review of vol. 4 of Herbert Marcuse's unpublished works, 'The Student Movement and Its Consequences'
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Collected Writings, paperback editionQuelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.173, Donnerstag, den 29. Juli 2004 , Seite 16

Zeit des Zeugen
Heute vor 25 Jahren starb Herbert Marcuse

Es gibt Denker, deren Nachleben beginnt, wenn keiner mehr mit ihnen rechnet. Herbert Marcuse gehört zu ihnen. Da ist erstens Marcuse, der Philosoph, der Marx-Leser und Schüler Heideggers. Diesen Marcuse der großen Werke ruft der Verlag zu Klampen dieser Tage in Erinnerung, wenn er Marcuses früher bei Suhrkamp erschienene Schriften in einer Neuausgabe veröffentlicht. Tut man Marcuse unrecht, wenn man sagt, dass diese Werke zumindest von Fachphilosophen kaum noch gelesen werden? Zum anderen gibt es Marcuse, die Ikone der Neuen Linken, der geistige Vater der Studentenproteste. Den Nachgeborenen mutet diese romantische Sicht zwangsläufig antiquiert an. Jede Zeit hat ihre eigenen Kämpfe und Debatten.

Nachlass vol. 4Peter-Erwin Jansen ist ein Band bisher teilweise unveröffentlichter Texte aus dem Nachlass zu verdanken, dieses Mal zur Studentenbewegung. Marcuse erscheint in diesen Texten zwar mitunter als der ��Guru", den seine engsten Anhänger und schärfsten Gegner in ihm sahen. Der Vietnam-Krieg ist ebenso sein Thema wie Angela Davis, seine ��beste Studentin", die vom FBI verhaftet wurde. Der politische Marcuse ist hier in seinem Element. Über die Hintertür tritt jedoch der dritte, der historische Marcuse hinzu, der Zeitzeuge, der im Strudel der Ereignisse fortgerissen wird, der Beobachter und Mitwirkende des Geschehens. Dieser Marcuse ist erst seit 1998 wirklich ins Bewusstsein gerückt, mit der Herausgabe der nachgelassenen Schriften.

Marcuse hat eines der spannendsten Leben des 20. Jahrhunderts gelebt. Das kann man sagen ungeachtet politischer oder philosophischer Vorlieben. Im Juli 1898 geboren, Soldat im Ersten Weltkrieg, Arbeiter- und Soldatenrat nach dem Krieg, Studium in der Weimarer Zeit, Heidegger-Schüler, Zusammenarbeit mit dem Kreis des Instituts für Sozialforschung, Flucht und Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland - Stationen eines Lebensromans. Doch das Leben machte da nicht halt. Im Zweiten Weltkrieg wurde Marcuse erneut Soldat, auch wenn er am Schreibtisch saß und keine Uniform trug. Er stellte sich zur Verfügung dem Kampf gegen dieses Deutschland, das ihn und seine Familie vertrieben hatte.

��Angesichts der faschistischen Barbarei weiß jeder, was Freiheit bedeutet", schrieb er damals, und in der amerikanischen Demokratie des New Deal sah er bei aller Kritik das zu verteidigende Ideal. Im Dezember 1942 trat Marcuse in die Dienste amerikanischer Regierungsstellen. Zunächst im Office of War Information und ab März 1943 im Office of Strategic Services (OSS), dem ersten zentralen Nachrichtendienst in der Geschichte der USA, leistete Marcuse seinen Beitrag im Kampf gegen den Nationalsozialismus. An der Seite seines Freundes Franz Neumann, der damals in den USA eine Berühmtheit war, trug Marcuse zur Nachkriegsplanung für Deutschland bei. Kurz vor Kriegsende war er dann unter Neumanns Leitung an der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse beteiligt.
[publisher's page about Feindanalysen, Herbert's unpublished papers from this period]

Kenner der Mordmaschine

Wie die Dokumente dieser Zeit belegen, wusste Marcuse, was die Stunde damals geschlagen hatte. Nicht seine persönliche Vision einer Revolution, sondern die Niederringung des Feindes und der Wiederaufbau einer deutschen Demokratie waren das, was ihn beschäftigte - vor allem, aber nicht nur aus professionellen Gründen. Marcuse, der Amerikaner und Außenpolitiker, der mit den sozialdemokratischen Sympathien seiner amerikanischen Kollegen einig ging und die Vorzüge der liberalem Demokratie zu schätzen lernte, wird sichtbar. Am erschütterndsten und beeindruckendsten sind jedoch die Zeugnisse, die Marcuse als einen Zeitgenossen und Zeugen des Holocaust erkennen lassen.

Anders als die Legende will, nahm Marcuse deutlich wahr, was Juden in Deutschland und Europa angetan wurde. Er war Marxist und Linksintellektueller, aber er war auch ein Jude, der aus Deutschland fliehen musste. Seinen Eltern glückte erst im letzten Augenblick, im März 1939 die Flucht nach England. Andere Verwandte kamen in Theresienstadt ums Leben. Im OSS war Marcuse anfänglich nicht mit den Nachrichten über den Mord an den Juden befasst, doch wer die Papiere liest, die unter anderem Marcuse, Neumann und Otto Kirchheimer im Vorfeld der Nürnberger Prozesse schrieben, kann keinen Zweifel haben, dass man die nationalsozialistische Mordmaschinerie bis ins Detail kannte. Zwar blieb es oft bei einem funktionalistischen Interpretationsrahmen, wenn etwa vermutet wird, die Vernichtungspolitik habe zum Ziel, die deutsche Bevölkerung einzuschüchtern oder die Verbündeten untrennbar zusammenzuschweißen, doch die ungeheure Dimension der Verbrechen wurde ihnen langsam bewusst. Manche Debatte, etwa die über den ��Führerbefehl" zum Völkermord, ist hier vorweggenommen. Auf der grundsätzlichen Problemanalyse dieser Tage baut noch die heutige Forschung auf.

Wie ging der private Marcuse mit den Nachrichten vom Judenmord um? ��Man registrierte wohl mit Schrecken und Abscheu den Massenmord an den Juden, aber dass die vielen Aktionen Teil eines Gesamtvorhabens mit dem Ziel der totalen Ausrottung der Juden sein könnten, lag jenseits des Erfahrungshorizonts westlicher Gesellschaften", so eine aktuelle Darstellung der zeitgenössischen Wahrnehmung in den USA. Das gilt auch für Marcuse. Je nach dem Kontext, in dem er sich bewegte, deutete er die Nachrichten; einmal dokumentierte er nüchtern die Einzelaktionen, ein andermal nahm er Zuflucht zu funktionalistischen Erklärungen - ein Versuch, das Unbegreifliche verständlich zu machen.

In manchen Augenblicken jedoch gelangte er zu Einsichten, die bis heute Bestand haben. 1943 legte er Horkheimer in einem Brief dar, wo die Theorie des Instituts versagt hatte. Vier Ebenen der Vernichtungspolitik analysierte er: eine Eigendynamik des Vernichtungsprozesses, das irrational-antizivilisatorische und antichristliche Grundmotiv, zugleich die christlich-judenfeindlichen Wurzeln, zuletzt die Bedeutung für den Zusammenhalt der durchweg antisemitischen Verbündeten. Kurze Zeit später fand Marcuse zu einer frühen Formulierung dessen, was später als die Singularität des Holocaust bezeichnet wurde. An Heidegger schrieb er 1948 die bekannten Worte, dass der Nationalsozialismus die ��Liquidierung des abendländischen Daseins" gewesen sei. Er ließ Heideggers Relativierungsversuche nicht zu und bestand darauf, dass der millionenfache Mord an den Juden ��bloß weil sie Juden waren" nicht mit den Vertreibungen am Kriegsende gleichgestellt werden durfte. Der ��Zivilisationsbruch" Auschwitz - Marcuse, der Zeitgenosse des Judenmords, kam bereits zu diesem Schluss.

Es war auch Marcuse, der 1942 bereits und 1945 noch einmal vorsichtig darüber nachdachte, ob Kunst überhaupt noch dem Leid der Opfer der Vernichtungspolitik gerecht werden könne. ��Kunst kann nicht länger die Realität beschreiben, denn die Realität hat den Bereich, der ästhetisch adäquat dargestellt werden könnte, überschritten. Der Schrecken und das Leid sind größer als die Kraft künstlerischer Imagination", schrieb Marcuse damals, und auch: ��Kunst kann den faschistischen Terror nicht darstellen". Kein Gedicht nach Auschwitz? Marcuse fühlte schon früher ähnlich.

Erst nach und nach wird deutlich, wie intensiv sich Marcuse, der Zeitgenosse und Zeuge des Geschehens, mit dem Holocaust beschäftigt hat. Aber iIntellektuelle Konzepte und politische Überzeugungen halfen nur wenig angesichts des Judenmords, und darum stellte er sich dem Geschehenen direkt, manchmal ohne den tröstlichen Schutz rationaler Erklärungen. Noch im hohen Alter ließ ihn die Hölle, die ihn und seine Familie beinahe verschlungen hatte, nicht los. Kurz vor seinem Tod in Starnberg heute vor 25 Jahren legte er noch eine ��Holocaust-Mappe" an, in der er Zeitungsausschnitte über die gleichnamige Fernsehserie und über Prozesse gegen die Täter sammelte. Es ist an der Zeit, diesen Marcuse zu entdecken.

TIM B. MÜLLER

HERBERT MARCUSE: Schriften in 9 Bänden. Zu Klampen Verlag, Springe 2004. Zusammen 3015 Seiten, 98 Euro. (publisher's page about Herbert's collected works)

HERBERT MARCUSE: Nachgelassene Schriften, Band 4: Die Studentenbewegung und ihre Folgen, hrsg. von Peter-Erwin Jansen. Zu Klampen Verlag, Springe 2004. 253 Seiten, 24 Euro. (publisher's page about Herbert's unpublished works, vol. 4)


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