Adorno, 1903-1969
Theodor W. Adorno (1903-1969)

Herbert Marcuse:
"Reflexion zu Theodor W. Adorno -
Aus einem Gespräch mit Michaela Seiffe"

in: Titel, Thesen, Temperamente: Ein Kulturmagazin
(Hessischer Rundfunk, Abteilung Fernsehen, Kunst und Literatur), Sendung am 24. August 1969.
published in: Hermann Schweppenhäuser (ed.), Theodor W. Adorno Zum Gedächtnis: Eine Sammlung (Frankfurt: Suhrkamp, 1971), 47-51.

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Shortly after Adorno died of a heart attack on August 6, 1969, Herbert gave the following interview on German radio in Frankfurt.

See below for more documents about Adorno and this 1971 memorial publication.


Herbert Marcuse, scan from SunflowerMarcuse: Den Tod Adornos zu begreifen, fällt mir schwer wie allen Nahestehenden. Eine Würdigung des Werkes schon geben zu können, bezweifle ich. Es gibt andere Gründe, Adorno zurückzurufen. Ich muß heute und hier ihn zurückrufen, weil gerade in der letzten Zeit Differenzen bekannt geworden sind zwischen mir und ihm, die in verschiedener Weise - gutwillig oder böswillig - entstellt wurden. Diese Differenzen - und das muß von vornherein gesagt werden - entstanden auf dem Grunde einer Gemeinsamkeit und einer Solidarität, die durch sie in keiner Weise geschwächt worden sind.

Seiffe: Worin sehen Sie heute die besondere Stellung Adornos? Wo gibt es eine Solidarität?

Die Solidarität heute ist da, wo sie eigentlich immer gewesen ist, nämlich in der Radikalität des Denkens. Ich glaube, es gibt niemanden, der so wie Adorno der bestehenden Gesellschaft radikal gegenüberstand, der sie so radikal gekannt und erkannt hat. Sein Denken war so kompromißlos, daß er sich selbst den Erfolg in dieser Gesellschaft leisten konnte. Dieser Erfolg hat sein Denken in keiner Weise infiziert, in keiner Weise kompromittiert. Man spricht manchmal von kompromittierenden Formen seines Verhaltens. Ich glaube, über diese Formen ist dasselbe zu sagen. Sie haben seiner Radikalität nicht das Geringste angetan. Ich sehe in ihnen die bewußte Aufrechterhaltung von Formen einer vergangenen Kultur und zwar - vielleicht - aus Schutz vor der aufdringlichen, brutalen, falsch-egalitären Vertraulichkeit des Bestehenden; ein Pathos der Distanz, Formen der Höflichkeit, Formen der Härte, die vielleicht auch Angst bekunden vor zu großem Mitleid mit dem, was den Menschen angetan wurde - Mitleid, das vielleicht die notwendige Rücksichtslosigkeit der Kritik beeinträchtigen könnte. Mir jedenfalls waren diese aristokratischen Formen seines Verhaltens immer besonders liebenswert.

War es nicht so, daß Adorno zwar der bestehenden Gesellschaft radikal gegenüberstand, einer ihrer sicherlich unbestechlichsten Kritiker war, aber daß seine Radikalität doch eine rein theoretische blieb? [page 48] Gab es da nicht eine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis?

Ich glaube, daß ihm der Schreck vor dem Bestehenden so im Hirn und in den Gliedern saß, daß für ihn Leben und Denken eins waren. Er hat zeit seines Lebens nach Formen gestrebt, in denen der Schrecken des Bestehenden wirklich sichtbar gernacht und mitteilbar gemacht werden konnte. Er fand sich in einer Situation, in der es der bestehenden Gesellschaft gelungen war, das Bewußtsein in solchem Grade zu ersticken und zu manipulieren - selbst die Bedürfnisse in solchem Maße zu manipulieren, daß die traditionellen Formen der Mitteilung und besonders die der Umsetzung des kritischen Denkens in Praxis offenbar nicht mehr als möglich erschienen. Und seine Antwort war ein Rückzug, ein temporärer Rückzug auf das - sagen wir ruhig - reine Denken (und mit reinem Denken meine ich hier kompromißloses Denken), aber nur um allmählich und so wirkungsvoll wie rnöglich das Bewußtsein der notwendigen Veränderung wieder zu entwickeln und damit die notwendige Veränderung vorzubereiten.

Aber hat er sich nicht, jedenfalls in der letzten Zeit, ganz entschieden abgeriegelt gegen jede Praxis, und zwar mit ganz anderen Argumenten, nämlich indem er sagte, Aufgabe der Kritischen Theorie sei es, gesellschaftliche Mißstände zu erkennen und zu benennen, aber nicht die Erkenntnis umzusetzen in die Wirklichkeit, also praktische Folgerungen zu ziehen?

Ich habe diese Erklärung immer so verstanden, daß es in der gegebenen Situation nicht die Aufgabe der Kritischen Theorie ist, sich unmittelbar in die Praxis umzusetzen. Das heißt also: wenn eine Trennung zwischen Theorie und Praxis besteht, dann ist es sicher nicht das Werk Adornos, sondern das Werk - sagen wir ruhig - die Schuld der Wirklichkeit, auf die Adorno nur reagiert, auf die er reflektiert hat.

Und die Wirklichkeit läßt keine Praxis mehr zu?

Das würde ich nicht sagen. Hier liegt eine der Differenzen zwischen mir und ihm, aber um sie klarzumachen, muß ich erst sagen, was mit der Schuld der Wirklichkeit hier eigentlich gemeint sein kann. Ich denke daran, daß der Spätkapitalismus Formen der Repressionen entwickelt hat, die die in der Marxischen Theorie traditionelle Praxis der Veränderung unmöglich zu machen scheint. [page 49] Und ich denke hier besonders an die Integrierung weiter Schichten der Bevölkerung,besonders an die Integrierung der Arbeiterklasse in das bestehende kapitalistische System in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern. Das heißt aber, daß das geschichtliche Subjekt, das gesellschaftliche Subjekt der Revolution offenbar nicht mehr da war, oder offenbar nicht mehr oder noch nicht aktiv war. An dieser Stelle war er orthodoxer Marxist. Ohne eine Massenbasis in den ausgebeuteten Klassen ist eine Revolution unvorstellbar. Und weil diese Massenbasis in der gegebenen Situation gerade in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern nicht sichtbar war, hat er sozusagen die Umsetzung der Theorie in die Praxis vertagt. Er hat immer wieder nach den Vermittlungen gesucht, die, ohne die Möglichkeit einer solchen Umsetzung aufzugeben oder zu verraten, wenigstens die Umsetzung der Theorie in die Praxis vorbereiten könnten.

Aber es gab doch auch andere Differenzen. Ich denke da an die verschiedene geschichtliche Einschätzung der Funktion der Studentenbewegung.

Diese Differenzen in der Einschätzung der Studentenbewegung gehören in denselben Zusammenhang des Theorie-Praxis-Problerns. Zunächst einmal muß doch wieder gesagt werden, daß Adorno von Anfang an auf seiten der Studentenbewegung gestanden hat, die wenigstens in Deutschland ohne sein Werk unvorstellbar ist. Und die Studentenbewegung sollte nicht vergessen, daß sie eine intellektuelle Bewegung ist und daß sie von der Theorie lebt, selbst dort noch, wo sie die Theorie verlacht. Aber Adorno hat - und das sind seine eigenen Worte - in der Studentenbewegung keine gesellschaftsverändernde Kraft gesehen, und genau deswegen hat er, was er Aktionismus nannte, abgelehnt. Er war der Ansicht, daß Aktionen, die keinen gesellschaftlichen Boden haben, auch keine gesellschaftliche Kraft haben können; daß sie nicht Ausdruck der Hoffnung, sondern Ausdruck der Verzweiflung sind, und daß sie sehr leicht dem Feind in die Hände spielen können. Es gibt in dem neuen Rahmen der Opposition Aktionen, die mit linker Politik nicht das geringste zu tun haben, entartete Formen, die ich genauso widerwärtig finde, wie Adorno sie gefunden hat. Dazu gehört zum Beispiel die mutwillige Zerstörung von Büchern, aber auch Gewaltanwendung gegen gewaltlose Personen. Das hat mit radikaler Politik nichts zu tun und ist eine Entartung, in deren Verurteilung ich mit Adorno einig bin. [page 50]

Die meisten der Nachrufe, die kurz nach dem Tode Adornos in der Presse erschienen, haben eines ausgeklammert: daß Adorno Marxist war. Wie sehen Sie sein Verhältnis zur Marxischen Gesellschaftskritik?

Ja, ich muß sagen, daß mich diese Ausklammerung auch überrascht - eigentlich nicht überrascht, aber aufs höchste befremdet hat. Ich sehe in Adorno einen der ganz wenigen, die die Marxische Theorie in ihren tiefsten Intentionen weiterbetrieben haben. Die Dynamik der kapitalistischen Gesellschaft und ihre Negation ist durch sein Werk in allen Bereichen der Kultur sichtbar gemacht worden. Eine technisch vollendete und exakte Analyse eines Werkes zeigt die Gesellschaft selbst in den abstraktesten und sublimsten Bereichen der intellektuellen Kultur. Ein Quartett Schönbergs zum Beispiel, ein Passus in Kants 'Kritik der reinen Vernunft', aber auch eine alltägliche Geste - was es immer sei - wird einer kritischen Analyse unterworfen, vorgetrieben bis zu dem Punkt, wo das Werk selbst, das Quartett, der Text, die Geste hergibt, in welcher Weise diese Manifestation mit der Struktur der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer möglichen Negation verbunden ist. Ich kenne niemanden, der in dieser Weise eine marxistische Analyse in der Kultur betrieben hat und dem sie in dieser Weise gelungen ist. Für ihn war das Resultat der Analyse: so kann es nicht weitergehen, aber es geht weiter. Und solange es weitergeht, ist eben die Aufgabe der Kritischen Theorie, die Aufgabe der Marxistischen Theorie, weiter zu denken, radikaler zu denken und diese Radikalität des Denkens anderen mitzuteilen. Die Frage bleibt nun, ob nicht - und inwieweit der Stil Adornos dieses Ziel verstellt, und inwieweit nicht seine Distanz von der Praxis durch diesen Stil perpetuiert wird. Das hat man oft gesagt, und ich selbst habe behauptet, daß die Kritische Theorie heute in viel gröberen und in viel simplifizierteren Formen dargestellt werden muß, um den radikalen Inhalt wirklich mitteilen zu können und ihn nicht über Gebühr zu sublimieren. Ich weiß, daß gerade in diesem Punkt Adorno nicht mit mir einig war. Er hat immer geglaubt - und es scheint, daß er weitgehend recht hat -, daß die Substanz seines Werkes von der Form, in der sie präsentiert wird, eben nicht zu trennen ist. Seine Sprache ist getrieben von der Angst, nicht der Verdinglichung zu verfallen, derselben Angst wie ich schon vorher erwähnte -, nicht zu schnell und zu leicht [51] vertraut und vertraulich zu werden und dadurch falsch verstanden zu werden. Ich gebe zu, daß mich die Sätze Adornos manchmal in Raserei gebracht, manchmal wütend gemacht haben, aber ich glaube, das sollten sie. Und ich glaube, ich brauche mich dessen nicht zu schämen.

Wie wird es weitergehen ohne die Auseinandersetzung mit Theodor Adorno?

Wie es weitergehen soll ohne die Auseinandersetzung mit Theodor W. Adorno, kann ich mir gar nicht vorstellen. Jedenfalls sind die Differenzen zwischen mir und ihm in dem Sinne gegenstandslos geworden, daß es keinen gibt, der Adorno vertreten und der für ihn sprechen kann. Was ich ihm zu verdanken habe, ist unendlich viel, und ich kann mir ohne sein Werk ein Weiterleben nicht vorstellen. Das heißt aber, daß die Auseinandersetzung mit seinem Werk doch noch kommen wird, kommen muß, daß sie noch nicht einmal begonnen hat.


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