Zur Aktualität der Philosophie Herbert Marcuses
Veranstaltung am 17. JULI 2003 an der FU Berlin
Block 1

Harold Marcuse:

Auch ich möchte sie hier herzlich willkommen heißen. Mein Vater hat mir aufgetragen, für die Familie zu sprechen. Ich möchte meine Ausführungen in drei Teile gliedern: Erstens möchte ich einige persönliche Bemerkungen zum eigentlichen Anlaß, der Überführung von Herbert Marcuses Asche, machen. Wie kam es dazu, daß 24 Jahre nach seinem Tod seine Asche noch nicht beigesetzt war, und warum die Ortswahl auf Berlin fiel. Dann möchte ich etwas aus meiner Berufsperspektive erzählen. Ich lehre deutsche Geschichte an der University von Kalifornien. Wie steht diese letzte Rückkehr von dem jüdischen Marxisten Marcuse nach Deutchland in der historischen Entwicklung Deutschlands im 20. Jahrhundert? Und dann zum Schluß als dritter Teil eine Überleitung zum Tagungsthema: wie steht es mit der Aktualität von Herbert Marcuses Denken am Anfang des 21. Jahrhunderts?

Erstens also einige Bemerkungen zum Anlaß der heutigen Zusammenkunft. Warum sind wir jetzt hier versammelt? Das verdanken wir dem Zufall. Sie lachen--aber ganz ehrlich. So fängt die Geschichte an: Herbert Marcuse ist 1979 in Deutschland gestorben. Er war hierher eingeladen worden, um an den Frankfurter Römerberg-Gesprächen teilzunehmen, das war Anfang Juni 1979. Anschließend war geplant, einer Einladung nach Starnberg zu folgen, an das damalige Max-Planck-Institut zur Erforschung der wissenschaftlich-technischen Welt. Ich glaube, Habermas war damals der Leiter. Herbert ging nach Starnberg, erlitt aber kurz darauf einen Schlaganfall, und kam ins Krankenhaus. Es wurde bald klar, daß er sich nicht davon erholen würde. Kurze Zeit danach, am 29. Juli, zehn Tage nach seinem 81. Geburtstag, starb er.

Damals war seine dritte Frau Erica--Ricky--Sherover bei ihm. Sie hatte keine besonders positiven Verbindungen zu Deutschland. Als Mensch jüdischer Abstammung, die im mexikanischen Exil mit einer kommunistischen deutschen Gouvernante aufgewachsen war, hatte Ricky Deutschland zuerst als Land der Menschheitsverbrechen kennengelernt. Als Herbert starb wollte sie, daß er auf keinen Fall in Deutschland bleiben solle. Sie wollte nichtmals, daß er in Deutschland eingeäschert wurde.

Um eingeäschert zu werden ist er dann ins Ausland gebracht worden. Seine Asche wurde danach in die USA überführt. Nun kann man Menschenasche nicht einfach per Luftpost nach Hause schicken, wir mußten ein Bestattungsunternehmen damit beauftragen. Das hat mein Vater organisiert. So kam Herberts Asche zu einem Bestattungsunternehmen in den USA, das durch einen Berufskollegen von Peter vermittelt worden war.

Ricky hat sich nicht sofort darum kümmern können oder wollen, was mit Herberts Asche passieren sollte. Fünf Jahre später ist dann auch sie ganz plötzlich und unerwartet gestorben, an Krebs. Was mit Herberts Asche geschehen sollte, hatte sie noch nicht entschieden. Da lag die Asche also bei einem uns nicht bekannten Bestattungsunternehmen.

Im März 2001 habe ich eine Internetseite über Herbert eingerichtet, um einige Dokumente und Informationen im Besitz der Familie verfügbar zu machen. Eines Tages, es war Dezember 2001, erreichte mich über die Internetseite eine Anfrage aus Belgien, die lautete: "Wissen Sie, wo Herbert Marcuse begraben ist?"

Meine Antwort war: "Soweit ich weiß, ist er gar nicht begraben. Seine Asche befindet sich in einem Bestattungsunternehmen in Connecticut. Ich werde mich danach erkundigen, wo sie ist". Mein Vater fragte nach und fand heraus, bei welchem Bestattungsunternehmen Herberts Asche war. Dann begann innerhalb der Familie eine Diskussion, wiederum mit neusten Medien--wir bedienten uns vor allem der e-mail. Die Diskussion ist auf der Internetseite dokumentiert. "Was machen wir damit?"

Mein Vater, der in solchen Dingen sehr unsentimental ist, fragte: "Mir ist es egal - es ist ein Häufchen Erde. Was wollt ihr denn damit machen?" In der Familiendiskussion habe ich die Meinung vertreten, daß dieses Häufchen Erde eigentlich nach Deutschland sollte. Es sollte ein Grab sein, zu dem die Menschen, denen Marcuse wichtig ist, hingehen können. Meine Schwester meinte, daß Deutschland schließlich genug an jüdischer Asche hat--selbsterzeugter jüdischer Asche. Deshalb sollte Herberts Asche auf keinen Fall nach Deutschland. Ausserdem habe Herbert sich selbst entschieden, nicht nach Deutschland zurückzukehren, sondern in den Vereinigten Staaten zu bleiben. Irene meinte, daß Herberts Asche verstreut werden sollte, am Pazifik, an einem Ort in der Nähe von San Diego, den er sehr liebte. Wir haben das diskutiert, und ich mußte zugeben, daß die Bundesrepublik Deutschland Herbert nie richtig eingeladen hatte, zurückzukehren. Wie Peter-Erwin Jansen später ausführen wird, kam es Mitte der 60er Jahre fast zu einer Berufung an die FU nach Berlin, aber das wußten wir damals nicht.

Horkheimer und Adorno, Herberts Freunde und Kollegen, waren nach 1945 zurückgekommen, haben sich in Frankfurt wieder etabliert. Adorno ist sogar in Frankfurt begraben. Herbert aber wollte nicht nach Deutschland zurück - entweder fühlte er sich nicht eingeladen, oder er wollte es einfach nicht. In unserer Familie gibt es unterschiedliche Meinungen dazu, was in ihm vorging. Schließlich meinten wir, daß Herbert Deutschland wahrscheinlich nicht als seine letzte Ruhestätte gewählt hätte. Aber das müsse nicht das Ausschlaggebende sein. Wichtiger wäre, was seine Grabstätte der Nachwelt bedeute.

Letztendlich haben wir gesagt: �Wenn Deutschland die Asche haben will, dann kommt sie nach Deutschland." Wir haben eigentlich von Anfang an nur an Berlin gedacht, wo Herbert geboren und aufgewachsen ist, und wo mein Vater, Herberts einziges leibliches Kind, auch geboren wurde. Wir haben die Friedhöfe Berlins recherchiert. Es standen drei zur Debatte, die jeweils eine andere deutsche Tradition repräsentieren: der jüdische Friedhof im Weißensee, der Friedhof der Sozialisten mit Luxemburg und Liebknecht im Friedrichshain, und der Dorotheenstädtische Friedhof der Dichter und Denker, wie Heinrich Mann, Brecht und Hegel. Da Herbert vor allem als Denker tätig war, haben wir uns für den letzteren entschieden. Dorthin haben wir geschrieben und angefragt, ob man bereit wäre, eine Grabstelle für Herbert zur Verfügung zu stellen.

Und in der Tat, der Dorotheenstädtische Friedhof hat "ja" gesagt. Sie haben vorgeschlagen, dass man ein Ehrengrab der Stadt Berlin bekommen könnte, wo der Senat die Pflege erstmal für 20 Jahre übernimmt. Das haben wir dann durch den Kultursenator beantragt und bekommen. Der Senat hat daraufhin wohl der philosophischen Fakultät der FU gesagt: "Jetzt kommt Marcuse ein letztes Mal posthum nach Berlin, wollt ihr nicht eine Veranstaltung dazu machen?" Und so sitzen wir heute hier.

I would also like to welcome you here today. My father asked me to say a few words for our family. I'm going to talk about three different things. First I'd like to say a few words about the return of Herbert's asches to Germany, the reason why we're here today. How did it happen that 24 years after his death his ashes had still not found a final resting place, and why was Berlin chosen as the location of his grave? Then I'd like to say something from my professional perspective as a professor of modern German history, which I teach at the University of California. How does this final return of Marcuse, a German-Jewish Marxist, fit into the history of Germany in the 20th century? And finally I'll conclude with a third part to transition to the topic of this conference: What do I see as the relevance of Herbert Marcuse's thought at the beginning of the 21st century?

First, some remarks about what triggered today's conference. Why are we here today? It really goes back to a coincidence. You're laughing, but it's true. This is how the story begins: Herbert Marcuse died in Germany in 1979. He was invited to Germany to participate in the Frankfurt Römerberg discussions in June 1979. After that he was supposed to go to the Max Planck Society for the Study of the Scientific-Technical World in Starnberg. I think Habermas was its director. Herbert did go to Starnberg, but shortly thereafter he had a stroke and was hospitalized. Soon it became clear that he was not going to recover. A short time later, on July 29, ten days after his 81st birthday, he died.

His third wife Erica--Ricky--Sherover was with him at the time. She didn't have any especially positive feelings towards Germany. As someone of Jewish ancestry who grew up in exile in Mexico with a communist German governess, Ricky first became acquainted with Germany as a country that committed unparalled crimes against humanity. When Herbert died Ricky absolutely didn't want Herbert to be buried in Germany. She didn't even want him to be cremated in Germany.

He was taken out of Germany to be cremated. His ashes were then sent to the US. Now you can't simply send human ashes home by air mail, so we had to have a funeral home take care of that. My father arranged the transfer with the help of a former colleague, and Herbert's ashes were sent to a funeral home in the US.

Ricky wasn't able or didn't want to decide what to do with the ashes right away. Five years later she, too, died very suddenly and unexpectedly of cancer. She still hadn't decided what was going to happen with Herbert's ashes. So the ashes were at a funeral parlor whose name we didn't know (Peter's colleague had also died in the meantime).

In March 2001 I started a web page about Herbert, in order to make generally accessible some documents and information that were in the family's possession. One day in December 2001, a reader of the web page sent me an inquiry: "Do you know where Herbert Marcuse is buried?"

My answer was, "As far as I know, he isn't buried at all. His ashes are in a funeral home in New Haven, Connecticut. I'll find out more if I can." My father was able to find out the name of the funeral home that had received the ashes. Then our family began to discuss, again with the new medium--most of the discussion took place on e-mail and is documented on the family's web site for Herbert. "What are we going to do with the ashes?"

My father, who is pretty unsentimental about such things, asked, "I don't care, it's just a pile of dirt. What do you want to do with it?" In the discussion I took the position that this pile of dirt should really return to Germany. There should be a grave that people for whom Marcuse was important can go to. My sister said that Germany already has enough Jewish ashes, intentionally produced Jewish ashes. So Herbert's ashes absolutely should not return to Germany. Besides, Herbert himself decided not to return to Germany, but to stay in the United States. Irene thought that Herbert's ashes should be strewn over the Pacific Ocean, at Torrey Pines near San Diego, a beautiful place that he loved to go to. We discussed it and I had to admit that West Germany had never really invited Herbert to come back to stay. Actually, as Peter-Erwin Jansen will explain later, in the mid-1960s he was almost offered a position here at the Free University in Berlin, but we didn't know that at that time.

Horkheimer and Adorno, friends and colleagues of Herbert's, did come back after 1945 and reestablished themselves in Frankfurt. Adorno is even buried in Frankfurt. But Herbert didn't want to return to Germany--either he didn't feel invited, or he simply didn't want to return. In our family there are differing opinions about what his reasons might have been. In the end we agreed that Herbert himself probably would not have chosen Germany as his final resting place, but that wouldn't necessarily be the deciding factor. The importance of his grave for posterity would be more important.

Finally we said, "If Germany wants his ashes, then they will go to Germany." From the beginning we only thought of Berlin, where Herbert was born and grew up, and where my father, his only biological child, was born. We did some research on cemeteries in Berlin. There were three that we considered, each representing a different German tradition: the Jewish cemetery in Weissensee, the 'Cemetery of Socialists' with Luxemburg and Liebknecht in Friedrichshain, and the Dootheenstädtische cemetery of writers and intellectuals such as Brecht and Hegel. Since Herbert was primarily an intellectual, we settled on the latter. We wrote to the cemetery administration and asked whether they would be willing to give us a plot for Herbert.

And indeed, the Dootheenstädtische cemetery said yes. They suggested that we apply for the designation as an honorary grave of the city of Berlin, for which the Berlin Senate would provisionally carry the costs for the first 20 years. Our application through the Senator for Culture was approved. After that the Senate must have suggested to the humanities branch of the Free University, "Marcuse is posthumously coming to Berlin one last time, don't you want to organize a conference. And thus here we sit today.

Nun zum zweiten Teil: Was hat meine Perspektive als Historiker der deutschen Nachkriegsgeschichte mit Herberts posthumer Rückkehr nach Deutschland zu tun? Anders gefragt, warum habe ich mich schließlich so sehr dafür eingesetzt, obwohl ich zugeben mußte, daß er selbst diese letzte Rückkehr wahrscheinlich nicht gewählt hätte?

Es ist ein bekanntes Phänomen, daß die Enkel von Emigranten sich wieder stärker für das Emigrationsland interessieren, stärker als die Kinder der Emigranten. Dies trifft wohl bei mir zu. Ich hatte im college in den USA Naturwissenschaften studiert, wollte ein Auslandsjahr machen und hatte Deutschland gewählt. So kam ich 1977/78 nach Freiburg, Herberts letzter Wohnort bevor er vor den Nazis floh. Es ergab sich, daß ich mich entschied, hier zu bleiben und statt Physik Kunstgeschichte zu studieren.

Ich habe mich sehr für Denkmale interessiert. Eine Sache, die mich besonders interessiert hat, war: Was hat dieses Land aus der nationalsozialistischen Geschichte gemacht, was ist aus den Orten der Täter geworden? Ich habe damals erst Dachau besucht und bin dann mit dem Fahrrad zu einer ganzen Reihe von ehemaligen KZ-Orten gefahren, habe sie fotografiert, und schliesslich 1985 eine Fotoausstellung darüber gemacht -- über die Denkmale in KZ-Gedenkstätten. Also: Ich habe mich persönlich sehr stark für die nachträgliche Symbolsetzung, für die symbolische Verarbeitung der Vergangenheit, für die Aufarbeitung der Vergangenheit interessiert. Letzten Endes habe ich über das Thema promoviert und ein Buch über die Nachkriegsgeschichte des KZ Dachau geschrieben, über die Geschichte des Ortes von 1945 bis heute. Meine Leitfragen waren: Was ist in Dachau seit 1945 passiert, und wie reflektiert das die politische Kultur der Bundesrepublik insgesamt? Wie hat die Bundesrepublik die Geschichte des Nationalsozialismus verarbeitet?

Was war also die Rezeption des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik? Die fünfziger Jahre bezeichnen wir mit dem Schlagwort Verdrängung, denn man dachte vorwärts, nicht rückwärts. In den sechziger Jahren fragte dann die Studentengeneration sehr kritisch ihre Elterngeneration: "Warum habt ihr nichts gegen die Nazis gemacht, damals?" Seit den 70er Jahren arbeitete man die tatsächlichen Verhältnisse langsam auf, durch die Alltagsgeschichte. Mit einigen überkommenen Mythen wurde aufgeräumt, obwohl andere noch heute herumgeistern. Seit 1979, als Herbert starb, ist die Bundesrepublik Deutschland einen weiten Weg gegangen, was die politische Kultur anbetrifft. Einmal war also das jetzt erreichte Stadium des Aufarbeitungsprozesses wichtig, aber die Entscheidung für Herberts Rückführung nach Berlin hing auch mit anderen deutschen Traditionen zusammen.

Es gab in Deutschland große intellektuelle Traditionen. Mein Vater hat eben schon erwähnt, daß wir, Herberts Familie, Kinder, Nichten, Neffen, Enkel, Urenkel, in den letzten Tagen verschiedene politische und kulturelle Gedenkstätten in Berlin besucht haben. Unsere Stadtrundfahrt zur Geschichte Berlins ging zurück zur Zeit Friedrichs des Großen und der Tradition des aufgeklärten Absolutismus. Die eine Wurzel dieser Tradition war, daß der aufgeklärte Fürst am besten für sein Volk entscheiden könne, sehr viele gute Entscheidungen getroffen hat, und tatsächlich eine kulturelle Blütezeit zu Anfang des 19. Jahrhunderts eingeleitet hat. Berlin hat sich damals mit jeder Grossstadt der Welt messen können. Aber dann, meinen Historiker, schlug die deutsche Geschichte einen verhängnisvollen Weg ein, der schließlich im Nationalsozialismus endete.

Wann war das? Hier gibt es verschiedene Meinungen über den verhängnisvollen Wendepunkt: Die Revolution von 1848, in der der König sich den Demokraten als symbolische Leitfigur verweigerte, oder vielleicht 1918 - wir waren gestern auch am Landwehrkanal, wo Luxemburg und Liebknecht ermordet wurden. Man kann immer wieder Gedankenexperimente machen: Was wäre gewesen, wenn? Wenn Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nicht ermordet worden wären. Wenn, sagen wir, statt Ebert Luxemburg Präsidentin der Weimarer Republik geworden wäre, hätte dann die Geschichte nicht einen sehr anderen Lauf genommen? Wichtig für unsere Entscheidung war auch der Blick zurück in diese unterbrochenen deutschen Aufklärungstraditionen, in die Herbert sehr stark verwurzelt war. Er hatte Hegel studiert, und er hatte den deutschen Künstlerroman, den deutschen Bildungsroman als sein Dissertationsthema gewählt.

Er hat sich also sehr intensiv mit der aufklärerischen Tradition beschäftigt. Natürlich hat er auch den Marxismus studiert. Aber er wollte Marx' Denken kreativ, schöpferisch fortführen. Der Gedankengang war vielleicht wie folgt: Marx starb 1883. Er hat die historische Erfahrung des ausgehenden 19. Jahrhunderts, des ersten Weltkriegs, der Weimarer Zeit, der großen Depression nicht gehabt, er hat den Monopolkapitalismus nicht erlebt, er hat nicht erleben können, wie schöpferisch der Kapitalismus mit Herrschaft umgehen kann, mit der Herrschaftsausübung, und mit welcher Kreativität die Managerklasse, die Verwaltungen darangehen konnten, ihre Vorherrschaft zu sichern.

Und Marcuse - eigentlich die Frankfurter Schule insgesamt - hat versucht, aus diesen weiteren Erfahrungen den Marxismus schöpferisch weiterzudenken. Sie hielten daran fest, daß eigentlich der ökonomische Boden der Beweggrund aller Geschichte ist. Aber sie wußten auch, daß andere Möglichkeiten, andere Triebkräfte in der Natur des Menschen auch sehr wichtig sind. Und sie dachten darüber nach, wie man diese entwickelt, zur Entfaltung bringt, um positive Veränderungen in der Gesellschaft zu bewirken.

An die Fortführung dieser Traditionen war es, an die wir gedacht haben, als es darum ging, ob Herbert denn auf einem Friedhof begraben werden solle, wo Hegel, Brecht und Bahro liegen, ob Herbert denn eigentlich dort gut aufgehoben wäre.

Kann man nicht diese Rezeptionsgeschichte wieder aufgreifen? Wir können durchaus versuchen, diese Traditionen aus dem 19. Jahrhundert, die Traditionen der Aufklärung, des Marxismus, des Kommunismus à la Luxemburg und Liebknecht, wieder aufgreifen.

Also noch einmal die Frage: Was wäre gewesen, wenn? Wenn Herbert Marcuse hier in Deutschland geblieben wäre, wenn die Frankfurter Schule hier geblieben wäre, wenn Hitler nicht so lange an der Macht geblieben wäre? Würde es dann nicht eine stärkere, pluralistische, überlebensfähigere marxistische Tradition geben? Die politischen Voraussetzungen für eine solche Entwicklung waren Anfang der dreißiger Jahre nicht so schlecht, aber dann kamen Stalin und Hitler und schliesslich die DDR, die unter anderem auch an Kreativitätsmangel zugrunde gegangen ist.

Was wäre gewesen, wenn? Gut, so ist es nicht geworden. Aber: Kann man nicht diese durch den Nationalsozialismus abgeschnittenen Traditionen wieder aufleben, wieder wachsen lassen? Meine Vorstellung war, daß Herbert Marcuse wie ein Keim oder wie eine Sprosse ins Ausland gegangen war, wo diese deutsche Tradition Früchte getragen hat. Und daß diese Früchte nun wieder zurück nach Deutschland kommen sollten. Und daß man jetzt an sein Denken, in jener kritisch-schöpferischen intellektuellen Tradition, wieder ansetzen kann. Symbolisch, denke ich, war genau das der Grund, Herberts Asche nicht im Pazifik zu verstreuen. Wir dachten: Berlin soll der Ort sein, wo diese politisch-intellektuelle Traditionen wieder aufleben sollte.

In der Familie haben wir uns sehr viele Gedanken gemacht: Wenn wir Herbert wieder nach Deutschland bringen, heisst das nicht, dass wir die Abschneidung dieser Traditionen symbolisch vertuschen, als sei sie nie geschehen? Wäre er nie in die Emigration gezwungen, wäre er wohl auch in Berlin begraben worden. Ist es denn eine Versöhnungsgeste, zu sagen: "Jetzt ist wieder alles gut in Deutschland, wir bringen ihn wieder zurück und wir brauchen uns keine Gedanken mehr zu machen"? Ich glaube, das war der Sinn von dem was mein Vater vorhin sagte: Die Rückführung der Asche eines rausgejagten jüdischen Marxisten ist keine Versöhnungsgeste. Vielmehr ist es eine Geste der Hoffnung, der Verpflichtung, eine Geste des Vertrauens in das Potential eines sehr kreativen Denkens unter Intellektuellen in Deutschland, die eine sehr offene, kritische Debatte über ihr eigenes Land führen.

Now for my second part. What does my personal perspective as historian have to do with Herbert's posthumous return to Germany? In other words, why did I feel so strongly that his grave should be here, even though I had to admit that he probably wouldn't have chosen this final resting place himself?

It is a known phenomenon that the grandchildren of emigrants have a stronger interest in learning about the ancestral country than the emigrants' children do. That was also the case with me. As a science major in college I wanted to spend a year abroad, and I decided to go to Germany. In 1977-78 I went to Freiburg, Herbert's last residence in Germany before he fled from the Nazis. As things turned out, I decided to stay in Germany and study the history of art instead of physics.

I was very interested in monuments and memorials, especially how Germany remembered its National-Socialist past. What happened to the scenes of crimes against humanity? Back then I visited first Dachau and then took bicycle trips to a whole series of former concentration camps, took pictures of them, and finally produced a photographic exhibition about them that toured Germany in 1985. So you can say that I'm personally very interested in posthumous historical symbolism, in the symbolic processing of the past, in the ways societies work through their history. Ultimately I wrote my doctoral dissertation about this process. It is now a book based on the postwar history of Dachau, about the history of the concentration camp site from 1945 until today. My main questions were: what happened in Dachau since 1945, and how does that reflect the political culture of West Germany? How did West Germany process the history of National Socialism?

So, what was the reception of National Socialism in West Germany? We characterize the 1950s with the term repression, since people were oriented towards the future, not retrospectively. In the 1960s the generation of students criticized the parental generation, asking "Why didn't you do anything against the Nazis?" Since the 1970s people have been working through the actual history of the period, focusing on the history of everyday life. Some old myths have been cleared up, although others still remain. Since 1979, when Herbert died, West Germany has come a long way as far as political culture is concerned. Thus on the one hand the current stage in the processing of the National Socialist past was important for the decision to return Herbert's remains to Berlin, but other German traditions also played a role.

Germany has many great intellectual traditions. My father already mentioned that we, Herbert's family, children, nieces, nephews, grandchildren, great-grandchildren, visited various political and cultural memorial sites in Berlin in the past few days. Our historical tour went back to the time of Frederick the Great and the tradition of enlightened absolutism. One root of that tradition was that the enlightened ruler made the best decisions for his people, and indeed there was a culture flowering at the beginning of the 19th century. At that time Berlin held its own with every major city of the world. But then, historians say, German history took a fateful turn that ultimately led to National Socialism.

When was that? There are different opinions about the fateful turning point: the revolution of 1848, when the Prussian king refused the democratic revolutionaries' offer to become the symbolic head of state, or perhaps 1918--yesterday we were at the site where Rosa Luxemburg and Karl Liebknecht were murdered in 1919. We can always think about counterfactual: What would have happened, if�? If Luxemburg and Liebknecht had not been murdered. If, let's say, instead of Friedrich Ebert Rosa Luxemburg had become president of the Weimar Republic, wouldn't history have taken a very different course? It was important for our family's decision to look back to these interrupted German traditions of enlightenment, in which Herbert himself was rooted. He studied Hegel, and he wrote his doctoral thesis about the German Bildungsroman.

He was thus intensely interested in the traditons of enlightenment. Of course he also studied Marxism, but he wanted to extend Marx's thought creatively, not dogmatically. Perhaps he thought as follows: Marx died in 1883. He didn't have the historical experience of the end of the 19th century, of the First World War, of the Weimar period, of the Great Depression. He didn't experience monopoly capitalism, he didn't know how creatively capitalism can wield and exercize power, how imaginatively the class of managers and administrators could secure their hegemony.

And Marcuse--actually the whole Frankfurt School--tried to take these historical developments and creatively think through them. They kept the basic premise that the economic system is the fundamental dynamic force of all history, but they also recognized that other forces in human nature are also crucial. And they thought about how these other forces could be developed, how they could be brought to bear in order to effect positive changes in society.

It was on the continuation of these traditions that we thought, when the question was whether Herbert should be buried in the cemetery where Hegel, Brecht und Bahro lie, whether Herbert would be well-placed there.

Can't these traditions of creatively continuing the legacies of enlightened thinkers be revived? We can certainly try to continue the traditions of the 19th century, of the Enlightenment, of Marxism, of Communism as envisaged by Luxemburg and Liebknecht.

Let me pose the question once again: What would have happened if? If Herbert Marcuse had stayed in Germany, if the Frankfurt School had stayed here, if Hitler hadn't stayed in power for so long? Wouldn't there have been a stronger, more pluralistic, more viable Marxist tradition? The political conditions for such a development were not bad at the beginning of the 1930s, but then came Stalin and Hitler and later East Germany, whose demise can also be attributed to a lack of creativity and flexible thinking.

What would have happened if? Fine, it didn't happen. But: can't we revive and develop the traditions that National Socialism cut off? My image was that Herbert Marcuse was like a seed or sprout that went abroad, where these German traditions then bore fruit. And that these fruits should now return to Germany. And that we can now continue his analysis in that same critical, creative intellectual tradition. I think that that was precisely the symbolic reason not to strew Herbert's ashes over the Pacific. We thought: Berlin should be the place where these polical-intellectual traditions should be revived.

In our family we considered whether returning Herbert's remains to Germany wouldn't symbolically erase the destruction of these traditions, as if that had never happened. If Herbert had never been forced to emigrate, he would probably have been buried in Berlin. Is it a gesture of reconciliation, to say: "Now everything is fine in Germany, we'll bring him back and don't need to think about it any more"? I think that's what my father meant, when he said that the return of the ashes of a Jewish Marxist who was chased out of the country is not a gesture of reconciliation. It is rather a gesture of hope, of obligation, a gesture of trust in the potential of very creative analytical thought among intellectuals in Germany who are conducting a very open, critical debate about their own country.

Und nun komme ich zu meinem letzten Teil, zu meinen Gedanken zur Aktualität von Herbert Marcuse als Mensch und als Denker am Anfang des 21. Jahrhunderts. Ich sprach vorhin von meiner Vorstellung eines in der Fremde aufgeganenen Keims, dessen Früchte nun wieder zum ursprunglichen Boden zurückkommen. Ich muß sagen, daß der fremde Boden in den USA zur Zeit recht feindselig zur Demokratie und Aufklärung ist. Als Bürger der Vereinigten Staaten schäme ich mich sehr für die gegenwärtige Schwäche unserer wehrhaften demokratischen Tradition. Wir haben es zugelassen, daß wir einen ungewählten, einen eingesetzten Präsidenten haben, der Entscheidungen fällt, die überhaupt widersinnig sind, die gegen alle Raison, gegen alle Rationalität sind. Verblendung und blinder Nationalismus halten wieder Einzug. Ich finde, dass sich heutzutage in Deutschland eine stärkere kritische Tradition aufbaut, die sich auch hörbar machen kann. Auch deshalb finde ich, dass Herbert, wie ich hoffe, hier in Deutschland gut aufgehoben sein wird. Vielleicht wird im 21. Jahrhundert Europa wieder mehr zur Egalität der Weltvölker, zur Befreiung aller aus unseren Unmündigkeiten beitragen, als es im 20. getan hat.

Was ich zu allerletzt zu Herberts Aktualität sagen will, hat damit zu tun, daß sehr viele StudentInnen hier anwesend sind. Ich meine StudentInnen im weiteren Sinne, nämlich Menschen, die lernen wollen, und ich zähle mich selbst dazu. Herbert hat es geliebt zu lehren, er lehrte wegen seiner Studenten. Sie waren nämlich diejenigen, die ihm etwas beigebracht haben. Doch war er ein professioneller Denker, der, wie er sagte, unter Heidegger das Denken gelernt hat. Aber er hat weiter gedacht als seine tatsächlichen und geistigen Mentoren. Ich glaube nicht, daß Studenten bereits so gründlich wie professionelle Denker denken können, daß sie alle Aspekte durchdringen und dann diese Gedanken so gut ausdrücken und vermitteln können. Allerdings glaube ich, daß in ihnen, in uns, den noch nicht professionellen Denkern, ein größeres Potential vorhanden ist, neue Probleme zu erkennen, und schöpferisch neue Wege zu finden, mit den Problemen umzugehen. Wir müssen umgehen mit den immer neuen Varianten der Unfreiheit, die unsere Gesellschaftssystemen hervorbringen. Wir müssen unser schöpferisches Potential dazu nutzen, die neuen Herrschaftstechniken zu erkennen und durchbrechen. Das ist für mich das Erbe und die Aktualität von Herbert Marcuses Denken.

Ich danke Ihnen, daß Sie mir zugehört haben.

And now for my final part, my thoughts about the relevance of Herbert Marcuse as person and thinker at the beginning of the 21st century. Earlier I mentioned my image of a seed that went abroad, sprouted, and whose fruits returned to its native soil. I have to say that today the foreign soil in the US is very hostile to democracy and enlightenment. As a citizen of the United States I am ashamed of the present weaknesses of our democratic traditions. We allowed an unelected, an appointed president to take office. A president who makes decisions that are completely irrational, that go against all reason and rationality. Blindness and blinkered nationalism have taken hold once again. I think that today a stronger critical tradition has taken root in Germany, a tradition that can make itself heard. That is another reason why I think and hope that Herbert is better placed here in Germany. In the 21st century Europe will perhaps once again contribute more to equality among the peoples of the world than it did in the 20th.

In conclusion what I want to say about Herbert's relevance has to do with the fact that so many students are here today. I'm talking about "students" in the broader sense, namely people who want to learn, and I count myself among them. Herbert loved to teach. He taught because of his students, since they were actually the ones who taught him. But he was a professional thinker who, as he once said, had been taught to think by Heidegger. But he also pursued critical analysis further than his actual and intellectual mentors. I don't think that students can already think as fundamentally as professional thinkers, that they can penetrate all aspects and then express and convey their thoughts as well. But I do think that there resides in them, in us, the not-yet-professional thinkers, a greater potential to recognize new problems, and to creatively find new ways to deal with those problems. We have to deal with the continually new variants of unfreedom that our social systems develop. We have to use our creative potential to recognize and break the new ways power is exercised. That is for me the legacy and relevance of Herbert Marcuse's thought.

Thank you for listening.

 

Und nun komme ich zu meinem letzten Teil, zu meinen Gedanken zur Aktualität von Herbert Marcuse als Mensch und als Denker am Anfang des 21. Jahrhunderts. Ich sprach vorhin von meiner Vorstellung eines in der Fremde aufgeganenen Keims, dessen Früchte nun wieder zum ursprunglichen Boden zurückkommen. Ich muß sagen, daß der fremde Boden in den USA zur Zeit recht feindselig zur Demokratie und Aufklärung ist. Als Bürger der Vereinigten Staaten schäme ich mich sehr für die gegenwärtige Schwäche unserer wehrhaften demokratischen Tradition. Wir haben es zugelassen, daß wir einen ungewählten, einen eingesetzten Präsidenten haben, der Entscheidungen fällt, die überhaupt keinen Sinn machen, die gegen alle Raison, gegen alle Rationalität sind. Verblendung und blinder Nationalismus halten wieder Einzug. Ich finde, dass sich heutzutage in Deutschland eine stärkere kritische Tradition aufbaut, die sich auch hörbar machen kann. Auch deshalb finde ich, dass Herbert, wie ich hoffe, hier in Deutschland gut aufgehoben sein wird. Vielleicht wird im 21. Jahrhundert Europa mehr zur Egalität der Weltvölker, zur Befreiung aller aus unseren Unmündigkeiten beitragen wird, als es im 20. getan hat.

Was ich zu allerletzt zu Herberts Aktualität sagen will, hat damit zu tun, daß sehr viele StudentInnen hier anwesend sind. Ich meine StudentInnen im weiteren Sinne, nämlich Menschen, die lernen wollen, und ich zähle mich selbst dazu. Herbert hat es geliebt zu lehren, er lehrte wegen seiner Studenten. Sie waren nämlich diejenigen, die ihm etwas beigebracht haben. Doch war er ein professioneller Denker, der, wie er sagte, unter Heidegger das Denken gelernt hat. Aber er hat weiter gedacht als seine tatsächlichen und geistigen Mentoren. Ich glaube nicht, daß StudentInnen bereits so gründlich wie professionelle Denker denken können, daß sie Dinge durchdringen und dann diese Gedanken so gut ausdrücken und vermitteln können. Allerdings glaube ich, daß in ihnen, in uns, den noch nicht professionellen Denkern, ein größeres Potential vorhanden ist, neue Probleme zu erkennen, und schöpferisch neue Wege zu finden, mit den Problemen umzugehen. Wir müssen umgehen mit den immer neuen Varianten der Unfreiheit, die unsere Gesellschaftssystemen hervorbringen. Wir müssen unser schöpferisches Potential dazu nutzen, die neuen Herrschaftstechniken zu erkennen und durchbrechen. Das ist für mich das Erbe und die Aktualität von Herbert Marcuse.

Ich danke Ihnen, daß Sie mir zugehört haben.

And now I've come to my third and final part: my thoughts about the relevance of Herbert Marcuse as a person and a thinker at the beginning of the 21st century. I mentioned my image of a seed that had born fruit abroad, fruit that were now returning to their native soil. I must say that the foreign soil in the US is rather inhospitable for democracy and enlightenment right now. As a citizen of the United States I'm ashamed of the present weakness of a presumptively vigorous democratic tradition. We allow ourselves to be led by an unelected, by an appointed president who makes decisions that not only make no sense, but run counter to all reason and rationality. Blindness and blind nationalism are once again at the forefront. I think that today Germany is building a stronger critical tradition that can also make itself be heard. Also for that reason I think that Herbert is hopefully well placed in German soil. Perhaps in the 21st century Europe will contribute more to the equality of all of the world's peoples, to the liberation of everyone from our subserviences, than it did during the 20th century.

My final though about Herbert's relevance has to do with the students who are here today. I mean students in the broader sense, namely people who want to learn, and I count myself among them. Herbert loved to teach. He taught because of this students, because they were the ones who could help him to learn. He was a professional thinker who, as he said, had learned to think from Heidegger. But he thought deeper and further than his actual and intellectual mentors. I don't think that students can already think as comprehensively as professional thinkers, that they can penetrate as many aspects of things and then express and convey their thoughts as well. Still I think that there lies in them, in us, the not-yet-professional thinkers, a great ability to recognize new problems and creatively imagine new ways of dealing with them. We have to deal with the constantly changing variations of unfreedom that our social systems develop. We have to use our creative potential to recognize and thwart the new hierarchies of power. That is what I see as the legacy and relevance of Herbert Marcuse.

Thank you for listening.