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        Marcuse: 
        Den Tod Adornos zu begreifen, fällt mir schwer wie allen Nahestehenden. 
        Eine Würdigung des Werkes schon geben zu können, bezweifle ich. 
        Es gibt andere Gründe, Adorno zurückzurufen. Ich muß heute 
        und hier ihn zurückrufen, weil gerade in der letzten Zeit Differenzen 
        bekannt geworden sind zwischen mir und ihm, die in verschiedener Weise 
        - gutwillig oder böswillig - entstellt wurden. Diese Differenzen 
        - und das muß von vornherein gesagt werden - entstanden auf dem 
        Grunde einer Gemeinsamkeit und einer Solidarität, die durch sie in 
        keiner Weise geschwächt worden sind. 
      
      Seiffe: Worin sehen Sie heute die besondere Stellung Adornos? 
      Wo gibt es eine Solidarität? 
      
      Die Solidarität heute ist da, wo sie eigentlich immer gewesen ist, 
        nämlich in der Radikalität des Denkens. Ich glaube, es gibt 
        niemanden, der so wie Adorno der bestehenden Gesellschaft radikal gegenüberstand, 
        der sie so radikal gekannt und erkannt hat. Sein Denken war so kompromißlos, 
        daß er sich selbst den Erfolg in dieser Gesellschaft leisten konnte. 
        Dieser Erfolg hat sein Denken in keiner Weise infiziert, in keiner Weise 
        kompromittiert. Man spricht manchmal von kompromittierenden Formen seines 
        Verhaltens. Ich glaube, über diese Formen ist dasselbe zu sagen. 
        Sie haben seiner Radikalität nicht das Geringste angetan. Ich sehe 
        in ihnen die bewußte Aufrechterhaltung von Formen einer vergangenen 
        Kultur und zwar - vielleicht - aus Schutz vor der aufdringlichen, brutalen, 
        falsch-egalitären Vertraulichkeit des Bestehenden; ein Pathos der 
        Distanz, Formen der Höflichkeit, Formen der Härte, die vielleicht 
        auch Angst bekunden vor zu großem Mitleid mit dem, was den Menschen 
        angetan wurde - Mitleid, das vielleicht die notwendige Rücksichtslosigkeit 
        der Kritik beeinträchtigen könnte. Mir jedenfalls waren diese 
        aristokratischen Formen seines Verhaltens immer besonders liebenswert. 
      
      War es nicht so, daß Adorno zwar der bestehenden Gesellschaft radikal 
      gegenüberstand, einer ihrer sicherlich unbestechlichsten Kritiker war, 
      aber daß seine Radikalität doch eine rein theoretische blieb? 
      [page 48] Gab es da nicht eine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis? 
      
      Ich glaube, daß ihm der Schreck vor dem Bestehenden so im Hirn 
        und in den Gliedern saß, daß für ihn Leben und Denken 
        eins waren. Er hat zeit seines Lebens nach Formen gestrebt, in denen der 
        Schrecken des Bestehenden wirklich sichtbar gernacht und mitteilbar gemacht 
        werden konnte. Er fand sich in einer Situation, in der es der bestehenden 
        Gesellschaft gelungen war, das Bewußtsein in solchem Grade zu ersticken 
        und zu manipulieren - selbst die Bedürfnisse in solchem Maße 
        zu manipulieren, daß die traditionellen Formen der Mitteilung und 
        besonders die der Umsetzung des kritischen Denkens in Praxis offenbar 
        nicht mehr als möglich erschienen. Und seine Antwort war ein Rückzug, 
        ein temporärer Rückzug auf das - sagen wir ruhig - reine Denken 
        (und mit reinem Denken meine ich hier kompromißloses Denken), aber 
        nur um allmählich und so wirkungsvoll wie rnöglich das Bewußtsein 
        der notwendigen Veränderung wieder zu entwickeln und damit die notwendige 
        Veränderung vorzubereiten. 
      
      Aber hat er sich nicht, jedenfalls in der letzten Zeit, ganz entschieden 
      abgeriegelt gegen jede Praxis, und zwar mit ganz anderen Argumenten, nämlich 
      indem er sagte, Aufgabe der Kritischen Theorie sei es, gesellschaftliche 
      Mißstände zu erkennen und zu benennen, aber nicht die Erkenntnis 
      umzusetzen in die Wirklichkeit, also praktische Folgerungen zu ziehen?
      
      Ich habe diese Erklärung immer so verstanden, daß es in der 
        gegebenen Situation nicht die Aufgabe der Kritischen Theorie ist, sich 
        unmittelbar in die Praxis umzusetzen. Das heißt also: wenn eine 
        Trennung zwischen Theorie und Praxis besteht, dann ist es sicher nicht 
        das Werk Adornos, sondern das Werk - sagen wir ruhig - die Schuld der 
        Wirklichkeit, auf die Adorno nur reagiert, auf die er reflektiert hat. 
      
      Und die Wirklichkeit läßt keine Praxis mehr zu?
      
      Das würde ich nicht sagen. Hier liegt eine der Differenzen zwischen 
        mir und ihm, aber um sie klarzumachen, muß ich erst sagen, was mit 
        der Schuld der Wirklichkeit hier eigentlich gemeint sein kann. Ich denke 
        daran, daß der Spätkapitalismus Formen der Repressionen entwickelt 
        hat, die die in der Marxischen Theorie traditionelle Praxis der Veränderung 
        unmöglich zu machen scheint. [page 49] Und ich denke hier besonders 
        an die Integrierung weiter Schichten der Bevölkerung,besonders an 
        die Integrierung der Arbeiterklasse in das bestehende kapitalistische 
        System in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern. Das heißt 
        aber, daß das geschichtliche Subjekt, das gesellschaftliche Subjekt 
        der Revolution offenbar nicht mehr da war, oder offenbar nicht mehr oder 
        noch nicht aktiv war. An dieser Stelle war er orthodoxer Marxist. Ohne 
        eine Massenbasis in den ausgebeuteten Klassen ist eine Revolution unvorstellbar. 
        Und weil diese Massenbasis in der gegebenen Situation gerade in den fortgeschrittenen 
        kapitalistischen Ländern nicht sichtbar war, hat er sozusagen die 
        Umsetzung der Theorie in die Praxis vertagt. Er hat immer wieder nach 
        den Vermittlungen gesucht, die, ohne die Möglichkeit einer solchen 
        Umsetzung aufzugeben oder zu verraten, wenigstens die Umsetzung der Theorie 
        in die Praxis vorbereiten könnten. 
      
      Aber es gab doch auch andere Differenzen. Ich denke da an die verschiedene 
      geschichtliche Einschätzung der Funktion der Studentenbewegung.
      
      Diese Differenzen in der Einschätzung der Studentenbewegung gehören 
        in denselben Zusammenhang des Theorie-Praxis-Problerns. Zunächst 
        einmal muß doch wieder gesagt werden, daß Adorno von Anfang 
        an auf seiten der Studentenbewegung gestanden hat, die wenigstens in Deutschland 
        ohne sein Werk unvorstellbar ist. Und die Studentenbewegung sollte nicht 
        vergessen, daß sie eine intellektuelle Bewegung ist und daß 
        sie von der Theorie lebt, selbst dort noch, wo sie die Theorie verlacht. 
        Aber Adorno hat - und das sind seine eigenen Worte - in der Studentenbewegung 
        keine gesellschaftsverändernde Kraft gesehen, und genau deswegen 
        hat er, was er Aktionismus nannte, abgelehnt. Er war der Ansicht, daß 
        Aktionen, die keinen gesellschaftlichen Boden haben, auch keine gesellschaftliche 
        Kraft haben können; daß sie nicht Ausdruck der Hoffnung, sondern 
        Ausdruck der Verzweiflung sind, und daß sie sehr leicht dem Feind 
        in die Hände spielen können. Es gibt in dem neuen Rahmen der 
        Opposition Aktionen, die mit linker Politik nicht das geringste zu tun 
        haben, entartete Formen, die ich genauso widerwärtig finde, wie Adorno 
        sie gefunden hat. Dazu gehört zum Beispiel die mutwillige Zerstörung 
        von Büchern, aber auch Gewaltanwendung gegen gewaltlose Personen. 
        Das hat mit radikaler Politik nichts zu tun und ist eine Entartung, in 
        deren Verurteilung ich mit Adorno einig bin. [page 50] 
      
      Die meisten der Nachrufe, die kurz nach dem Tode Adornos in der Presse erschienen, 
      haben eines ausgeklammert: daß Adorno Marxist war. Wie sehen Sie sein 
      Verhältnis zur Marxischen Gesellschaftskritik?
      
      Ja, ich muß sagen, daß mich diese Ausklammerung auch überrascht 
        - eigentlich nicht überrascht, aber aufs höchste befremdet hat. 
        Ich sehe in Adorno einen der ganz wenigen, die die Marxische Theorie in 
        ihren tiefsten Intentionen weiterbetrieben haben. Die Dynamik der kapitalistischen 
        Gesellschaft und ihre Negation ist durch sein Werk in allen Bereichen 
        der Kultur sichtbar gemacht worden. Eine technisch vollendete und exakte 
        Analyse eines Werkes zeigt die Gesellschaft selbst in den abstraktesten 
        und sublimsten Bereichen der intellektuellen Kultur. Ein Quartett Schönbergs 
        zum Beispiel, ein Passus in Kants 'Kritik der reinen Vernunft', aber auch 
        eine alltägliche Geste - was es immer sei - wird einer kritischen 
        Analyse unterworfen, vorgetrieben bis zu dem Punkt, wo das Werk selbst, 
        das Quartett, der Text, die Geste hergibt, in welcher Weise diese Manifestation 
        mit der Struktur der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer möglichen 
        Negation verbunden ist. Ich kenne niemanden, der in dieser Weise eine 
        marxistische Analyse in der Kultur betrieben hat und dem sie in dieser 
        Weise gelungen ist. Für ihn war das Resultat der Analyse: so kann 
        es nicht weitergehen, aber es geht weiter. Und solange es weitergeht, 
        ist eben die Aufgabe der Kritischen Theorie, die Aufgabe der Marxistischen 
        Theorie, weiter zu denken, radikaler zu denken und diese Radikalität 
        des Denkens anderen mitzuteilen. Die Frage bleibt nun, ob nicht - und 
        inwieweit der Stil Adornos dieses Ziel verstellt, und inwieweit nicht 
        seine Distanz von der Praxis durch diesen Stil perpetuiert wird. Das hat 
        man oft gesagt, und ich selbst habe behauptet, daß die Kritische 
        Theorie heute in viel gröberen und in viel simplifizierteren Formen 
        dargestellt werden muß, um den radikalen Inhalt wirklich mitteilen 
        zu können und ihn nicht über Gebühr zu sublimieren. Ich 
        weiß, daß gerade in diesem Punkt Adorno nicht mit mir einig 
        war. Er hat immer geglaubt - und es scheint, daß er weitgehend recht 
        hat -, daß die Substanz seines Werkes von der Form, in der sie präsentiert 
        wird, eben nicht zu trennen ist. Seine Sprache ist getrieben von der Angst, 
        nicht der Verdinglichung zu verfallen, derselben Angst wie ich schon vorher 
        erwähnte -, nicht zu schnell und zu leicht [51] vertraut und vertraulich 
        zu werden und dadurch falsch verstanden zu werden. Ich gebe zu, daß 
        mich die Sätze Adornos manchmal in Raserei gebracht, manchmal wütend 
        gemacht haben, aber ich glaube, das sollten sie. Und ich glaube, ich brauche 
        mich dessen nicht zu schämen. 
      
      Wie wird es weitergehen ohne die Auseinandersetzung mit Theodor Adorno?
      
      Wie es weitergehen soll ohne die Auseinandersetzung mit Theodor W. Adorno, 
        kann ich mir gar nicht vorstellen. Jedenfalls sind die Differenzen zwischen 
        mir und ihm in dem Sinne gegenstandslos geworden, daß es keinen 
        gibt, der Adorno vertreten und der für ihn sprechen kann. Was ich 
        ihm zu verdanken habe, ist unendlich viel, und ich kann mir ohne sein 
        Werk ein Weiterleben nicht vorstellen. Das heißt aber, daß 
        die Auseinandersetzung mit seinem Werk doch noch kommen wird, kommen muß, 
        daß sie noch nicht einmal begonnen hat.  |