd, Reform und Resignation, S. 99-131.

[179] Vgl. Jay, The Dialectical Imagination, S. 167-172; Katz, Herbert Marcuse, S. 105-139, zum Eintritt in die Behörden besonders 107, 112-115 mit Anm. 8; ders., Foreign Intelligence, S. 26, 29-35; Kellner, Technology, War and Fascism: Marcuse in the 1940s, in: Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 1-38, hier S. 15-20; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 67-73; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 327-338.

[180] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 10-13, 33 f.

[181] Vgl. das Gilbert und Holborn gewidmete Kapitel bei Katz, Foreign Intelligence, S. 62-96; auch die Memoiren von Gilbert, Lehrjahre im alten Europa, S. 187-230.

[182] Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 67.

[183] Katz, Foreign Intelligence, S. 180.

[184] Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 11, 99, 111, 117.

[185] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 9, 125-127.

[186] Katz, Foreign Intelligence, S. 14. Vgl. zu den politischen Haltungen und zur Zusammenarbeit in R&A insgesamt ebd., S. 8-12, 14, 26, 32, 43, 58-61, 75 f., 125-127, 170-186, 188; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 24-33, 67-73, 94 f., 114-117, 183-196; Mauch, S. 86-88, 124-134.

[187] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. xi, xiii, 28 f., 34 f., 137, 196. Diese Perspektive scheint auch motiviert von dem ebd., S. xi vertretenen Anspruch, „intellectual history“ zu schreiben.

[188] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 165-198; Söllner, Wissenschaftliche Kompetenz und politische Ohnmacht, S. 146-149.

[189] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 137-164; ebd., S. 165-198 und über das gesamte Buch verstreute Anmerkungen heben auch Auswirkungen für andere Fächer, insbesondere die Geschichtswissenschaft, hervor. Die jungen Historiker gingen aus dem Krieg mit Skeptizismus gegenüber Wissenschaftsgläubigkeit und Positvismus hervor. Geschärft war ihr Sinn für Krisen und Katastrophen, auch wenn er sie die Notwendigkeit der Rationalität betonen ließ. Das machte diese Generation auch zu politisch engagierten Historikern. Besonders auf die „intellectual history“ hatten die R&A-Jahre Einfluß. Leonard Krieger, Carl Schorske und H. Stuart Hughes wurden zu den amerikanischen Meistern dieses Fachs. Hatten sie zuerst das Interesse an theoretischer Reflexion geweckt und nach neuen Wegen der Geschichtsschreibung gesucht, gingen ihre Schüler mitunter in dieser Hinsicht weit über sie hinaus, was zu offener Kritik an den Lehrern führen konnte, wie im Falle von Dominick LaCapra und seinem Lehrer Stuart Hughes.

[190] Die verkürzte Sicht von Katz korrigiert Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 65, 165-168, 270; verstreute Bemerkungen bei Smith, The Shadow Warriors, S. 373-386.

[191] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 14; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 56 f., 73, 148 f. Der weitgehende Verzicht auf politische Einflußnahme war ausweislich dieser Stellen eine Überlebensnotwendigkeit. William Langer betonte gegenüber seinen Mitarbeitern, als „pressure group“ habe man keine Zukunft.

[192] Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 168, 271, 57, 8.

[193] Die politische Relevanz der beiden im folgenden erörterten Beiträge von R&A – nämlich dem Anteil am Civil Affairs-Programm und die Planung für den Bombenkrieg – anerkennt auch der ansonsten das Politische herunterspielende Katz, Foreign Intelligence, S. 45, 103-136.

[194] Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 99.

[195] Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 65 mit Anm. 74, 93, 165-168, 270. Dort wird aber auch klar, daß der Einfluß der einzelnen R&A-Studien auf andere Washingtoner Behörden nicht bemessen werden kann.

[196] Katz, Foreign Intelligence, S. 34, 208 Anm. 14; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 70 f. Vgl. auch Erd, Reform und Resignation, S. 153; zum Beitrag Neumanns in R&A ebd., 151-182; Stoffregen, Franz L. Neumann als Politikberater.

[197] Vgl. Intelmann, Franz L. Neumann, S. 45-47; Katz, Foreign Intelligence, S. 33 f., 35 f.; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 11, 70 f.; Schäfer, Franz Neumanns Behemoth, S. 665; Söllner, Wissenschaftliche Kompetenz und politische Ohnmacht, S. 143; Erd, Reform und Resignation, S. 99-131; sowie oben, Kapitel 1.2.

[198] Katz, Foreign Intelligence, S. 69.

[199] Vgl. Erd, Reform und Resignation, S. 158-161; Katz, Foreign Intelligence, S. 36 f., 67, 69; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 71, 94 f.; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 132 f., 296.

[200] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 34, 36 f., 69; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 11 f., 71-73, 94 f., 115-117, 167 f., 270-272. Ähnliche Vorstellungen hegte beispielsweise der einflußreiche New Yorker Council on Foreign Relations, der das State Department beriet. Es gab sogar personelle Überschneidungen mit R&A; vgl. Michael Wala, Winning the Peace. Amerikanische Außenpolitik und der Council on Foreign Relations 1945-1950, Stuttgart 1990, S. 48-66, bes. auch die Mitarbeiterlisten ebd., S. 282-298.

[201] Marquardt-Bigman, Nachdenken über ein demokratisches Deutschland. Der Beitrag der Research and Analysis Branch zur Planung der amerikanischen Deutschlandpolitik, in: Jürgen Heideking/ Christoph Mauch (Hrsg.), Geheimdienstkrieg gegen Deutschland. Subversion, Propaganda und politische Planungen des amerikanischen Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg, Göttingen 1993, S. 122-141, hier S. 127. Auch Erd, Reform und Resignation, S. 76, 114, 124, 154 betont die direkte Linie, die sich von den Forderungen des „Behemoth“ zu Neumanns aktivem Kampf gegen den Nationalsozialismus mit seinem Eintritt ins OSS ziehen läßt. Das trifft in mehrfacher Hinsicht zu. Vgl. dazu Exkurs 1.

[202] Vgl. zum gesamten Programm die einschlägigen Kapitel bei Hajo Holborn, American Military Government. Its Organization and Policies, Washington 1947; Katz, Foreign Intelligence, S. 45-49, 70-77; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 119-145; Smith, The Shadow Warriors, S. 376 f.

[203] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 70; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 60, 63, 120 f., 145. Die Arbeit an beiden im folgenden vorgestellten Projekten, am „Civil Affairs Handbook Germany“ und an den Civil Affairs Guides, beschreibt ein im Herbert-Marcuse-Archiv erhaltenes privates Dokument Marcuses mit dem Titel „Description of Three Major Projects“ (HMA: 0132.1-4), das auch seinen eigenen Anteil an der Arbeit erwähnt. Das offensichtlich 1947 verfaßte Dokument ist abgedruckt in: Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 193-195.

[204] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 73, 79; Krieger, Die amerikanische Deutschlandplanung, S. 31; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 138-145; Smith, The Shadow Warriors, S. 374-376; zum Morgenthau-Plan Warren F. Kimball, Swords or Ploughshares? The Morgenthau Plan for Defeated Nazi Germany, 1943-1946, Philadelphia/New York 1976; Bernd Greiner, Die Morgenthau-Legende. Zur Geschichte eines umstrittenen Plans, Hamburg 1995. Hajo Holborn, der in seiner Funktion als Repräsentant von R&A bei den Streitkräften auch den Anteil von R&A am Civil Affairs-Programm koordinierte, bemerkte nach Kriegsende nicht ohne Stolz: „It is probably correct to say that much of the thinking that Secretary Morgenthau objected to originated with the OSS“ (zit. nach Katz, Foreign Intelligence, S. 79; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 141 Anm. 71). SHAEF steht für Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Forces, die unter dem Kommando von General Eisenhower stehenden alliierten Expeditionsstreitkräfte in Europa.

[205] Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 142-145. Auch auf die Formulierung des entscheidenden militärischen Befehls JCS 1067 konnte Morgenthau Einfluß nehmen – allerdings nicht wegen grundsätzlicher Übereinstimmung der Perspektiven von Morgenthau und War Department, sondern weil sich die Streitkräfte nicht auf eine konstruktive Besatzungspolitik festlegen lassen wollten, bevor sie die Lage vor Ort erkundet hatten. Das Interesse der Streitkräfte bestand zunächst allein in der militärischen Niederwerfung Deutschlands. Vgl. Krieger, Die amerikanische Deutschlandplanung, S. 27; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 142-145.

[206] Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 121.

[207] Darum waren jedem Guide die Worte vorangestellt: „In no sense a Guide is to be taken as an order“; vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstandanalysen, S. 287.

[208] Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 138, 143. Damit soll nicht gesagt sein, die Civil Affairs Guides seien eins zu eins umgesetzt worden; vgl. ebd., S. 139 f. Marcuse selbst schätzte die Rolle der Guides nach Kriegsende im erwähnten Papier, das im Herbert-Marcuse-Archiv entdeckt wurde, wie folgt ein: „The Handbook and the Guides were to be used for determining and implementing occupation policy in Germany, and for background information for Civil Affairs Officers“ (Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 193).

[209] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 97-136; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 134-151; Rostow, The London Operation.

[210] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 13-21. Diese Seiten tragen die schöne und passende Überschrift „The Epistemology of Intelligence“.

[211] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 15, 20, 43 f., 50 mit Anm. 60; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 62, 95, 148 f.; Smith, The Shadow Warriors, S. 362-365.

[212] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 13. Katz meint hier und ebd., S. 15, auf der „epistemologischen Ebene“ seien oftmals verborgene politische Kämpfe zwischen der eher konservativen R&A-Leitung und den eher linken Mitarbeitern ausgetragen worden. Bei Katz selbst ist jedoch – an anderer Stelle – nur ein einziger solcher Fall belegt. Betroffen ist eine Studie Herbert Marcuses über die SPD, deren „objectivity and maturity in political research“ in Frage gestellt wurde; vgl. ebd., S. 43; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 138, 186-188; in deutscher Übersetzung ist die Studie abgedruckt in Söllner, Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd. 1, S. 264-293.

[213] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 44 f.; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 56 f., 119-124.

[214] Katz, Foreign Intelligence, S. 50, 15 f., 20. Der Zweck der Civil Affairs Guides bestand nach Auskunft von deren Standardeinleitung in Folgendem: „They are rather designed to point the factual information toward the making and executing of plans by those civil affairs officers assigned to work in the theaters of operation.“ (Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 287; vgl. auch Katz, Foreign Intelligence, S. 45). Somit es naheliegend, hinter den Bemühungen des Projects Committee um Knappheit und Präzision weder einen wissenschaftstheoretischen Kampf um eine objektivistisch-positivistische Weltdeutung noch verborgene politische Auseinandersetzungen (vgl. dazu ebd., S. 15, 19 f. bzw. ebd., S. 13, 15, 43), sondern die praktischen Notwendigkeiten einer dem Militär unterstellten Dienstleistungsbehörde zu erkennen.

[215] Katz, Foreign Intelligence, S. 17, 27 f.

[216] Zum praktischen Zusammenhang von Objektivität und Kollektiv vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 44, 49 f., 66 f.; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 56 f., 60, 72, 119-124.

[217] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 49 f. Hinsichtlich der Civil Affairs Guides führt Katz aus, daß strictu sensu niemals ein Autor angegeben werden kann. Ausweislich weiterer Dokumente jedoch, die den Bearbeitungsprozeß nachzuvollziehen ermöglichen, können die Autoren genannt werden. Daß der Autorstatus aufgrund späterer Überarbeitung in diesen Fällen ein anderer war als in den wissenschaftlichen Publikationen der Autoren, versteht sich von selbst, obwohl auch einige dieser Publikationen wie im Falle der Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung in intellektueller Kooperation entstanden. Vgl. ebd., S. 16, 20 f., 35 f.

[218] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 193-196 dokumentiert den Arbeitsprozeß in R&A auf diese Weise. Informationen wurden kollektiv gesammelt, die Auswertung der Daten erfolgte von verschiedenen, für eigene Bereiche verantwortlichen Mitarbeitern. Vor der abschließenden Redaktion durch die Vorgesetzten nennt Marcuse aber als Hauptteil des Arbeitsvorgangs: „The parts of the projects assigned to me were written by me. Final editing was done by the branch editor“ bzw. in einem anderen Fall: „I was responsible for drawing conclusions, which were then discussed with the staff. [...] I wrote the entire report. Final editing was done by the branch editor.“

[219] Diese Archivarbeit haben hinsichtlich der Archivalien von R&A bisher am umfassendsten Katz, Foreign Intelligence und Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen geleistet. In ebd., S. 287-298 findet sich ein hilfreiches Verzeichnis relevanter Dokumente, die in den National Archives, Washington, D. C., gelagert sind. Auf die Identifizierungen der R&A-Autoren durch diese beiden Historiker ist die vorliegende Arbeit angewiesen. Soweit Editionen von R&A-Studien vorliegen, wird aus diesen zitiert, ansonsten wird auf Zitate bei den genannten Historikern zurückgegriffen. Zu den Quellen vgl. auch Katz, Foreign Intelligence, S. 200; zur Quellenlage für das OSS insgesamt Richard Breitman, Research in OSS Records. One Historian’s Concerns, in: Chalou, The Secrets War, S. 103-108; Lawrence H. McDonald, The OSS and its Records, in: ebd., S. 78-102; Bradley F. Smith, The OSS and Record Group 226. Some Perspectives and Prospects, in: ebd., S. 359-367; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 12.

  Aus den genannten Gründen verfehlt ist der Ansatz von Söllner, Archäologie der deutschen Demokratie, S. 9, 17-22. Söllner liest die ihm vorliegenden R&A-Studien erstens als Produkte eines anonymen Diskurses im Innern der Macht, der die politischen Intentionen ihrer Verfasser transformierte, und zweitens einseitig als geistesgeschichtliche Dokumente der Emigration. Im ersten Punkt wurde Söllner widerlegt, doch ist zu berücksichtigen, daß Söllners verdienstvolle frühe Studie und Edition noch nicht auf die seit Ende der siebziger Jahren von der CIA freigegebenen Archivalien zurückgreifen und darum die Autoren in den meisten Fällen nicht ermitteln konnte. Zum zweiten Punkt – der Emigrationsgeschichte – bleibt anzumerken, daß die R&A-Studien vorrangig den politischen Zwecken einer amerikanischen Behörde dienten, so reizvoll auch der Gedanke ist, in erster Linie die geheimen Intentionen deutscher Intellektueller herauszulesen. Söllner entdeckt permanente Widersprüche zwischen den Emigranten und ihren Arbeitgebern. Er vermutet darum wiederholt, die Emigranten hätten sich verstellt, sofern in den R&A-Studien andere politische Haltungen zum Ausdruck kommen, als Söllner sie den ehemaligen Mitgliedern des Instituts für Sozialforschung unterstellt. Vgl. ebd., S. 22, 32 f., 41 f., 87, 89, 148, 191 f., 242 f.

  Gegen Söllners Ansatz ist einzuwenden: (1) Marcuse, Neumann und die anderen waren durchaus in der Lage, professionell zu arbeiten und den an sie gestellten Anforderungen gerecht zu werden. (2) Bekanntlich bestimmten nicht die politischen Vorlieben der Emigranten, sondern vorrangig die militärischen und politischen Notwendigkeiten den Inhalt der Studien. (3) Es war, soweit doch politische Perspektiven der Emigranten zum Ausdruck kommen, keine Verstellung nötig, denn R&A war insgesamt, einschließlich der Amerikaner, wie gezeigt wurde, links bzw. sozialdemokratisch orientiert. (4) Die Positionen der Emigranten befanden sich im Wandel, nicht erst, aber auch im OSS. Die Erfahrung der Emigration findet bei Söllner keine Berücksichtigung, ebensowenig die umfassend dokumentierte Enttäuschung der Emigranten über die deutsche Arbeiterklasse. (5) Eine weitere bedeutende Erfahrung war die Amerika-Erfahrung – die Erkenntnis, daß eine liberale Demokratie funktioniert, was bereits in „Behemoth“ mitgeteilt wurde und was Neumann und Kirchheimer veranlaßte, den Marxismus weitgehend abzuschütteln und zu Verteidigern der liberalen Demokratie zu werden. (6) Die Zusammenarbeit war wechselseitig. Nicht nur die Emigranten brachten ihr Fachwissen ein, sondern auch zahlreiche amerikanische Wissenschaftler. Diese freundschaftlich-kollegiale Zusammenarbeit hatte langfristige Auswirkungen auch auf die Arbeitsweise der Emigranten.

Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 34, 36 f., 38 f., 49-61, 67, 69; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 10 mit Anm. 13, 11 f., 71-73, 94 f., 115-117, 138, 167 f., 172-174, 183, 184 f., 187-189, 193 Anm. 57, 194 f., 201 (mit Bezug auf 77), 202 f., 270-272; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 124-134, 296; Neumann, Behemoth, S. 17 f., 549 f.

Söllner hat sich mittlerweile teilweise revidiert. Er bringt den letztgenannten Punkt sehr überzeugend in einem späteren Aufsatz selbst vor und verknüpft ihn mit dem Konzept der Akkulturation; vgl. Söllner, Wissenschaftliche Kompetenz und politische Ohnmacht, bes. S. 137 f., 145-149; ders., Neumann als Archetypus, bes. S. 40 f., 51-54. Vgl. zum vierten bis sechsten Punkt auch folgende unterschiedlich akzentuierte Beiträge: Buchstein, Eine heroische Versöhnung von Freiheit und Macht; Stephan Bundschuh, „Und weil der Mensch ein Mensch ist ...“ Anthropologische Aspekte der Sozialphilosophie Herbert Marcuses, Lüneburg 1998; Erd, Reform und Resignation, S. 24, 53, 77 f., 163, 207-222; Intelmann, Franz L. Neumann, S. 279-298; Iser/Strecker, Zerrissen zwischen Marxismus und Liberalismus?; Jay, The Dialectical Imagination, S. 166 f.; Kellner, Technology, War, and Fascism, S. 7, 24, 36; Söllner, Franz L. Neumann, S. 27-48; ders., „The Philosopher not as King“, bes. S. 114 f.; ders., Deutsche Politikwissenschaftler, S. 166-196; Stoffregen, Franz L. Neumann als Politikberater.

[220] Dies gilt für die Arbeit des OSS insgesamt, wie Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, durchgehend zeigt.

[221] Eine frühere und wesentlich kürzere Fassung dieses Kapitels ist erschienen als: Müller, Bearing Witness to the Liquidation of Western Dasein. Herbert Marcuse and the Holocaust, 1941-1948, in: New German Critique 85 (2002), S. 133-164.

[222] Vgl. das Kapitel zu den Debatten am Institut oben, Kapitel 1.1.

[223] In: Studies in Philosophy and Social Science 9 (1941), S. 414-439. Im folgenden wird zitiert nach der Neuedition des Aufsatzes, in: Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 39-65. Deutsche Übersetzung in: Horkheimer et al., Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, S. 337-367; Marcuse, Schriften, Bd. 3: Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung 1934-1941, Frankfurt am Main 1979, S. 286-319. Vgl. zu den Umständen der Entstehung Kellner, Technology, War, and Fascism, S. 4-7; Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 40; zum Begriff der technologischen Rationalität bei Marcuse Kellner, Herbert Marcuse and the Crisis of Marxism, London 1984, S. 197-275; zum Inhalt des Aufsatzes aus philosophischer Sicht Vincent Geoghegan, Reason and Eros. The Social Thought of Herbert Marcuse, London 1981, S. 64-67; Morton Schoolman, The Imaginary Witness. The Critical Theory of Herbert Marcuse, New York/London 1980, S. 134-150.

[224] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 41 f.

[225] Vgl. Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 42-45.

[226] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 46.

[227] Vgl. Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 54. Diese Sicht der Herrschaftsinstrumente durchzieht den gesamten Aufsatz.

[228] Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch in der Einschätzung des Terrors, den Neumann, Behemoth, S. 509-530, 583 für ein zentrales Merkmal der nationalsozialistischen Herrschaftsausübung hält.

[229] Auch wenn Marcuse später für seine Kombination von Freud und Marx berühmt wurde, berufen sich die im folgenden vorgestellten Überlegungen noch nicht auf Freud. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg unternahm Marcuse eine intensive Lektüre der Schriften Freuds; vgl. Katz, Herbert Marcuse, S. 145-161.

[230] Über die Masse im Zeitalter der technologischen Rationalität schreibt Marcuse: „True, the crowd ‘unites’, but it unites the atomic subjects of self-preservation who are detached from everything that transcends their selfish interests and impulses. The crowd is thus the antithesis of the ‘community’, and the perverted realization of individuality“ (Technology, War, and Fascism, S. 53). Während sich diese Sätze auf die industrialisierte, rationalisierte Gesellschaft überhaupt beziehen, macht Marcuse klar, daß die genannten Auswirkungen besonders scharf im Nationalsozialismus hervortreten. Daran könnte sich ausgehend von Neumann die Schlußfolgerung knüpfen, daß auch Marcuse das nationalsozialistische Regime nicht als Staat sah, sondern – wie der ihm vertraute „Behemoth“ nahelegte – als „einen Unstaat, ein Chaos, einen Zustand der Gesetzlosigkeit, des Aufruhrs und der Anarchie“ (Neumann, Behemoth, S. 16).

[231] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 53.

[232] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 64 f. entwirft das utopische Bild einer Gesellschaft, in der dieser Zustand überwunden wird.

[233] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 54.

[234] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 62.

[235] Somit wundert es nicht, daß das hier diskutierte Zitat – um den letzten, die Kritik an der Demokratie nicht ausblendenden Satzteil bereinigt – immer wieder angeführt wird, um Marcuses Einsatz im Kampf gegen den Nationalsozialismus zu begründen; vgl. Kellner, Technology, War, and Fascism, S. 4; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 69; Söllner, „The Philosopher not as King“, S. 108.

Diese Interpretation ist berechtigt, doch gerade der unterschlagene letzte Satzteil gibt dieser Interpretation besonderes Gewicht. Es handelt sich um ein kritisch abwägendes Urteil, nicht um situationsbedingten Überschwang. Marcuse entscheidet sich für ein konkretes Ideal und verzichtet auf die unmittelbare Verwirklichung seines utopischen Ideals, das er dennoch als Kontrast „mit dem vertrauten idealistischen Anarchismus der Marcuseschen Utopie“ (Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 334 f.) ausmalt; vgl. Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 64 f. Die Erkenntnis der Irrationalität in der Rationalität muß meines Erachtens an dieser Stelle im Lichte von Neumanns wiederholten Appellen an die westlichen Demokratien gelesen werden: Trotz aller Herausforderungen dürfe der Demokratisierungsprozeß nicht aufgegeben werden, erklärt etwa Neumann, Behemoth, S. 549 f. Marcuse weist hier offensichtlich ebenfalls das demokratische System auf ihm innewohnende Gefahren hin, um zur Selbsterkenntnis anzuhalten, was diese Gefahren zu vermindern helfen soll. Nach dem Ausgeführten lesen sich die beiden Sätze, die dem berühmten Satz vorausgehen, um so bedeutsamer in politischer Hinsicht: „But today, humanitas, wisdom, beauty, freedom and happiness can no longer be represented as the realm of the ‘harmonious personality’ nor as the remote heaven of art nor as metaphysical systems. The ‘ideal’ has become so concrete and so universal that it grips the life of every human being, and the whole of mankind is drawn into the struggle for its realization. Under the terror that now threatens the world the ideal constricts itself to one single and at the same time common issue. Faced with Fascist barbarism, everyone knows, what freedom means, and everyone is aware of the irrationality in the prevailing rationality“ (Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 63).

Das beweist die Reife von Marcuses politischem Urteil zu diesem Zeitpunkt höchster Bedrohung durch den Nationalsozialismus; darum greift auch zu kurz, was Abromeit, Book Review, S. 150 zu Marcuses angeblicher Gleichsetzung von Nationalsozialismus und westlicher Demokratie anmerkt. Diese Reife mag Marcuse später, als die Bedrohung nicht mehr so offensichtlich und der Rückgriff auf marxistische Begriffe wieder naheliegender war, abhanden gekommen sein – jedenfalls kennt er bereits 1947 die feinen Unterschiede, die im unvollkommenen Bereich des Politischen oft den Unterschied ums Ganze, nämlich den von Freiheit und Tyrannei ausmachen, nicht mehr so genau, wenn er in programmatischen Thesen an Horkheimer und Adorno schreibt: „Nach der militärischen Niederlage des Hitlerfaschismus (der eine verfrühte und isolierte Form der kapitalistischen Reorganisation war) teilt sich die Welt in ein neo-faschistisches und sowjetisches Lager auf. Die noch existierenden Überreste demokratisch-liberaler Formen werden zwischen den beiden Lagern zerrieben oder von ihnen absorbiert. Die Staaten, in denen die alte herrschende Klasse den Faschismus überlebt hat, werden in absehbarer Zeit faschisiert werden, die anderen in das Sowjet-Lager eingehen.“ Die insgesamt 33 Thesen finden sich im Max-Horkheimer-Archiv der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, MHA: VI 27 A.245-267, Zitat aus These 1, VI 27 A.245. Englische Übersetzung in: Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 215-227, hier S. 217. Aber immerhin erkennt Marcuse noch an, daß die „bürgerliche Freiheit der Demokratie“ besser sei als „totale Reglementierung“, schränkt dies jedoch ein in seinen bei aller Kritik an der politischen Praxis der Sowjetunion insgesamt beinahe orthodox marxistischen Thesen mit dem Hinweis, daß die bürgerliche Freiheit erkauft sei durch jahrzehntelange Unterdrückung und das Hinauszögern sozialistischer Freiheit; vgl. These 20, VI 27 A.258-259; Übersetzung bei Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 223. Zum Kontext vgl. Kellner, Technology, War, and Fascism, S. 30-35; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 429-436, berechtigte Kritik an den Thesen bei Abromeit, Book Review, S. 150 f. – Wiederum einige Jahre später ist sogar eine seltene Parteinahme Marcuses für die sowjetische Diktatur archivalisch belegt: Den Aufstand der Ungarn gegen die sowjetische Vorherrschaft erklärt Marcuse in einem Brief an Leo Löwenthal vom 9. Dezember 1956 zur „counter-revolution“ und schließt an: „The world is beschissen and, what is worse, cannot be taken seriously anymore“ (Herbert-Marcuse-Archiv, Briefwechsel Marcuse-Löwenthal, HMA: 1279.1-3).

[236] Aus dem Nachlaß im Herbert-Marcuse-Archiv veröffentlicht in: Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 69-88, mit Supplement, S. 89-92. Zu Entstehungsumständen, Datierung und den Hauptlinien der Argumentation vgl. ebd., S. 68; Kellner, Technology, War, and Fascism, S. 7-12. Ein früherer Entwurf des Textes ist in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Marcuse, Feindanalysen, S. 91-112.

[237] Vgl. Kellner, Technology, War, and Fascism, S. 8 f.

[238] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 70.

[239] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 70.

[240] Auch wenn Marcuse den Begriff der Polykratie, mittlerweile historiographischer Standard in der Beurteilung des nationalsozialistischen Systems, nicht gebraucht, so beschreibt er im Anschluß an Neumann polykratische Herrschaftsstrukturen. Macht, so Marcuse, werde nicht von einzelnen Individuen ausgeübt, denn das System sei „a government of hypostatized economic, social and political forces“ (Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 78). Infolgedessen trete der nationalsozialistische Staat, der eigentlich gar kein Staat sei (vgl. ebd., S. 70), hervor „as the threefold sovereignty of industry, party and army which have divided up among themselves the former monopoly of coercive power“ (ebd., S. 76). Im Fahrwasser des „Behemoth“ erreicht Marcuse hier ein Verständnis dessen, was die Forschung als Polykratie bezeichnet, und er deutet an derselben Stelle auch die damit einhergehenden inneren Spannungen und Rivalitäten an, aus denen wiederum Radikalisierungen resultieren könnten. Marcuse, Feindanalysen, S. 92 signalisiert, daß Marcuse mit einem Zusammenbruch des Systems aufgrund von dessen inneren Spannungen rechnete. Vgl. auch den Brief an Horkheimer vom 28. Juli 1943, in: Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 245; Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 17, S. 467: „I do not believe a minute that the fascist stabilization will succeed [...] After more than twenty years of terror, the [Italian] fascist party dissolves itself like a Kegelklub.“ In die Polykratie-Debatte der Forschung führt ein: Kershaw, Der NS-Staat, S. 80-111.

[241] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 72.

[242] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 74. Was Marcuse damit und mit ähnlichen Beschreibungen ausdrücken will, scheint auf eine „Teilidentität der Ziele“ der herrschenden Gruppen hinauszulaufen. Diese klassische Formulierung stammt von Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969, S. 1. Allerdings stammt eine ähnliche Formulierung bereits von Neumann, Behemoth, S. 422: „Im Hinblick auf die imperialistische Expansion besitzen der Nationalsozialismus und das Großkapital identische Interessen.“

[243] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 76.

[244] Vgl. Neumann, Behemoth, S. 114-130, wo Neumann auf Max Webers Begriff charismatischer Herrschaft zurückgreift. Zur Debatte um die Autonomie Hitlers vgl. Kershaw, Der NS-Staat, S. 112-147; ders., Hitler, Bd. 1: 1889-1936, Stuttgart 1998; ders., Hitler, Bd. 2: 1936-1945, Stuttgart 2000; mit dezidierter Sicht Hitlers als charismatischer Herrscher, der systemische Spannungen in seiner Person ausgleicht, ders., Hitlers Macht. Das Profil der NS-Herrschaft, München 1992; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, München 2003, S. 600-690.

[245] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 77.

[246] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 70.

[247] Vgl. zum Folgenden Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 83-92.

[248] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 86.

[249] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 90

[250] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 84.

[251] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 90.

[252] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 90.

[253] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 86.

[254] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 86.

[255] Auch wenn Marcuse den Sachverhalt besonders prägnant darstellt, waren Einschätzungen dieser Art damals nicht außergewöhnlich. Marcuse verweist selbst in seinem Text auf weitere Literatur. Nicht aufgeführt ist eine Schrift der Tochter von Thomas Mann, die 1938 eine Politik der Familienzerstörung am Werke sah, die unter anderem darauf zielte, die Jugend über die ihr gewährten Freiheiten an den Nationalsozialismus zu binden; vgl. Erika Mann, Zehn Millionen Kinder. Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich, Reinbek bei Hamburg 1997 (zuerst: Amsterdam 1938). Diese Beobachtungen bleiben zutreffend, auch wenn neuere Forschungen gewisse Korrekturen an diesem Bild anbringen und auch die repressiven Seiten der nationalsozialistischen Erziehungs- und Sexualpolitik in den Blick nehmen; vgl. Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986; dies., Gleichheit und Differenz in der nationalsozialistischen Rassenpolitik, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 275-308; Gabriele Czarnowski, Das kontrollierte Paar. Ehe- und Sexualpolitik im Nationalsozialismus, Weinheim 1991; Ulrich Herrmann (Hrsg.), Die Formung der Volksgenossen, Weinheim 1985; ders./Jürgen Oelkers (Hrsg.), Pädagogik und Nationalsozialismus, Weinheim 1988; Wolfgang Keim, Erziehung unter der Nazi-Diktatur, Bd. 1: Antidemokratische Potentiale, Machtantritt und Machtdurchsetzung, Darmstadt 1995; Ralph M. Leck, Conservative Empowerment and the Gender of Nazism. Paradigms of Power and Complicity in German Women’s History, in: Journal of Women’s History 12/2 (2000), S. 147-169. Zur Funktion von Pornographie und Kitsch im Nationalsozialismus vgl. Friedländer, Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, Frankfurt am Main 1999.

[256] Der Text liegt aus dem archivalischen Nachlaß ediert von Kellner vor in: Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 141-173, drei bereits im OWI entstandene Supplemente zur psychologischen Kriegführung ebd., S. 174-190. Zu Entstehungsumständen und Datierung vgl. ebd., S. 140, 174, 179, 187; Katz, Herbert Marcuse, S. 112 f.; Kellner, Technology, War, and Fascism, S. 15-20. Das Manuskript im Marcuse-Archiv trägt den Untertitel: Memorandum on a Study in the Psychological Foundations of National Socialism and the Chances for their Destruction (HMA: 0119.00). Eine teilweise fehlerhafte deutsche Übersetzung des Textes sowie des zweiten und des dritten Supplements findet sich in: Marcuse, Feindanalysen, S. 21-89.

[257] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 141.

[258] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 143.

[259] Marcuse entdeckt hier ein Phänomen, das auch die neuere Forschung beschäftigt. Die Verschränkung von Ideologie und Sachlichkeit wurde – im Gegensatz zur Betonung der rationalen Planung der Vernichtungspolitik, die bei einem Teil der Forschung vorzufinden ist – als das Hauptcharakteristikum einer jüngeren nationalsozialistischen Elite herausgearbeitet, von denen nicht wenige später im Vernichtungsapparat des Systems Verantwortung trugen. Für eine profilierte Deutung dieser Art vgl. Ulrich Herbert, „Generation der Sachlichkeit“. Die völkische Studentenbewegung der frühen zwanziger Jahre in Deutschland, in: Frank Bajohr/Werner Johe/Uwe Lohalm (Hrsg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken, Hamburg 1991, S. 115-144; ders., Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, Bonn 1996; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002. – Das mit dem Begriff der Binnenrationalität Gemeinte geht andererseits wiederum auf die Denker der Frankfurter Schule zurück, die in unterschiedlichen Formen das Konzept einer innerhalb eines irrationalen Rahmens wirkenden bürokratischen oder technischen Rationalität formulierten. Dafür steht Neumanns „Behemoth“; vgl. Erd, Reform und Resignation, S. 119; ebenso aber auch, in historisch vageren Zusammenhängen operierend, Marcuses „technologische Rationalität“ oder Horkheimers und Adornos „instrumentelle Vernunft“; vgl. u.a. Söllner, Geschichte und Herrschaft, S. 17-85, 190-196.

[260] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 162.

[261] Herbert, Best, S. 12.

[262] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 149.

[263] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 149 f.

[264] Wer will, kann aus dieser Anthropologie der Gemeinschaft leise Nachklänge der Heideggerschen Ontologie heraushören, des Mitseins ebenso wie des Man. Marcuse war Heideggers Student, seine Habilitationsschrift steht unter starkem Einfluß Heideggers, und auch in dem später so populären „Eindimensionalen Menschen“ ist diese Prägung wieder deutlich zu vernehmen. Vgl. Katz, Herbert Marcuse, S. 58-86, 129 f.; Richard Wolin, Heidegger’s Children. Hannah Arendt, Karl Löwith, Hans Jonas, and Herbert Marcuse, Princeton/Oxford 2001, S. 135-172.

[265] Michael Geyer, Der zur Organisation erhobene Burgfriede, in: Klaus-Jürgen Müller/Eckardt Opitz (Hrsg.), Militär und Militarismus in der Weimarer Republik. Beiträge eines internationalen Symposiums an der Hochschule der Bundeswehr Hamburg am 5. und 6. Mai 1977, Düsseldorf 1978, S. 15-100, hier S. 27.

[266] Vgl. Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 161, 182 f. Die betreffenden Stellen lauten: „All the acts of utmost endurance and reliability, savage defiance and inhuman cruelty are performed with a likewise inhuman soberness, efficiency and smartness.“ An dieser Stelle zitiert die zugehörige Fußnote aus einem Artikel der New York Times vom 15. März 1942, in dem sich folgende Auszüge aus dem Tagebuch eines deutschen Soldaten befinden sollen: „I’m surprised it didn’t affect me more to see a woman hanged. It even entertained me. Spent birthday digging up bodies and smashing their faces. My sweetheart will say ‘yes’ when she hears how I hanged a Russian today.“ Wie glaubwürdig die Herkunft dieser Quelle ist, muß offenbleiben, entscheidend ist hier Marcuses Reaktion. Er kann diese Nachrichten mit seinem neuen dialektischen Erklärungsmuster der Rationalisierung des Irrationalen erfassen und dadurch verstehen. Im Haupttext heißt es bei Marcuse weiter: „[T]his German cause is like that of a giant machine or apparatus which constantly occupies the mind and feelings of its attendants, controls and dictates their actions and leaves them not the slightest refuge. In National Socialist Germany, all men are there mere appendices of the instruments of production, destruction and communication, and although these human appendices would work with a high degree of initiative, spontaneity and even ‘personality’, their individual performances are entirely adjusted to the operation of the machine“ (ebd., S. 161). Weitere Ausführungen zur technischen Natur des Herrschaftssystems schließen sich an. An späterer Stelle finden sich noch folgende Hinweise, die in den Kontext psychologischer Kriegführung eingebunden sind, aber das zuvor vermittelte Bild des zur Gewohnheit gewordenen Tötens in einen größeren Zusammenhang stellen: „In reporting on the measures against the Jews, almost exclusive emphasis was laid on the part played by the SS and the party, on their cruelty, and on the passive resistance of the masses. […] [T]he German army is in its entire structure and philosophy tied up with the interests and requirements of imperialist expansion. The army and the party are two heads of the same monster. […] In the occupied territories, the German army has endorsed, instigated and exercised every kind of atrocity, torture, oppression and exploitation“ (ebd., S. 182 f.).
Marcuses knappe Beobachtungen werden in der neueren Forschung weitgehend bestätigt. Deren Ergebnisse zeigen, daß die Betonung funktionaler Elemente des Judenmords nicht zwangsläufig bedeuten muß, daß man vor der schrecklichen Realität und dem ungeheuren Umfang des Holocaust die Augen verschließt. Inwieweit dies Marcuse trifft, kann also erst nach einer umfassenderen Untersuchung aller seiner Äußerungen beurteilt werden. Vgl. dazu Exkurs 2.

[267] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 162. Vgl. zu Marcuses weiterer Argumentation in dieser Hinsicht ebd., S. 150-157, 165.

[268] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 152 f. Hier greift Marcuse offensichtlich einen Neumannschen Gedanken auf; vgl. Neumann, Behemoth, S. 165-168; sowie oben, Kapitel 1.2., S. 33; Marcuse führt diese Überlegungen in einem Brief an Horkheimer fort; vgl. unten, Kapitel 3.2.2.

[269] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 156.

[270] Vgl. zu Neumann oben, Kapitel 1.2. Die Kurzfassung seiner Speerspitzentheorie findet sich bei Neumann, Behemoth, S. 582 f.: „Der Antisemitismus ist daher die Speerspitze des Terrors. [...] Folglich stellt die Ausrottung der Juden in dieser antisemitischen Ideologie und Praxis nur ein Mittel dar, das schließliche Ziel zu erreichen, nämlich die Zerstörung freiheitlicher Institutionen, Meinungen und Gruppen. Dies könnte man als Speerspitzentheorie des Antisemitismus bezeichnen. [...] Die Gegensätze in der deutschen Gesellschaft sind nur durch die allumfassende Terrormaschine verdeckt.“

[271] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 168 f. Mit der letzten Bemerkungen deutet Marcuse nicht nur die Undarstellbarkeit des Leids an. Er sucht vielmehr nach einer Sprache, die dieses Leid dennoch abbilden könnte. Seine Überlegungen dazu führen jedoch nicht weit, und auch die an dieser Stelle angeführten Beispiele müssen als zum Scheitern verurteilt angesehen werden. In diesem Scheitern dokumentiert sich wiederum eine tiefere Einsicht in die ästhetische Undarstellbarkeit. – Diese Überlegungen zur Darstellbarkeit von Terror und Verfolgung setzt Marcuse später fort in einem im Marcuse-Archiv entdeckten Beitrag über die Literatur der französischen Résistance, ediert von Kellner in: ebd., S. 200-214; vgl. dazu unten, Kapitel 3.2.2., S. 100-102.

[272] Katz, Foreign Intelligence, S. 33. Vgl. zum Eintritt in die Behörden Jay, The Dialectical Imagination, S. 167-172; Katz, Herbert Marcuse, S. 105-139, besonders 107, 112-115 mit Anm. 8; ders., Foreign Intelligence, S. 26, 29-35; Kellner, Technology, War and Fascism, S. 15-20; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 67-73; Söllner, Wissenschaftliche Kompetenz und politische Ohnmacht; ders., „The Philosopher not as King“; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 327-338.

  Marcuses persönliche Motive, die ihn zum Eintritt in Regierungsstellen bewogen, gehen auch aus seinen Briefen an Horkheimer vom 11. und 15. November 1942 hervor, ediert von Douglas Kellner in: Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 234-237. Er hätte es, wie auch die angegebene Literatur betont, vorgezogen, weiterhin mit Horkheimer in Kalifornien zu arbeiten und bat darum mehrfach seinen „adored Horkheimer“ um weitere Beschäftigung am Institut: „It seems to me that you somewhat underrate my desire to continue the theoretical work we have been doing. In spite of my opposition to some of your conceptions, I have never and nowhere concealed my conviction that I know of no intellectual efforts today which are closer to the truth, and of no other place where one is still allowed and encouraged to think“. Horkheimer empfahl, die Regierungsstelle anzunehmen. Über die Gründe dafür ist die angegebene Literatur weitgehend einer Meinung. Das Institut war in finanzielle Schwierigkeiten geraten und konnte den Mitarbeitern kein sicheres Auskommen mehr garantieren. Außerdem war Marcuse als Hauptmitarbeiter Horkheimers mittlerweile von Adorno abgelöst worden. Eine permanente Rivalität war die Folge, um Horkheimers Gunst buhlten beide. Nicht, wie einmal geplant, Marcuse, sondern Adorno sollte schließlich der Koautor von Horkheimers lange geplantem Dialektik-Buch, der späteren „Dialektik der Aufklärung“, sein. Marcuse nahm folglich die Stelle an. Er nennt zwei Gründe. Erstens den Beitrag zum Krieg gegen Hitler: „The work I have to do in Washington seems to be respectable and perhaps even interesting, but I consider it merely as a contribution to the War Effort and as an investment for the future. It might also be helpful for the Institute“ (von dem auch die Columbia University, unter deren Obhut das Institut stand, einen Beitrag zum „war effort“ erwartete; vgl. Horkheimers Brief an Marcuse vom 24. Dezember 1942, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 17, S. 235-239). Zweitens die nicht unerhebliche Summe von 4600 Dollar im Jahr, die ihm als Gehalt zustand, während am Institut mit nichts fest zu rechnen war. Bedenkt man, daß Sherman Kent als Assistant Professor in Yale 3000 Dollar verdiente und als Leiter der Europe-Africa Division, der auch CES unterstand, 5000 Dollar im Jahr, kann man sich ein Bild von dieser Summe machen. Marcuse, der eine Familie zu ernähren hatte, kommentierte diesen Sachverhalt ironisch: „I am too much of a materialist“. – Marcuse hatte auch bereits Kontakt mit dem OSS aufgenommen und dem neugegründeten Nachrichtendienst ein Institutsforschungsvorhaben über „The Elimination of German Chauvinism“ zugesandt, was er im zitierten Brief an Horkheimer vom 11. November 1942 erwähnt. Der Antwortbrief von Edward Hartshorne von der Psychology Division des OSS vom 7. Dezember 1942 ist im Horkheimer-Archiv erhalten. Darin drückt das OSS grundsätzliches Interesse an einer weiteren Zusammenarbeit aus; vgl. MHA: VI 27 A.38-39. Am 12. Dezember 1942 schrieb Marcuse, mittlerweile OWI-Mitarbeiter, aus New York an Horkheimer, das Institut für Sozialforschung sei dem OSS und dem OWI in Sachen Deutschlandforschung „well known“ (Horkheimer, ebd., S. 388 f.).

[273] Vgl. dazu oben, Kapitel 2.

[274] Sowohl Katz, Foreign Intelligence, S. 18, 35, 44 f., 51-57, 175-177 als auch Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 76-79, 94 f., 105-112, 125, 128-132, 196-203 nehmen ausdrücklich zum Thema Stellung und zitieren dabei aus R&A-Analysen oder fassen diese zusammen.

[275] Dokumente, die das Thema betreffen, enthalten die Editionen von Söllner, Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd. 1; Heideking/Mauch, USA und deutscher Widerstand; dies., American Intelligence and the German Resistance to Hitler. – Die Angabe der archivarischen Nummern folgt durchweg der einschlägigen Literatur. Vgl. zu Quellen und Archiv: bei Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 287-298 findet sich ein hilfreiches Verzeichnis aller relevanten Dokumente; außerdem Katz, Foreign Intelligence, S. 200; McDonald, The OSS and its Records; Smith, The OSS and Record Group 226; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 12.

[276] Vgl. zur Wahrnehmung des Holocaust in R&A zusammenfassend auch Katz, The Holocaust and American Intelligence. Er geht darin ausführlicher den Fragen nach, die ders., Foreign Intelligence, S. 49-57 gestellt hat.

[277] Vgl. Katz, The Holocaust and American Intelligence, S. 300; Laqueur, The Terrible Secret, S. 246 Anm. 36.

[278] R&A 1113.9, Psychological Warfare: Weekly Roundup, 18.-24. Mai 1943. Die beiden Zitate aus dem „Anti-Semitism“ betitelten und von Neumann unterzeichneten Beitrag finden sich bei Katz, The Holocaust and American Intelligence, S. 300, 302 f.; ders., Foreign Intelligence, S. 56; vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 77 f., bes. Anm. 47.

[279] RG 59, R&A 933, 25. Juni 1943. Zitat bei Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 78. Identifizierung des Autors bei Katz, Foreign Intelligence, S. 38 Anm. 25.

[280] R&A 1113.29, Psychological Warfare: Weekly Roundup, 5.-11. Oktober 1943. Zitate und Identifizierung des Autors bei Katz, Foreign Intelligence, S. 176 mit Anm. 24.

[281] Vgl. aus den anderen Berichten die wenigen Bruchstücke bei Katz, Foreign Intelligence, S. 177 mit Anm. 25. Alle genannten Berichte stammen aus der Feder von Leonard Krieger, der laut dortiger Aussage sich zu „the Section’s acknowledged expert“ für „the German pattern of occupation, governance, and exploitation“ entwickelte.

[282] Weitere Verweise auf R&A-Papieren aus der ersten Jahreshälfte 1943, die stark von Neumanns Speerspitzentheorie beeinflußt waren, finden sich bei Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 77-79. Zitate daraus werden aber nicht angeführt.

[283] R&A 1113.31, Psychological Warfare: Weekly Rou ndup, 19.-25. Oktober 1943; vgl. Katz, The Holocaust and American Intelligence, S. 300.

[284] R&A 1113.34, Political Intelligence Report No. 34, Central Europe, 13. November 1943; vgl. Katz, The Holocaust and American Intelligence, S. 300 f. – Ähnliche Zweifel an den für die Zeitgenossen in R&A unglaublich hohen Zahlen von fünf bis sechs Millionen Ermordeter hegt ein von Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 78 Anm. 51 zitierter Bericht, dessen Autor nicht genannt wird, noch 1944 unter der Überschrift „New evidence on Germany’s policy toward the Jews“ (R&A 1113.74, 26. August 1944): „While it was hardly doubted that the Nazis were determined to carry out their anti-Jewish plans, information upon the development of this policy was restricted to vague reports emanating usually from questionable sources.“

[285] R&A 878.3, 11. November 1943, German Military Government over Europe, 1939-1943: Methods and Organization of Nazi Controls: General Government (Poland); vgl. Katz, The Holocaust and American Intelligence, S. 301.

[286] R&A 1655.5. Eine auszugsweise deutsche Übersetzung ist abgedruckt bei Söllner, Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd. 1, S. 149-158. Identifizierung des Autors bei Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 126 Anm. 26, 287; Katz, Foreign Intelligence, S. 35 mit Anm. 16; zur Geschichte und Bedeutung dieses Guides, dessen Wortlaut die Grundlage für den militärischen Befehl, die NSDAP aufzulösen, bildete, vgl. mit weiteren Literaturangaben ebd.; Kellner, Technology, War, and Fascism, S. 23; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 128-135; Erd, Reform und Resignation, S. 161.

[287] Vgl. Erd, Reform und Resignation, S. 160 f.; Katz, Foreign Intelligence, S. 45; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 125, 128.

[288] Vgl. Söllner, Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd. 1, S. 156-158.

[289] R&A 1655.23, endgültige Fassung vom 22.7.1944, frühere Entwürfe vom 29.4.1944 und 14.6.1944; vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 132 f. mit Anm. 39, wo auch auszugsweise Zitate aus diesem Papier zu finden sind; daraus auch die folgenden Zitate.

[290] Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 133. Somit läge hier wiederum eine Anwendung der Speerspitzentheorie aus dem „Behemoth“ vor. Katz, Foreign Intelligence, S. 72 erinnert daran, daß sich derartige Civil Affairs Guides auf reine Verwaltungsprobleme zu beschränken hatten. Widerstand des State Department habe verhindert, daß R&A eingehendere Vorschläge „for the problems of Jews in postwar Europe as among other religious groups“ ausarbeiten konnte. Während die behördlichen Differenzen belegt sind, geht Katz nicht darauf ein, welche weitergehenden Vorschläge gemacht worden sein könnten.

[291] So z.B. R&A 1844, Concentration Camps in Germany, 3. Oktober 1944. Laut Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 78 mit Anm. 51 weist dieser Bericht über die Lage in Konzentrationslagern innerhalb der deutschen Grenzen „in dürren Worten darauf hin, daß es sich bei den Insassen hauptsächlich um politische Gefangene oder Straftäter handele, da Juden entweder bereits exekutiert oder in polnische Lager transferiert worden seien“. Vgl. auch Katz, Foreign Intelligence, S. 18 Anm. 43.

[292] R&A 2189. Ein früherer Entwurf datiert vom 13. Juni 1944. Auszugsweise abgedruckt bei Heideking/Mauch, American Intelligence and the German Resistance to Hitler, S. 323-328; auszugsweise Übersetzung in: dies., USA und deutscher Widerstand, S. 134-138. Den Autor identifiziert Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 106 mit Anm. 60, 129 Anm. 30; vgl. auch Katz, Foreign Intelligence, S. 47; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 284 Anm. 80.

[293] Zur stark von Neumann und Marcuse geprägten Einschätzung des deutschen Widerstands in der CES vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 47; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 105-111, 117; Mauch, Subversive Kriegführung gegen das NS-Regime. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Kalkül des amerikanischen Geheimdienstes OSS, in: Heideking/Mauch, Geheimdienstkrieg gegen Deutschland, S. 51-89, hier S. 56-60. Vgl. dazu Exkurs 3.

[294] Das war zumindest bei den R&A-Vorarbeiten zu den Nürnberger Prozessen der Fall; vgl. dazu die Anmerkungen im folgenden, Kapitel 3.2.1. Beim vorliegenden Sachverhalt ist dies jedoch unwahrscheinlich. Es dürfte kaum eine juristische Notwendigkeit bestanden haben, den Widerstand zu klassifizieren. Eher noch könnte eine Absicht hinter dieser Klassifizierung darin zu suchen sein, daß Marcuse dem linken Widerstand, der hier eindeutig bevorzugt wird, die Anerkennung und die politische Einflußnahme nach dem Krieg erleichtern wollte. Das vermutet Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 105 f., 107, 116-118.

[295] Vgl. zum Folgenden Aronson, Preparations for the Nuremberg Trials; Katz, Foreign Intelligence, S. 49-57; ders., The Holocaust and American Intelligence, S. 301-303; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 196-203; Perels, Franz L. Neumanns Beitrag.

[296] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 16-18; ders., The Holocaust and American Intelligence, S. 304 f.; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 111.

[297] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 54-56; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 197 f., 203.

[298] Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 196; Forschungsliteratur zu den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen erschließt sich über Michael R. Marrus, The Nuremberg War Crimes Trial of 1945-46. A Documentary History, Boston 1997.

[299] Auch Neumanns Abteilung hatte diesen Vorgaben, wie bei anderen Auftragsarbeiten auch, Folge zu leisten. Das Konzept einer nationalsozialistischen Verschwörung fand Aufnahme in R&A-Dokumente, die für die zuständigen Behörden angefertigt wurden, obwohl aus den Reihen von R&A durchaus Kritik am Hauptanklagepunkt der Verschwörung geäußert wurde (vgl. etwa das weiter unten ausführlicher besprochene Dokument R&A 3110, Leadership Principle and Criminal Responsibility, 18. Juli 1945; Auszüge bei Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 199 mit Anm. 75; vollständige deutsche Übersetzung bei Söllner, Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd. 1, S. 163-172, Kritik am Verschwörungskonzept ebd., S. 163). Ein „Principal Nazi Organizations Involved in War Crimes“ betitelter Entwurf vom Juni 1945 übernimmt als Hauptanklagepunkt Verschwörung zum Zwecke der Weltherrschaft, weitere Anklagepunkte sind zweitens illegale Kriege, Angriffskriege und Verletzung internationaler Verträge, drittens Verletzung internationaler Regeln der Kriegführung, viertens Verbrechen im Inland. Letzteres schließt „die antijüdischen Maßnahmen“ ein, worunter für Gerichtszwecke einerseits rechtliche Diskriminierungsmaßnahmen gemeint sind, andererseits das daraus resultierende Schicksal der Juden, über das im militärischen Hauptquartier SHAEF Informationen gesammelt worden sein sollen; vgl. R&A 3113, 5. Juni 1945, nach der Übersetzung bei Söllner, Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd. 1, S. 173-189, Zitat S. 186; vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 200 f. mit Anm. 76. Die Konzentration auf verbrecherische Organisationen statt auf individuelle Verantwortung folgt dem Systemverständnis des „Behemoth“.

[300] Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 197, 200; Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 260-266, 276. Eine in diesem Zusammenhang wichtige Denkschrift für den Präsidenten vom 22. Januar 1945, „Anklage und Bestrafung der Nazi-Kriegsverbrecher“ überschrieben und vom Außen-, Kriegs- und Justizminister gemeinsam unterzeichnet, findet sich in: Foreign Relations of the United States (FRUS), Diplomatic Papers. The Conferences of Malta and Yalta 1945, Washington 1955, S. 403-408; vgl. dazu ebd., S. 401 f. Die Hauptanklagepunkte sind darin die oben ausgeführten.

[301] Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 197.

[302] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 51; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 197. Donovan trat allerdings wegen Meinungsverschiedenheiten mit Jackson bereits Ende November 1945, kurz nach Eröffnung der Nürnberger Prozesse, von seinem Amt als Anklagevertreter zurück und spielte darum keine Rolle im Prozeßverlauf.

[303] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 51, 54; Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 267; zur juristischen Bedeutung von Neumanns Beitrag zu den Prozessen vgl. Perels, Franz L. Neumanns Beitrag.

[304] Vgl. Intelmann, Franz L. Neumann, S. 51; Perels, Franz L. Neumanns Beitrag, S. 86.

[305] Vgl. Perels, Franz L. Neumanns Beitrag, S. 85 f.; ebd., S. 85-87 belegt, daß sich das analytische Instrumentarium von Neumanns „Behemoth“ und die Expertisen von Neumanns OSS-Gruppe in Plädoyers und Urteilen der Nünberger Prozesse wiederfinden.

[306] Zum Folgenden vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 198; Katz, Foreign Intelligence, S. 54.

[307] Einige wenige Beispiele solcher Meldungen sind aufgeführt bei Katz, The Holocaust and American Intelligence, S. 303 f. Unter den von Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 198 Anm. 70 erwähnten Papieren ist auch eines vom 23. August 1944 mit dem Titel „German Execution of Jews in Occupied Russia“. Die Bedeutung auch der Informationsbestände des OSS für die Erforschung des Holocaust wird auf das eigene Werk bezogen angedeutet von Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 3, S. 1300-1305; eine ausgewählte Aufzählung auch bei Laqueur, The Terrible Secret, S. 94-97 mit Anm. 31-38.

[308] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 54; Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 265 f., 269.

[309] Wie Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 198 Anm. 71 anmerkt, entsprechen die von der Londoner Außenstelle des OSS zusammengestellten Dokumente offenbar der R-Serie der Prozeßdokumente. Diese findet sich in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg, 14. November 1945-1. Oktober 1946, Bd. 38, Nürnberg 1949, S. 236-498.

[310] Dazu gehörten R&A-Materialien wie die bereits von Dezember 1944 bis April 1945 ausgearbeitete Serie R&A 2500.1-23, German Military Government over Europe. Außerdem stellte die OSS Field Photographic Branch offenbar auch Bildmaterial zusammen. Über die Brauchbarkeit des von R&A zusammengetragenen Materials bestehen unterschiedliche Ansichten, Neumann wird mit der Bemerkung zitiert, Chefankläger Jackson habe sich positiv über die vom OSS und speziell von R&A geleistete Arbeit geäußert. Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 198 Anm. 72.

[311] Vgl. bes. oben, Kapitel 3.1.3.

[312] R&A 2500.22, German Military Government over Europe: The SS and Police in Occupied Europe, 1. Januar 1945. Zitat bei Katz, Foreign Intelligence, S. 44 f. Es handelt sich um einen Beitrag zu der bei Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 198 Anm. 72 genannten Serie R&A 2500.1-23, German Military Government over Europe.

[313] Vgl. Katz, Foreign Intelligence, S. 51-53; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 198 f.

[314] Einerseits wurde das Führerprinzip zur Grundlage der Verantwortung gemacht, andererseits sollte aber nicht nach dessen Rechtsverständnis Recht gesprochen werden. Aber auch andere amerikanische Behörden pflegten zeitweilig einen eher unbekümmerten Umgang mit Rechtsnormen, nicht nur R&A. Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 200.

[315] Eine deutlich positive Einschätzung von Neumanns juristischer Konzeption, die die Rechtmäßigkeit der Nürnberger Prozesse bekräftigte, indem sie zeigte, daß es sich bei nationalsozialistischen Gesetzen nicht um Recht gehandelt habe und somit auch das Rückwirkungsverbot keine Anwendung finden könne, gibt Perels, Franz L. Neumanns Beitrag; vgl. dazu weiter unten, Anm. 343.

[316] R&A 3110, Leadership Principle and Criminal Responsibility, 18. Juli 1945. Auszüge bei Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 199 mit Anm. 75; vollständige deutsche Übersetzung als „Führerprinzip und strafrechtliche Verantwortung“ bei Söllner, Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd. 1, S. 163-172; ebd., S. 147 vermutet Otto Kirchheimer als Autor dieser Studie.

[317] Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 199. Die in dieser Studie entwickelte grundsätzliche Strategie verrät eine umfassende Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Rechtssystem ebenso wie die Orientierung an Neumanns „Behemoth“, aber auch an Fraenkels „Doppelstaat“. – Ebenso scheinen spätere Forschungsdiskussionen auf den Seiten dieser Studie vorweggenommen: Während alle Macht und Autorität bei Hitler als dem Führer gelegen habe, sei von diesem den „Unterführern“ ein hohes Maß an Macht eingeräumt worden. Je mehr deren Maßnahmen nicht nur verwaltungstechnischer Natur gewesen seien, sondern „mit einer politischen Intention verknüpft waren, desto freier waren sie von rechtlichen Beschränkungen und desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, daß irgendwelche spezifischen Anordnungen der politischen Führung an die ausführenden Untergebenen ergingen. Es fehlten also direkte Anordnungen, oft sogar bei der politischen Führung jegliche Kenntnis davon, welche Methoden bei der tatsächlichen Ausführung politischer Pläne angewendet wurden.“ Die Autoren dieser Studie, vermutlich Kirchheimer oder Neumann, sehen darin kein juristisches Problem, auch wenn sich die Befehle der höheren Führer nicht immer schriftlich nachweisen lassen: „Nach der von den Nazis vertretenen Theorie der Verantwortlichkeit ist jedoch ein Führer für die Handlungen seiner Untergebenen auch dann verantwortlich, wenn er möglicherweise eine bestimmte Handlung seines Untergebenen nicht angeordnet [...] hat.“ An anderer Stelle wird dies nach einer Durchsicht der entsprechenden NS-Literatur und nach der Schilderung einzelner Fälle genauer erläutert: „Im allgemeinen wirkt ein Führer oder Unterführer nicht so sehr mittels direkter Anweisungen, er formuliert vielmehr bestimmte Prinzipien und politische Grundsätze und delegiert im übrigen die Festlegung der Ausführungsbestimmungen an seine Untergebenen in den verschiedenen Bereichen und Regionen.“ Somit wird eine Verantwortung sowohl der Führer als auch der Unterführer an den Verbrechen des Regimes herausgearbeitet (zit. nach der Übersetzung von R&A 3110 bei Söllner, Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd. 1, S. 163, 167; vgl. ebd., S. 170 f.; Fraenkels „Doppelstaat“ ist angeführt ebd., S. 168 Anm. 21). Zur Forschungsdiskussion über die Herrschaftsstruktur des Nationalsozialismus vgl. die Hinweise, die bereits zu Marcuses früheren Texten gegeben wurden, oben, Kapitel 3.1. – Die Debatte um einen schriftlichen oder mündlichen „Führerbefehl“ zum Judenmord, die seit langem die Forschung beschäftigt, würde nach den analytischen Kriterien von R&A dem nationalsozialistischen System nicht gerecht, weil es angesichts der Eigeninitiative der „Unterführer“ bei der Umsetzung antijüdischer Prinzipien eines solchen Befehls nicht bedurfte.

[318] Zit. nach der Übersetzung von R&A 3110 bei Söllner, Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd. 1, S. 170 f. Das englische Original des zweiten Teils des obigen Zitats ist zitiert bei Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 199; danach leichte Veränderungen und Ergänzungen der Übersetzung.

[319] Vgl. dazu unten, Kapitel 3.2.2.

[320] Unbedingt anzuführen ist eine weitere Stelle, in der die einzelnen Schritte des Vernichtungsprozesses benannt werden, von der Deportation über die Ermordung in Gaskammern bis zur Ausbeutung der Leichen: „Einer der Gründe, warum das Nazi-System sich nicht vor allem auf ausdrückliche Befehle, sondern eher auf die Beachtung und Befolgung impliziter politischer Grundsätze stützte, liegt in der faktischen Illegalität oder Amoralität der Mehrzahl seiner politischen Maßnahmen. So wäre es z.B. aus Sicherheitserwägungen wie aus Gründen der Propaganda nach innen und außen nicht ratsam gewesen, die Politik der Judenvernichtung einschließlich ihrer ‘technischen’ Einzelheiten (der systematischen Verschleppung, der Errichtung von Gaskammern, der Beseitigung und der ‘Verwendung’ von Leichen usw.), in schriftliche Anweisungen zu fassen, die von der Spitze der politischen Entscheidungsgewalt bis hinunter zu den ausführenden Organen an der Basis hätten vermittelt und spezifiziert werden müssen. Daher formulierte man an der Spitze allgemeine politische Richtlinien und verließ sich bei deren Durchsetzung auf die Unterführer, ohne daß diese konkrete Anweisungen empfangen hätten“ (zit. nach der Übersetzung von R&A 3110 bei Söllner, Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd. 1, S. 167).

[321] Katz, Foreign Intelligence, S. 175 mit Anm. 21, in einem „War Crimes Work“ betitelten Dokument vom 29. Juni 1945.

[322] Vgl. oben, S. 81 mit Anm. 299.

[323] Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 201 mit Anm. 78; Katz, Foreign Intelligence, S. 54. Die Dokumente sind wie folgt bezeichnet: R&A 3114, Nazi Plans for Dominating Germany and Europe, 7. August 1945; R&A 3114.3, Nazi Plans for Dominating Germany and Europe: The Criminal Conspiracy Against the Jews, 13. August 1945.

[324] Umfassend zu Dwork vgl. Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial. Dworks Autorschaft identifiziert Katz, Foreign Intelligence, S. 56 mit Anm. 57.

[325] Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 257; vgl. auch ebd., S. 266, 279 Anm. 17; Katz, Foreign Intelligence, S. 56.

[326] Vgl. Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 266 f.

[327] Vgl. Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 267, 271, 274, 276; zu dem an der erst- und letztgenannten Stelle erwähnten Jacob Robinson, einem Vetreter von World Jewish Congress, American Jewish Congress und American Jewish Conference, der mehrfach bei Chefankläger Jackson und beim OSS vorsprach, vgl. ebd., S. 264-266.

[328] Vgl. Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 267 f., 269-272.

[329] Vgl. Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 267, 269, 271 f., 274.

[330] Vgl. Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 276.

[331] Vgl. Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 267, 271 mit Anm. 45, 275.

[332] Vgl. Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 268, 271 f.

[333] Vgl. Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 271 f.

[334] Vgl. Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 271 f., 276.

[335] Vgl. Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 270 f., Zitat S. 270.

[336] Vgl. Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 267, 270; Katz, Foreign Intelligence, S. 51, 55 f. – Aronsons anderslautende Darstellung an anderen Stellen widerspricht dem (und damit Aronson selbst), wird aber nicht auf Belege gestützt. Dabei richten sich Aronsons Vorwürfe gegen Neumann mitunter ad hominem. Daß statt Dworks Stimme diejenige seines Vorgesetzten Neumann stärkere Beachtung fand, ein üblicher bürokratischer Sachverhalt, wird mißbilligend erwähnt, ebenso der Grund der Mißbilligung: Neumanns „Marxist explanation“ verkenne die zentrale Rolle des Antisemitismus für das nationalsozialistische Regime, in dem es die Judenpolitik funktional interpretiere. Damit werde dem Holocaust seine Einzigartigkeit genommen. Außerdem habe Neumanns „Behemoth“ Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“ beeinflußt; vgl. Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 269.

  Mehr noch, in unzulässiger Weise werden Dwork und sein Mitarbeiter Abraham Duker als „little Jews“ (ebd., S. 280 Anm. 36) von Aronson gegen die Emigranten ausgespielt; explizit sagt Aronson sogar: „a political and personal tension divided German-born assimilated Jewish or half-Jewish experts such as Neumann, who served the West’s main war aims, and American Jews such as Dwork and Duker, mainly eager to punish the Nazis“ (ebd., S. 274). „Halbjüdisch“ und „assimiliert“ sind Aronsons eigene Begriffe. Außerdem sollte man meinen, die Erfüllung der westlichen Kriegsziele sei die Voraussetzung für die Bestrafung der Täter gewesen. An dieser Stelle schlägt Aronsons offensichtlicher persönlicher Vorbehalt gegen „European social scientists-turned-intelligence men, above all ‘Frankfurt School’ associates such as Neumann, Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer, and others at R&A“ (ebd., S. 272 f.) in sachlich falsche Behauptungen um: (1) Neumann und Kirchheimer waren zwar jüdische Emigranten aus Europa, aber nicht „social scientists“, sondern ausgewiesene Juristen, auch wenn Neumann in der Emigration eine zweites Mal studiert hatte und in Politikwissenschaft promoviert wurde. Ihre staatsrechtliche Expertise war weithin geschätzt und floß beispielsweise auch in das weiter oben ausführlich besprochene Dokument R&A 3110 ein. (2) Aus diesem Grund ist es irreführend, wenn Aronson schreibt, „the OSS group was soon [im Herbst 1945] dropped from the case. Justice Jackson, the American prosecutor, preferred legal experts who could work with historical documents and testimonies over European social scientists-turned-intelligence men […]“ (ebd., S. 272). Auch wenn die Gründe für den Rückzug der OSS-Spezialisten aus der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse nicht ganz klar sind, gibt es doch einige, die wahrscheinlicher als der von Aronson genannte sind und die zuerst bedacht werden sollten: Die Prozesse waren mittlerweile im Gange, Vorbereitungen waren nicht mehr nötig. Das OSS wurde im Herbst 1945 aufgelöst und konnte somit gar nicht mehr mitarbeiten. OSS-Direktor Donovan hatte sich mit Hauptankläger Jackson zerstritten. (3) Die angeblichen persönlichen und politischen Spannungen zwischen Neumann und Dwork werden durch nichts belegt, dagegen ist die gute Zusammenarbeit der beiden wie angeführt belegt. Die ebd., S. 274 angeführte Kritik an einem Papier des Judge Advocate General (JAG), die vermutlich von Dwork stammt, bleibt unklar und zeugt jedenfalls nicht von Spannungen. Außerdem ist völlig offen, ob das kritisierte Papier überhaupt auf Neumann zurückgeht. (4) Nach einer Darstellung von Neumanns Speerspitzentheorie heißt es: „We have no idea whether his ‘spearhead theory’ influenced Dwork’s draft indictment in the ‘Jewish case’. Yet this was rather unlikely“ (ebd., S. 274). Direkt im Anschluß, gewissermaßen zur Untermauerung des ohne Beleg Vorgebrachten, folgt die Aussage über die angeblichen Spannungen zwischen den „German-born assimilated Jewish or half-Jewish experts“ und den „American Jews“. Tatsache ist jedoch, daß zumindest ein von Dwork verfaßtes Dokument vorliegt, das deutlich von Neumanns Speerspitzentheorie geprägt ist. Es handelt sich dabei um das im folgenden erörterte Papier R&A 3114.3. Eine frühere Fassung stammt aus Marcuses Hand. Beides ist eher ein Indiz für eine enge Zusammenarbeit zwischen Dwork, Neumann und Marcuse als für die postulierten Spannungen.

[337] Vgl. oben, S. 86 mit Anm. 323.

[338] R&A 3114.3, Nazi Plans for Dominating Germany and Europe: The Criminal Conspiracy Against the Jews, Draft for War Crimes Staff, 13. August 1945. Auszüge und Nachweis des Autors bei Katz, Foreign Intelligence, S. 55 f. mit Anm. 71; ders., The Holocaust and American Intelligence, S. 302; vgl. auch Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 201 mit Anm. 78.

[339] Vgl. Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 261, 263-266, 270-272; auch der Brief eines unbekannten, am Prozeßgeschehen in Nürnberg beteiligten Autors an Dwork berichtet von dem Bemühen, eine Verschwörung gegen die Juden vor Gericht nachzuweisen; vgl. ebd., S. 273.

[340] Katz, Foreign Intelligence, S. 55 f.; ders., The Holocaust and American Intelligence, S. 302.

[341] Katz, Foreign Intelligence, S. 56; ders., The Holocaust and American Intelligence, S. 302 f.

[342] Outline of R&A 3114, Nazi Plans to Dominate Europe, 12. Juni 1945; Nachweis des Autors und Auszüge bei Katz, Foreign Intelligence, S. 56 mit Anm. 73; ders., The Holocaust and American Intelligence, S. 303.

[343] Neumanns Schlußfolgerungen, die sich mit Forschungsfragen sowie mit den juristischen und politischen Problemen der Prozesse befassen, finden sich in: Neumann, The War Crimes Trials, in: World Politics 2 (October 1949-July 1950), S. 135-147. Vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 202 f., Anm. 85, 87; Perels, Franz L. Neumanns Beitrag, S. 84-88.

Neumann regt umfangreiche Forschungen auf Grundlage der Prozeßakten an. Zu diesem Zweck fordert er, nicht nur die Urteile, sondern auch den Prozeßverlauf in allen Einzelheiten zu dokumentieren. Besondere Bedeutung mißt er den gesammelten Prozeßunterlagen nicht nur für ein Verständnis des Nationalsozialismus, sondern überhaupt für die Analyse diktatorischer Herrschaftsmechanismen bei; vgl. Neumann, The War Crimes Trials, S. 135-137, 143-147. Außerdem beschreibt er die Aufklärungsfunktion der Prozesse ebenso wie ihre politische Bedeutung für den Aufbau einer demokratischen Rechtsordnung im westdeutschen Teilstaat. In juristischer Hinsicht betont er die Auswirkungen der Nürnberger Prozesse auf die Entwicklung des internationalen Rechts; vgl. ebd., S. 137-143, 145. Er geht auf die Frage eines permanenten internationalen Strafgerichtshofs ein, dessen Einrichtung sich aus den Prinzipien der Nürnberger Prozesse ableite, dem jedoch wahrscheinlich angesichts der bipolaren Spaltung der Welt eine „enforcing agency“ fehlen werde, um seinen Urteilen Geltung zu verschaffen; vgl. ebd., S. 141-143. Als Ziele der Prozesse benennt er vier: die Bestrafung der Verbrecher, die Abschreckung anderer Nationen, die Förderung der Demokratie in Deutschland und Japan und die Wiedereingliederung der beiden Länder in die internationale Gemeinschaft; vgl. ebd., S. 141.

Wie Perels, Franz L. Neumanns Beitrag, S. 83-88, 91 f. belegt, ist Neumanns Konzeption einer Ahndung nationalsozialistischer Staatsverbrechen bereits im „Behemoth“ angelegt. Wie Perels ausführt, setzt Neumanns Rechtstheorie den Rechtsbegriff der Aufklärung fort und verknüpft formale und materiale Elemente des Rechts. Recht ist für Neumann an Kriterien gebunden wie den Gleichheitssatz oder die Garantie von Grundrechten, die willkürliche Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Freiheitssphäre des Individuums ausschließen. An diesen Kriterien gemessen, hat der Nationalsozialismus das Recht nicht nur punktuell, sondern systematisch beseitigt; seine herrschaftstechnische Transformierung des Rechts ist „willkürlicher Dezisionismus“; das „nationalsozialistische Rechtssystem ist nichts anderes als eine Technik der Manipulation der Massen durch Terror“ (Neumann, Behemoth, S. 524, 530; vgl. ebd., S. 517; sowie oben, Kapitel 1.2.). Auf dieser Grundlage normativer Rechtskriterien kann das nationalsozialistische Recht, das die Gesetzlosigkeit in der eigenen Theorie anerkannte, in den Prozessen nicht übernommen werden. Statt die anti-normativen Maßstäbe des Nationalsozialismus zu beachten, müßten, wie bereits in OSS-Papieren zu lesen war, die Prozesse sich an dem ausrichten, „was die überwiegende Mehrheit der Völker und Nationen für die Grundregeln von Recht und Moral halten“ (R&A 3110, zitiert nach: Söllner, Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd. 1, S. 172; vgl. ebd., S. 167 f., 170; R&A 3113 in: ebd., S. 185); vgl. dazu Perels, Franz L. Neumanns Beitrag, S. 84 f. Neumanns Vorarbeiten entwickelten mit der Theorie normativer Rechtskriterien, vor denen das Rückwirkungsverbot keine Geltung findet, den Kerngedanken des später vor Gericht zentralen Tatbestands der Verbrechen gegen die Menschlichkeit: „Das Rückwirkungsverbot – nulla poena sine lege – kann nicht die Geltung terroristischer Diskriminierungs- und Ausmerzungsregeln sichern“ (ebd., S. 85). Neben der grundsätzlichen juristischen Konzeption der Prozesse war Neumann auch durch die Herrschaftsanalyse des „Behemoth“ von wichtigem Einfluß auf die Prozesse, insbesondere auf die auf den Hauptkriegsverbrecherprozeß folgenden Nachfolgeprozesse. Neumanns Analyse der Funktionseliten, deren Zusammenspiel das nationalsozialistische System konstituierte, strukturierte den Verlauf der Prozesse; vgl. ebd., S. 85-87. Auch Hilberg, Die bleibende Bedeutung des „Behemoth“, S. 81 f. betont diesen Sachverhalt: Die vier Serien der Beweismittel entsprechen genau den vier Hierarchien Neumanns. Hilberg, Unerbetene Erinnerung, S. 54-58, 61-72, 74, 78 f.; Perels, Franz L. Neumanns Beitrag, S. 88 weisen auf die Bedeutung Neumanns, speziell auch seiner Forderungen an die Forschung, für Hilberg hin. Hilbergs Werk stützt sich besonders auf eine umfassende Auswertung der Nürnberger Prozeßakten. Es wird auch deutlich, daß sich das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes von 1998 eng an das alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 10 von 1945 und an Neumanns Völkerrechtskonzeption anlehnt, die eine Intervention bei Nichteinhaltung rechtlicher Grundnormen auch innerhalb eines souveränen Staates vorsehen; vgl. ebd., S. 88; auch Hilberg, Die bleibende Bedeutung des „Behemoth“, S. 80 f. Anm 1.

[344] Otto Kirchheimer, Political Justice. The Use of Legal Procedure for Political Ends, Princeton 1961, S. 423. Der Kontext dieses Resümees seiner kritischen Betrachtung politischer Justiz lautet: „In an exceptional case, such as the Nuremberg trial, the record of the defunct regime may be so clear-cut that the image produced in court could not but appear a reasonably truthful replica of reality. While the methods, the preoccupations, and the competency of prosecution and court may be endlessly taken to task, the criticism will neither efface nor materially rectify the permanency of the image. But while it retained many overtones of the convenience type of trial, did the Nuremberg trial, with all the hypocrisy and grotesqueness deriving from its very subject, not belong very profoundly in the category of a morally and historically necessary operation?“

[345] Zum Voranstehenden vgl. Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 202 f.

[346] Vgl. Katz, Herbert Marcuse, S. 118-120, 130-135; ders., Foreign Intelligence, S. 57, 90-92, 167-192; Kellner, Technology, War, and Fascism, S. 25-28; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 205-219; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 291-302; Smith, The Shadow Warriors, S. 390-419; Troy, Donovan and the CIA, 287-410. – Allerdings waren nach der Auflösung des ORI im April 1946 die Mitarbeiter der zuvor eigenständigen Forschungsabteilung den „area desks“, d.h. den regionalen Abteilungen im State Department zugeordnet, Marcuse und Neumann als Mitarbeiter der Central European Branch innerhalb der Division of Research for Europe (DRE) waren dem Office of European Affairs (EUR) unterstellt. Das OCL war lediglich die Koordinierungsstelle der den „area desks“ zugeordneten Forschungsabteilungen. Mit General Marshalls Amtsübernahme im Januar 1947 wurde mit dem OIR wieder eine eigenständige, nicht mehr den regionalen Abteilungen unterstehende Forschungsabteilung im State Department eingerichtet.

[347] Vgl. Erd, Reform und Resignation, S. 168-171, 183-236; Intelmann, Franz L. Neumann, S. 51-61; Jay, The Dialectical Imagination, S. 284; Katz, Herbert Marcuse, S. 118-120, 130-135; ders., Foreign Intelligence, S. 57, 90-92, 167-192; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 205-219; Söllner, Franz L. Neumann, S. 36; ders., Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration, S. 166-196; Stoffregen, Franz L. Neumann als Politikberater, S. 66.

[348] Vgl. die Gewichtung der beiden Seiten in der Darstellung dieser Lebensphase durch die Biographie von Katz, Herbert Marcuse, S. 105-135. Vom Privatleben erhalten wir nur eine dünne Skizze, die wissenschaftliche und administrative Tätigkeit ist ausführlich beschrieben.

[349] Vgl. die Mitteilung des Herausgebers Douglas Kellner in: Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 230. Eigene Nachforschungen im Herbert-Marcuse-Archiv der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main bestätigen diesen Befund und konnten die Lücke nicht schließen. Eine umfangreichere Korrespondenz Marcuses liegt erst für spätere Jahre vor. Auf eine Ausnahme muß jedoch aufmerksam gemacht werden: Erst kürzlich hat das Herbert-Marcuse-Archiv die langjährige Korrespondenz von Marcuse mit Leo Löwenthal erworben, HMA: 1279.1-3. Darunter sind einige Briefe aus den diese Arbeit betreffenden Jahren. In keinem dieser Briefe geht es um die Verfolgung und Ermordung der Juden. Allerdings muß man anfügen, daß Löwenthal bekanntlich während des Kriegs ebenfalls in Washington lebte, wo er beim OWI beschäftigt war und wo sich Marcuse und Löwenthal häufig sehen konnten; vgl. u.a. Leo Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel, Frankfurt am Main 1980, S. 111. Man kann also aus den seltenen Briefen nicht schließen, daß es in den Gesprächen der beiden nicht um den Holocaust gegangen sei.

[350] Die umfangreiche Korrespondenz ist im Horkheimer-Archiv überliefert: MHA: VI 27.377-402; VI 27 A.1-294. Die insgesamt umfassendste, dennoch ausgewählte Edition des Briefwechsels von Horkheimer und Marcuse findet sich in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 15: Briefwechsel 1913-1936, Frankfurt am Main 1994; die Korrespondenz der betreffenden Jahre in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 17; ders., Gesammelte Schriften, Bd. 18: Briefwechsel 1949-1973, Frankfurt am Main 1996; vgl. die editorischen Prinzipien: Schmid Noerr, Nachwort des Herausgebers zu den Bänden 15-18. Eine Geschichte der „Frankfurter Schule“ in Briefen, in: ebd., S. 821-868; zum Marcuse-Briefwechsel ebd., S. 849; zu den Auswahlkriterien ders., Zur Edition der Briefe, in: ebd., S. 869-878. Eine umfassendere, aber ebenfalls nicht lückenlose englische Edition der Briefe Marcuses an Horkheimer von 1941 bis 1949 ohne die Briefe von Horkheimer besorgt Douglas Kellner in: Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 229-260.

Der Gebrauch des Englischen in den Briefen nimmt ab 1942 deutlich zu. Schmid Noerr, Nachwort des Herausgebers, S. 835 gibt mit überzeugenden Argumenten als Gründe dafür an: (1) Bei Institutsangelegenheiten, also auf Horkheimers Seite, hing es gelegentlich davon ab, ob eine deutsch- oder eine englischsprachige Sekretärin zur Verfügung stand. (2) Eine allgemeine Briefzensur für Ausländer in den USA gab es nicht, auch wenn manche „enemy aliens“ überwacht wurden. (3) Hauptgrund war das „Bemühen der Emigranten, sich in die amerikanische Gesellschaft integriert zu zeigen, letztlich einschließlich patriotischer Gefühle und der Bereitschaft, sich an den Kriegsanstrengungen zu beteiligen“. (4) Außerdem nahmen die Kontakte zu amerikanischen Wissenschaftlern und Institutionen zu, was den Gebrauch des Englischen zur Routine machte.

[351] Der kurze Briefwechsel mit Heidegger, der aus zwei Briefen Marcuses und einem Heideggers besteht, ist im Marcuse-Archiv zugänglich, aber archivarisch noch nicht erfaßt, weshalb sich keine archivarische Nummer angeben läßt.

[352] Des öfteren ist etwa vom „Antisemitism project“ kurz die Rede, das Horkheimer im Auftrag des American Jewish Committee verfolgte, ohne daß genauer darauf eingegangen wird; vgl. etwa Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 242 f.; im August 1946, als die Nürnberger Prozesse noch andauerten, schrieb Marcuse, wieder bezogen auf das Antisemitismus-Projekt Horkheimers: „all the nastiness of world politics has once again become concentrated on the Jews“ (ebd., S. 252). Zum Antisemitismus-Projekt, an dem Marcuse nicht beteiligt war, vgl. Jay, The Dialectical Imagination, S. 224-252; Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 390-423.

[353] Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 17, S. 463-466. Brief vom 17. Juli 1943 aus Pacific Palisades in Kalifornien.

[354] Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 17, S. 466-469; Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 244-246. Die hier kursiv gesetzten Stellen sind im Original im Max-Horkheimer-Archiv unterstrichen; vgl. MHA: VI 27 A.10.

[355] Vgl. dazu oben, Kapitel 1.

[356] An dieser Stelle ist eine Nähe Marcuses zum etwa zeitgleich entwickelten Erklärungsmuster der „Dialektik der Aufklärung“ deutlich; vgl. oben, Kapitel 1.3. Marcuse setzt hier aber auch eigene Überlegungen sowie Überlegungen Neumanns fort; vgl. oben, Kapitel 1.2., S. 33; Kapitel 3.1.3., S. 72; sowie Neumann, Behemoth, S. 165-168. Die „anti-Christian trends of National Socialism“ und der Heidenkult in Nachfolge Richard Wagners wurden bereits seit längerem am Institut für Sozialforschung thematisiert; vgl. etwa das Forschungsvorhaben, dem das voranstehende Zitat entnommen ist: Cultural Aspects of National Socialism. A Research Project under the joint directorship of Eugene N. Anderson, American University, Washington, D.C., and Max Horkheimer, Institute of Social Research, New York City, February 24, 1941. Ein Exemplar befindet sich im Marcuse-Archiv, HMA: 0117.00, bes. S. 13-16, Zitat S. 13.

[357] Diese Ansicht teilt offensichtlich auch Horkheimer in seinem Antwortbrief vom 11. September 1943; vgl. Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 17, S. 470-473. Darin führt er seine „ideas on Antisemitism and Christianity“ aus. Anhand einiger Beispiele, besonders aus der hellenistischen und spätantiken Welt, begründet Horkheimer, daß das Christentum, wo es Staatsreligion wurde, immer zu Verfolgungen geführt habe. Er zieht von dort Verbindungen zu den „sermons of up to date Antisemitic radio priests or German Jew-baiters before and during the Nazi period“. Nach einem Verweis auf die Spannungen zwischen Juden und Griechen im antiken Alexandria schließt Horkheimer dann allgemeingültig und nicht mehr nur auf das Christentum bezogen: „The Jews seem to be the aliens under all circumstances“. Später korrigiert er die These, der Antisemitismus hänge mit dem Christentum zusammen; mehrfach finden sich Äußerungen wie die folgende: „Mit dem Christentum? Kierkegaard würde sagen: mit der Christenheit. Dem Christentum ist der Haß nicht immanent, den die Christenheit in der Welt praktiziert hat“ (zit. nach Diner, Gedächtniszeiten, S. 280 f., Anm. 23; vgl. u.a. Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 7: Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973, hrsg. von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt am Main 1985, S. 465).

[358] Zum Begriff des „Erlösungsantisemitismus“ vgl. Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 1, bes. S. 87-128. Allerdings handelt es sich bei Marcuse um ein allgemeines Phänomen, nicht nur um einen spezifischen Antisemitismus kultureller Eliten. Marcuse steht hier wiederum den Erklärungsansätzen der „Dialektik der Aufklärung“ nahe, wo ebenfalls auf religiöse Wurzeln des Antisemitismus eingegangen wird.

[359] Die andere Vermutung Marcuses, es könnte sich auch um eine „Angebotsmasse für den auszuhandelnden Frieden“ handeln, ist nicht eindeutig zu klären. Spielt Marcuse hier auf unterstellte antisemitische Sympathien bei den Alliierten an? Oder meint er vielmehr, gegen das Angebot, die Judenvernichtung einzustellen, wolle das „faschistische“ Lager einen besseren Frieden heraushandeln? Oder soll es nur heißen, das „faschistische“ Lager werde durch den entfesselten Antisemitismus gezielt so sehr in gemeinsame Verbrechen verstrickt, daß keiner mehr ausscheren und wie Italien einen günstigeren Separatfrieden aushandeln könne? Im Lichte der neueren Forschung zumindest ist die dritte Vermutung die überzeugendste; vgl. unten, Anm. 361.

[360] Vgl. oben, S. 86, 88-90. Zu den von Dwork und Marcuse angeführten Gründen für die Vernichtungspolitik zählte, daß in allen Ländern Juden lebten und darum der Nationalsozialismus durch den Antisemitismus überall Verbündete mobilisieren und die Ausdehnung seiner Herrschaft weit über die Reichsgrenzen hinaus rechtfertigen könnte.

[361] Vgl. etwa als Überblick Michael Burleigh, Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung, Frankfurt am Main 2000, S. 687-768, 892-901; spezieller Longerich, Politik der Vernichtung, S. 473-573. Ebd., S. 535 f. faßt zusammen: „Je mehr der Krieg fortschritt, desto größere Bedeutung erhielt aus Sicht der Führung des ‘Dritten Reiches’ der systematische Mord an den Juden für den Zusammenhalt des deutschen Machtblocks. In dieser immer wichtiger werdenden neuen Rolle der ‘Judenpolitik’ liegt eine wesentliche Erklärung für die Fortsetzung und Ausdehnung des millionenfachen Mordes in der zweiten Kriegshälfte“. Longerich bringt diese Ausdehnung des Mordens mit den militärischen Niederlagen des nationalsozialistischen Machtblocks in Europa in Verbindung – mit dem Niedergang der Herrschaft also, wie Marcuse sich ausdrückte. Laut Longerich wurde dadurch die Intensität der Vernichtungspolitik gesteigert: „Die Fortsetzung und Radikalisierung der ‘Judenpolitik’, des einzig durchführbaren Elements der rassistischen Utopie der Nationalsozialisten, wurde insbesondere in der zweiten Kriegshälfte zur eisernen Klammer, mit der das ‘Dritte Reich’ den von ihm beherrschten Machtblock zusammenhielt. Denn mit der Durchführung des Judenmordes innerhalb des deutschen Machtblocks wurden die ausführenden Organe – ob es sich nun um deutsche Besatzungsverwaltungen, um einheimische Hilfsorgane, um kollaborationsbereite Regierungen oder um Verbündete handelte – zu Handlangern und Komplizen der Vernichtungspolitik gemacht und angesichts der Beispiellosigkeit dieses Verbrechens auf Gedeih und Verderb an den Motor dieser Politik, die Führung des nationalsozialistischen Deutschland gebunden. Hinzu kam, daß jede weitere Radikalisierung der Verfolgung die Macht von SS und radikalen Parteiführern innerhalb der Besatzungsverwaltungen bzw. des deutschen diplomatischen Apparates stärken und über den Umweg der Peripherie des deutschen Herrschaftsbereiches den Gesamtcharakter des Regimes zugunsten dieser Kräfte verändern mußte. Die Durchsetzung der ‘Judenpolitik’ innerhalb des deutschen Machtbereichs war also gleichbedeutend mit der endgültigen Realisierung des totalen Machtanspruchs der NSDAP. Diese war aber aus der Sicht der Nationalsozialisten der einzige Schlüssel für ein erfolgreiches Abschneiden in diesem Krieg. Sieht man die ‘Judenpolitik’ im Schnittpunkt dieser Überlegungen, so wird deutlich, daß sie aus der pervertierten Perspektive der NS-Führung geradezu zum Garanten für den vollständigen Sieg der nationalsozialistischen Revolution geworden war.“

[362] Dazu gehören die Bemerkungen über die „Scheinhaftigkeit“ des Krieges, die ganz offensichtlich hinter die Erkenntnis der Eigendynamik und Radikalisierung der nationalsozialistischen Politik einige Zeilen zuvor zurückfallen. Sollte Marcuse hier wieder die innere Verbundenheit von nationalsozialistischem „Staatskapitalismus“ und westlichem „Monopolkapitalismus“ behaupten, hätte er alle feineren politischen Entscheidungen der zurückliegenden Jahre wieder vergessen, was freilich nicht nur hier der Fall wäre; vgl. oben, Anm. 235. Was er genau meint, bleibt ungeklärt. Nachvollziehbar sind dagegen die von den Ereignissen in Italien angeregten Überlegungen zum inneren Machtzerfall in Deutschland, auch wenn die Schlußfolgerungen unrealistisch anmuten und mit den alliierten Hauptkriegszielen unvereinbar waren.

[363] Einige weitere kurze Bemerkungen zum Judenmord aus weiteren Briefen dieser Korrespondenz können noch ergänzt werden. Als Horkheimer am 15. Juli 1944 Marcuse einen Geburtstagsgruß sendet, enthalten die wenigen Zeilen auch folgende Aussage: „Torture, despair, and death came to so many of our likes and untold hecatombs, destruction has been the fate of so great a part of the spiritual and material things we cherished, that the good news finds us in a miserable shape“ (Horkheimer, Gesammelte Schrifte, Bd. 17, S. 560 f.). Das Wissen über den Holocaust überschattete offensichtlich das Alltagsleben und gestattete keine ungetrübte Geburtstagsfreude. Eine Anspielung auf die Rolle der I.G. Farben im Prozeß der Ausbeutung und Ermordung der Juden macht Marcuse in einem Brief aus Washington, den er am 22. Mai 1945 an Horkheimer schreibt: „We have plenty of work for the War Crimes Commission, and the pressure is even greater than before. […] You have received the preliminary report from Frankfurt. […] Symbolism: the only big buildings which have not been damaged are the Hauptbahnhof, the main Synagogue, and the I. G. Farben building“ (ebd., S. 636-638). Die Verbindung von Kriegsverbrechensaufklärungarbeit im OSS und I.G. Farben legt nahe, daß Marcuse die Zusammenhänge bekannt waren.

[364] Er findet sich im Marcuse-Archiv und wurde von Douglas Kellner ediert in: Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 200-214; vgl. die editorische Notiz ebd., S. 200; zu den Entstehungsumständen und zur weiteren Diskussion der ästhetischen Fragen Katz, Herbert Marcuse, S. 120-129; Kellner, Technology, War, and Fascism, S. 28-31.

[365] Vgl. Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 169; zum Kontext oben, S. 73 f.

[366] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 201. Man bedenke, daß Marcuse im Jahr 1945 schreibt. Vgl. zur damaligen „Hollywoodversion“ Novick, Nach dem Holocaust, S. 43-45.

[367] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 202 f.

[368] Vgl. Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 207: „In the night of fascist terror appear the images of tenderness, ‘douceur’, calmness and free fulfillment; the agony of the Gestapo becomes the agony of love. […] the language of love emerges as the instrument of estrangement; its artificial, unnatural, ‘inadequate’ character is to produce the shock […]“; vorhergehendes Zitat im Text oben ebd., S. 206.

[369] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 207.

[370] Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 213 f.

[371] Der Briefwechsel findet sich im Herbert-Marcuse-Archiv, hat aber noch keine archivarische Nummer erhalten. Geringfügig fehlerhaft ist der Originalwortlaut abgedruckt in: Peter-Erwin Jansen (Hrsg.), Befreiung denken – Ein politischer Imperativ. Ein Materialienband zur politischen Arbeitstagung über Herbert Marcuse am 13. und 14. Oktober 1989 in Frankfurt, Offenbach 1989, S. 111-115; eine englische Übersetzung von Richard Wolin in: Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 261-267.

[372] Vgl. Katz, Herbert Marcuse, S. 129 f.; Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 255; Wolin, Heidegger’s Children, S. 135-172. – Die Literatur zu Heideggers nationalsozialistischem Engagement ist ausufernd. Zu den wichtigsten Beiträgen, die mehr oder weniger zuverlässig über die damit verbundenen historischen und philosophischen Fragen informieren, zählen: Victor Farías, Martin Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1989; Christian Graf Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt und Martin Heidegger, Frankfurt am Main/New York 1990; LaCapra, Representing the Holocaust, S. 137-168; Bernard-Henri Lévy, Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts, München/Wien 2002, S. 175-209; Domenico Losurdo, Die Gemeinschaft, der Tod, das Abendland. Heidegger und die Kriegsideologie, Stuttgart/Weimar 1995; Bernd Martin (Hrsg.), Martin Heidegger und das „Dritte Reich“. Ein Kompendium, Darmstadt 1989; Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt am Main/New York 1989; Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, Frankfurt am Main 2001; Alexander Schwan, Politische Philosophie im Denken Heideggers, Opladen ²1989; Richard Wolin, Seinspolitik. Das politische Denken Martin Heideggers, Wien 1991.

[373] Herbert-Marcuse-Archiv, Heidegger-Korrespondenz; Jansen, Befreiung denken, S. 111 f.; Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 263-265. Der Wortlaut wird hier und im folgenden der üblichen Schreibweise angepaßt, offensichtliche Fehler werden stillschweigend korrigiert (etwa: „tödlich“ statt „toetlich“), geringfügige grammatische Anpassungen werden vorgenommen.

[374] Allerdings riß der persönliche Kontakt zwischen den beiden Denkern nach Marcuses zweitem, im folgenden untersuchten Brief ab; vgl. Katz, Herbert Marcuse, S. 130; Kellner, Technology, War, and Fascism, S. 36.

[375] Herbert-Marcuse-Archiv, Heidegger-Korrespondenz; Jansen, Befreiung denken, S. 112-114 (mit einem Übertragungsfehler auf S. 113, wo das Wort „blutiges“ im obigen Zitat fehlt); Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 265 f.

[376] Herbert-Marcuse-Archiv, Heidegger-Korrespondenz; Jansen, Befreiung denken, S. 114 f. mit falscher Datierung des Briefes; Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 266 f. mit geringfügig fehlerhafter Datierung des Briefes.

[377] Vgl. eine neue vergleichende Untersuchung ethnischer Säuberungen in Europa, die Gemeinsamkeiten erkennt, aber auch klar die Besonderheiten des Holocaust herausarbeitet: Norman N. Naimark, Flammender Haß. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert, München 2004.

[378] Zu diesem Begriff vgl. Diner, Zivilisationsbruch.

[379] Breitman, Staatsgeheimnisse, S. 317; ähnlich Aronson, Preparations for the Nuremberg Trial, S. 269. Vgl. die Erörterung der Forschungspositionen in der Einleitung oben, S. 13-17.

[380] Vgl. Katz, Herbert Marcuse, S. 105 f.

[381] Zu der Schwierigkeit, den Holocaust darzustellen, vgl. die wichtigen Beiträge aus heutiger Perspektive von Friedländer, Probing the Limits of Representation; LaCapra, Representing the Holocaust; ders., History and Memory after Auschwitz; ders., Writing History, Writing Trauma.

[382] Vgl. Marcuse, Technology, War, and Fascism, S. 169. Zum Kontext vgl. oben, S. 73 f.

[383] Zur Einführung in die Traumatheorie mit Bezug auf den Holocaust vgl. Cathy Caruth (Hrsg.), Trauma. Explorations in Memory, Baltimore/London 1995, bes. S. 3-12; LaCapra, Representing the Holocaust; ders., History and Memory after Auschwitz; ders., Writing History, Writing Trauma, bes. S. 1-85; Ruth Leys, Trauma. A Genealogy, Chicago/London 2000. Zur schwierigen und niemals absoluten Unterscheidung von Wiederholungszwang („acting out“) und Durcharbeiten („working through“) beim Traumatisierten vgl. LaCapra, Representing the Holocaust, S. 205-223; ders., Writing History, Writing Trauma, S. 43-85.

[384] Vgl. bes. unter Verwendung des Begriffs der Akkulturation Söllner, Wissenschaftliche Kompetenz und politische Ohnmacht, bes. S. 137 f., 145-149; ders., Neumann als Archetypus, bes. S. 40, 51-54; außerdem auch Katz, Foreign Intelligence, S. 34, 36 f., 38 f., 49-61, 67, 69; Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen, S. 10 mit Anm. 13, 11 f., 71-73, 94 f., 115-117, 138, 167 f., 172-174, 183, 184 f., 187-189, 193 Anm. 57, 194 f., 201, 202 f., 270-272; Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler, S. 124-134, 296; Buchstein, Eine heroische Versöhnung von Freiheit und Macht; Erd, Reform und Resignation, S. 24, 53, 77 f., 163, 207-222; Intelmann, Franz L. Neumann, S. 279-298; Iser/Strecker, Zerrissen zwischen Marxismus und Liberalismus?; Jay, The Dialectical Imagination, S. 166 f.; Kellner, Technology, War, and Fascism, S. 7, 24, 36; Söllner, Franz L. Neumann, S. 27-48; ders., „The Philosopher not as King“, bes. S. 114 f.; ders., Deutsche Politikwissenschaftler, S. 166-196; Stoffregen, Franz L. Neumann als Politikberater.

[385] Einige wenige wichtige Beiträge siehe oben, Anm. 6, 7. Die Charakterisierung als „Historikerstreit“ bei Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste, S. 12, 203-258.

[386] Vgl. Novick, Nach dem Holocaust, S. 33-85; Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste. Meine Übersicht folgt zumeist der chronologischen Darstellung von Schubert. Novick untersucht auf den angegebenen Seiten in drei Kapiteln zuerst die Reaktion der amerikanischen Öffentlichkeit, zweitens die der amerikanischen Juden und drittens die der amerikanischen Regierung.

[387] Zum Vorangehenden vgl. Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste, S. 15-59, 215, 218, 221 f., 224-231.

[388] Vgl. Novick, Nach dem Holocaust, S. 36 f.

[389] Dem amerikanischen ICR-Direktor George Rublee gelang es ungeachtet geringer Unterstützung seitens der beteiligten Regierungen, mit der deutschen Regierung Verhandlungen aufzunehmen. Trotz gewisser Erfolge konnte das ICR aber sein Ziel nicht erreichen, den deutschen Juden eine Auswanderung unter annähernd menschlichen Bedingungen zu ermöglichen. Die im ICR vertretenen Regierungen waren zum finanziellen Einsatz für die Flüchtlinge nicht bereit, bereitwillige Aufnahmeländer wurden kaum gefunden und die deutsche Regierung stellte unerfüllbare Forderungen. Die USA zeigten sich in diesem Verhandlungsprozeß als die am meisten an einem Erfolg interessierte Macht. Vgl. Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste, S. 60-121.

[390] Vgl. Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste, S. 150 f.

[391] Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste, S. 153-155, Zitat S. 155. Bei dem betreffenden Dokument handelt es sich um einen Bericht der Warschauer Untergrundorganisation „Bund“, der jüdischen sozialistischen Partei, der ebd., S. 261-263 in deutscher Übersetzung abgedruckt ist.

[392] Vgl. Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste, S. 155-165.

[393] Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste, S. 162.

[394] Ähnlich wie den tief in der deutschen Kultur verwurzelten Emigranten Marcuse und Neumann ging es einem amerikanischen Juden, der in der Zeit der Weimarer Republik lange in Deutschland gelebt, eine deutsche Jüdin geheiratet hatte und die deutsche Kultur überaus liebte – Shepard Stone, der nach dem Krieg bei der Ford Foundation für internationale Beziehungen zuständig war und dann in Berlin das Aspen Institute gründete. Obwohl er noch 1941 seine Schwiegereltern aus Deutschland retten konnte und in den kommenden Jahren immer mehr von den Verfolgungs- und Vernichtungsmaßnahmen erfuhr, konnte er anfänglich diese Nachrichten nicht völlig verstehen oder in ihrer Dimension einschätzen. Sein Deutschlandbild blieb auch dann noch von Zuneigung getragen: „Even these experiences“, merkt Stones Biograph Volker Berghahn an, „did not completely blacken it. The industrialized mass murder of millions of women, children, and elderly people was […] still beyond the horizon of human experience and hence unimaginable to most, including Stone, as a possibility in the ‘cultured’ nation that he had gotten to know as a student. […] It took him some time before the full truth about the Holocaust began to sink in“ (Volker R. Berghahn, America and the Intellectual Cold Wars in Europe. Shepard Stone between Philanthropy, Academy, and Diplomacy, Princeton/Oxford 2001, S. 38).

[395] Vgl. Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste, S. 165-176.

[396] Vgl. Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste, S. 177-184, Zitat S. 177. Zur zeitgenössischen Wahrnehmung des Holocaust unter amerikanischen Juden und zu den Stellungnahmen jüdischer Organisationen vgl. auch Novick, Nach dem Holocaust, S. 47-67.

[397] Vgl. Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste, S. 184-196.

[398] Diese Denkschrift findet sich in deutscher Übersetzung abgedruckt bei Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste, S. 264-274.

[399] Vgl. Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste, S. 197-201.

[400] Vgl. Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste, S. 205-207.

[401] Vgl. Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste, S. 12, 205, 230 f., 256.

[402] Vgl. Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste, S. 207-209.

[403] Vgl. Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste, S. 215, 218, 221 f.

[404] Vgl. Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste, S. 224-231.

[405] Vgl. Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste, S. 231-238.

[406] Vgl. Schubert, Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste, S. 239-258, Zitat S. 255; Novick, Nach dem Holocaust, S. 78-83.

[407] Vgl. Novick, Nach dem Holocaust, S. 69-85. Diese knappe Skizze bietet eine ausgewogene Interpretation des Regierungshandelns, die betont, daß die kritische Einschätzung des Regierungshandelns unter den Zeitgenossen selten war und vermehrt erst nachträglich einsetzte.

[408] Vgl. Novick, Nach dem Holocaust, S. 34: „Das mörderische Handeln des nationalsozialistischen Regimes, das zwischen fünf und sechs Millionen europäischen Juden das Leben kostete, war vollständig real. Aber ‘der Holocaust’, wie wir es heute nennen, war größtenteils eine retrospektive Konstruktion, etwas, was die meisten Zeitgenossen nicht erkennen konnten. Von ‘dem Holocaust’ als spezifischer Größe zu sprechen, auf die die Amerikaner in unterschiedlicher Weise reagierten (oder versäumten zu reagieren), bedeutet die Einführung eines Anachronismus, der dem Verständnis zeitgenössischer Reaktionen im Wege steht.“

[409] Novick, Nach dem Holocaust, S. 46.

[410] Vgl. bes. Claussen, Grenzen der Aufklärung. Wichtige Beiträge zu den verschiedenen Denkern der Frankfurter Schule, darunter auch zu Adorno, versammelt Diner, Zivilisationsbruch.

[411] Vgl. Adorno, Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt am Main 1997, S. 358: „Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“

[412] Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 10/1: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild, Frankfurt am Main 1997, S. 11-30, hier S. 30. Diese Aussage wird später von Adorno widerrufen, wenn er erklärt: „Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.“ Im Grundsatz bleibt seine Aussage jedoch bestehen, wonach es weder eine künstlerisch noch eine theoretisch adäquate Darstellung von Auschwitz geben kann. Alles Bestehende ist durch Auschwitz erschüttert worden, denn das Bestehende hat Auschwitz möglich gemacht: „Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll. [...] Kulturkritik und Barbarei sind nicht ohne Einverständnis“ (ders., Negative Dialektik, S. 355, 359, 361).

[413] Tauber, Herbert Marcuse, S. 88. Auch die Bemerkungen im folgenden beruhen auf dieser in der Einleitung bereits erwähnten Untersuchung.

[414] Marcuse, Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt am Main 1965, S. 11.

[415] Tauber, Herbert Marcuse, S. 90.

[416] Tauber, Herbert Marcuse, S. 91.

[417] Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 18, S. 657. Marcuse schrieb seinen Brief aus Cambridge, Massachusetts.

[418] Tauber, Herbert Marcuse, S. 92.

[419] Tauber, Herbert Marcuse, S. 92-94. Die Tendenz zur Gleichsetzung im Namen einer Gewaltgeschichte der Moderne wird auch in Marcuses Werk „Der eindimensionale Mensch“ von 1964 erkenntlich. Marcuse greift zustimmend eine Aussage des Dramatikers Eugène Ionesco auf, wonach die „Welt der Konzentrationslager [...] das Bild, in gewissem Sinne die Quintessenz der höllischen Gesellschaft [war], in der wir jeden Tag stecken“ (Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, München ³1998, S. 99). In einer noch bedenklicheren Passage setzt Marcuse die Schrecken der Welt nach 1945 und den Terror des Nationalsozialismus gleich: „Dieser größere Zusammenhang der Erfahrung, diese wirkliche, empirische Welt ist heute immer noch die der Gaskammern und Konzentrationslager, von Hiroshima und Nagasaki, von amerikanischen Cadillacs und deutschen Mercedeswagen, die des Pentagon und des Kreml, nuklearer Städte und chinesischer Kommunen, von Kuba, Gehirnwäsche und Massakern“ (ebd., S. 194).

[420] Tauber, Herbert Marcuse, S. 96 f. Zitat von Marcuse aus einem Interview mit der israelischen Zeitung Ha’arez vom 2. Januar 1972, S. 12.

[421] Tauber, Herbert Marcuse, S. 98.

[422] HMA: 2063.1-12. Es handelt sich um einen Artikel aus der „taz“ vom 19.4.1979 zum Urteil im Majdanek-Prozeß; um zwei Artikel aus der „New York Review of Books“ von 1978/79 über „The Nazi Boom“; drei Artikel aus der Frankfurter Rundschau vom Februar 1979 über eine Extremismus-Tagung, über die „Holocaust“-Serie und über Antisemitismus und „Neo-Nazismus“ in der Bundesrepublik; eine Diskussion der „Zeit“ vom 16.3.1979 zur „Holocaust“-Serie; sowie fünf Beiträge in der „Los Angeles Times“ von 1978 über die „Holocaust“-Serie, das Milgram-Experiment und das Medieninteresse an Juden.

[423] Vgl. den bereits zitierten Geburtstagsbrief von Horkheimer vom 15. Juli 1944: „Torture, despair, and death came to so many of our likes and untold hecatombs, destruction has been the fate of so great a part of the spiritual and material things we cherished, that the good news finds us in a miserable shape“ (Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 17, S. 560 f.). Von der Liebe deutsch-jüdischer und anderer Emigranten zur deutschen Kultur und von der traumatischen Erfahrung des Verlusts dieser Kultur, zuerst durch die Emigration und später durch die Kenntnis vom Holocaust, und von dem immer wieder verzweifelt unternommenen Versuch, diese Kultur aus ihren Ruinen zu retten, berichtet auch Rabinbach, „The Abyss that opened up before us“. Thinking about Auschwitz and Modernity, in: Moishe Postone/Eric Santner (Hrsg.), Catastrophe and Meaning. The Holocaust and the Twentieth Century, Chicago/London 2003, S. 51-66.


Bibliography on separate page

MA thesis 2004 by Tim B. Müller, prepared for the web by Harold Marcuse, Nov. 12, 2007; back to top