Süddeutsche Zeitung
Article about the conference and burial of Herbert Marcuse's Ashes, July 2003

prepared for the marcuse.org/herbert website by Harold Marcuse, July 29, 2003


Süddeutsche Zeitung, 22 July 2003

Die neue M-Tradition
Ein Kolloquium anlässlich der Bestattung Herbert Marcuses

�Menschliche Asche ist körnig (nicht flockig) und mit einer Menge Fasern gemischt", heißt es auf der Website der Marcuses � und die wissen, wovon sie sprechen. Mehrere Familienmitglieder haben die Urne mit den Überresten des 1979 während eines Deutschlandbesuchs verstorbenen und in Österreich eingeäscherten Herbert Marcuse inspiziert, als diese nach Jahren der Vergessenheit in einem Friedhofslager in New Haven (Connecticut) wieder entdeckt worden war. Der Familienrat beschloss, in Marcuses Heimatstadt Berlin wegen einer würdigen Bestattungsmöglichkeit nachzufragen. Für Lobby an der Spree sorgte Kultursenator Thomas Flierl, der seit der Wende mit Marcuses Sohn Peter befreundet ist. Dem Einspruch einer Verwandten, es gäbe schon genug jüdische Asche in Deutschland, wurde nicht stattgegeben.

So kam es, dass am Montag vergangener Woche der schwarze Cadillac, in dem bereits Marlene Dietrich und Benno Ohnesorg zur letzten Ruhe chauffiert worden waren, am Gate 14 des Flughafens Tegel die über New York eingeflogene Marcuse-Asche abholte. Sie wurde am Freitag auf dem abgesperrten Dorotheenstädtischen Friedhof bestattet, im kleinen Kreis zwar, aber in bester Gesellschaft: Auch die Gebeine von Fichte, Hegel und Brecht liegen dort unter der Erde. Für Harold Marcuse, den Enkel, der sich als Historiker mit der Nachgeschichte von Konzentrationslagern befasst, ist die Sache nun rund: �Es ging mir um die symbolische Ordnung." Sein Großvater, Pate des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Fledderer des Kapitalismus und Erotiker der Vernunft, bekam ein Ehrengrab. Auch der Cadillac erreichte das Ende der Fahrbahn: Er kommt wieder ins Technikmuseum.

Das Institut für Philosophie an der FU Berlin nahm in Person von Gunter Gebauer die unverhoffte Bestattung zum Anlass, um über die �Aktualität der Philosophie Herbert Marcuses" nachzudenken. Man traf sich im legendären Audimax des Henry-Ford-Baus, in dem der Autor von �Eros und Kultur" � später: �Triebstruktur und Gesellschaft" � im Juli 1967 aufmüpfigen Studenten das Gefühl gegeben hatte, �von weltgeschichtlicher Bedeutung zu sein" (Hartmut Häußermann, damals Asta-Vorsitzender). In Berlin dominierte ideologische Schwarz-Weiß-Malerei. Man war laut Häußermann entweder für Amerika und den Vietnam-Krieg, oder man war gegen den Krieg und wurde reflexhaft zum �Kommunisten, Stalinisten und Teil der fünften Kolonne Moskaus" befördert. Der Springer Verlag soll Miniaturen der Freiheitsglocke an die Eltern getöteter US-Soldaten geschickt haben, immer nach der Maxime: �Die Freiheit von Berlin wird in Vietnam verteidigt."

Weil der jüdische Emigrant, amerikanische Staatsbürger und Sowjet-Kritiker Marcuse Vorbehalte �gegen die Normativität der kapitalistischen Gesellschaft und der marxistischen Entwicklung" hatte, wirkte sein Auftritt nach der Erinnerung Eberhard Lämmerts, FU-Präsident von 1976-83, �wie ein Funke im Pulverfass": Da kam jemand, der sich frei gedacht hatte und die Bürgerlichen genauso vor den Kopf stieß wie die orthodoxe Linke. Dass es dem 69-jährigen Gast an der FU offenbar blendend gefiel, wies Peter-Erwin Jansen nach, der Herausgeber der Marcuse-Werke. �Im alten Europa ist doch noch viel lebendig", schrieb Marcuse am 10. August 1967 an Leo Löwenthal. Er sei jedenfalls �wie ein Messias empfangen worden", anders als die Frankfurter Mitschüler Horkheimer und Adorno, die in Abwesenheit für ihre elitär-unpolitische Haltung ausgepfiffen wurden � mehr noch: �Flugblätter gegen Teddie!" Löwenthal antwortete, in deutschen Tageszeitungen spreche man bereits von der neuen �M-Tradition, nämlich: Marx, Mao und Marcuse! Das macht mich zutiefst ehrfürchtig!"

Fußball und Revolution

Junge Linke glaubten unter dem Einfluss von Marcuses prophetischen Denkfiguren, dass die Revolution den Fuß schon in der Tür habe. Der Guru selbst adelte Pop als revolutionäre Kraft: Er sah in Hippies, Flower Powers und anderen Lustmenschen den Vorschein jener von Arbeit und sexuellen Zwängen erlösten, bis ins Mark erotisierten Gesellschaft, in der allein die Freiheit Normen und Gesetze diktiert. �Allein die Ahnung davon war hinreißend, und doch auch illusionär und trügerisch", so Lämmert. Und was ist herausgekommen, was gilt noch heute? An diesem Punkt schieden sich die Referenten in Realos und notorische Revoluzzer. Frieder-Otto Wolf, ehemals Europa-Abgeordneter der Grünen, kam in seiner unscharfen Gegenwartsanalyse über �Fordismus" und �Kolonisierung der Lebenswelt" (Habermas) nicht hinaus. Dafür wurde der Diskussionston schärfer. Attac wurde einerseits als neo-konservativ attackiert, andererseits als Erbe der 68er-Revolte verteidigt. Die nostalgische Diffamierungsvokabel �Defätismus" flog hin und her.

Angela Davis, die einst verfolgte Kommunistin, Freiheitskämpferin und berühmteste Schülerin Marcuses, mobilisierte bei der Tirade auf George W. Bush ihren Charme, eine der wichtigen Marcuse�schen Qualitäten, und wurde von Beifall überschüttet. Eberhard Lämmert hielt am �Naturrecht auf Widerstand" fest und beklagte die allgemeine Abscheu gegen Utopien, während Wolfgang Lefévre, noch ein ehemaliger FU-Asta-Vorsitzender, zu Gerechtigkeitsfragen trotz Marcuse nichts mehr einfiel: �Nach dem Untergang des Sozialismus ist mir die Phantasie ausgegangen."

Auf die Lektüre kommt es an. Marcuse glaubte wie Horkheimer und Adorno, dass die Organisation der kapitalistischen Gesellschaft den Einzelnen per se unterdrückt. Wer bei dieser These verharrt, ist zum Aufstand oder zur Resignation verdammt. Aber in den Spalten der Entfremdungs-Kritik blüht bei Marcuse mehr Lust und Affirmation, als Adorno erlaubt. �Ich bin ein unverbesserlicher, hoffnungsloser Romantiker", beschrieb er sich selbst � und kaum hatte Axel Honneth, der Leiter des Instituts für Sozialforschung, dieses Diktum interpretiert, zeigte er sich als würdiger Nachfolger. Er flog sofort nach Frankfurt zurück, um Fußball zu spielen: �Darauf kann ich unmöglich verzichten."

ARNO ORZESSEK


prepared for the web by Harold Marcuse, July 29, 2003
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